Die neuen sozialen Risiken

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Jan Keller

                                        Das neue soziale Risiko

 

   Dreißig Jahre, die auf den zweiten Weltkrieg folgten, funktionierten der Arbeitsmarkt, die Familie und der Sozialstaat als insgesamt garantierte Unterstützungen gegenüber den sozialen Risiken. Ungefähr seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurden aus den bisherigen Unterstützungen Quellen neuer sozialer Risiken (weiter nur NSR).

    Autoren zählen sie in der Regel nur auf. Dazu gehören:

1) die Notwendigkeit, das Familienleben mit der Arbeit in Einklang zu bringen,

2) die Existenz unvollständiger Familien,

3) die Notwendigkeit sich um kranke und alte Mitglieder des Haushalts zu kümmern,

4) niedrige und veraltete Arbeitsqualifikation,

5) unzureichende Versicherung der Personen besonders im Alter.

 

   Führen wir einige Beispiele an: Auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes beruhte das klassische soziale Risiko darin, dass ein Mensch, der nicht arbeitete, in der Regel arm war. Das neue soziale Risiko besteht darin, dass ein nicht kleiner Teil der Menschen, die arbeiten, arm bleibt. In dem Bereich der Familie stellte das klassische soziale Risiko die Situation dar, wo Familien mit drei oder mehr Kindern häufig an der Schwelle der Armut lebten. Heute reicht dazu in vielen Fällen auch eine geringere Anzahl von Kindern aus. Auf dem Gebiet der Versicherung galt früher, dass man, wenn man sie nicht zahlte und alterte, im Alter in Armut lebte. Das neue soziale Risiko betrifft die, die ein Alter in Armut erwartet, auch wenn sie für die Pension das ganze Leben lang gezahlt haben.

 

  Autoren, die sich mit den NSR beschäftigen, reden in der Regel nicht von den weiteren Zusammenhängen. Wir werden das versuchen. Die Ursache der NSR können wir im Prozess, den wir Mafianisierung der Ökonomie nennen können, beobachten. Was meinen wir damit?   Es existiert insgesamt eine allgemeine Einhelligkeit darin, dass in der Gesellschaft deutlich das Maß der Unsicherheit steigt. Bei den Angestellten zeigt sich die Gefahr der Präkarisierung, bei den Hochschulabsolventen kommt es zu ihr infolge der Inflation des Wertes der Diplome, bei den Menschen im erwachsenen Alter im Zusammenhang mit der Unsicherheit der Alterspension. 

  Es gibt hier mehrere Quellen, welche die Unsicherheit hervorbringen. Es trägt dazu der Prozess der Deindustrialisierung bei, aber auch die Restrukturalisierung der Firmen, worüber ich noch sprechen werde, und selbstverständlich die wachsenden Schwierigkeiten des Sozialstaates mit seinen Versicherungssystemen.

   Das Ergebnis ist, dass die Ökonomie immer mehr nach den Prinzipien, die den Prinzipien der klassischen Mafia ähneln, funktioniert.

 

Wie funktioniert die Mafia?

   Wie Diego Gambetta aber auch weitere italienische Soziologen gezeigt haben, ist die Mafia ein Betrieb zur Produktion und zum Verkauf privat angebotenen Schutzes.

 

Diego Gambetta: The Sicilian Mafia. The Business of Private Protection. Cambridge, London: Harvard University Press 1993.

Salvatore Lupo: Storia della mafia dalle origini ai giorni nostri. Roma: Donzelli 1996.

Rocco Sciarrone: Mafie vecchie, mafie nuove. Radicamento ed espansione. Roma: Donzelli 1998.

 

   Mafiosi bieten für Bezahlung Schutz in Situationen, wo ein bestimmtes Risiko existiert, und zugleich das Vertrauen fehlt, dass dieses Risiko mit Hilfe des öffentlichen Sektors beherrscht werden kann.

Damit die Mafia genügend Aufträge hat, schafft sie selbst sorgsam Unsicherheit und hält sie genau auf diesem Niveau, das sie für ihr Business braucht.

   Die gegenwärtige Ökonomie (und immer mehr auch die ganze Gesellschaft) funktioniert sehr ähnlich.

Die Unsicherheit wird auf einer Höhe, die über dem Standard liegt, vor allem auf zwei Arten gehalten:

 

a)     

Im Bereich des Arbeitsmarktes – durch nicht vollwertige Arbeitsverträge,

und durch die Erosion der Rechte der Angestellten.

     b) Im Bereich der Sozialfürsorge durch Kürzung des Sozialstaates  und die Reduktion der sozialen Rechte der Bürger.

Diese Maßnahme schafft einen bequemen (passenden) Raum zur Ausbreitung der Unsicherheit und zur darauf folgenden Erpressung ganzer großer Gruppen der Bevölkerung. Man geht einfach systematisch vor: Zuerst wird Zukunftsangst hervorgerufen, zugleich wird der Traum von einem gesicherten Morgen geweckt und es wird der Schutz in Form eines privaten Fonds angeboten.

Zuerst werden die Risiken übertrieben, am Ende werden sie bagatellisiert. Während dessen scharrt der Markt mit privaten Versicherungen seine Belohnung zusammen.

(Ulrich Bröckling: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000)

 

 

Die klassische Mafia verbreitet die Unsicherheit keineswegs als Selbstzweck. Sie kann an ihrer Dosierung märchenhaft verdienen. Den zahlenden Klienten ermöglicht sie eindrücklich das Maß der Unsicherheit, in der sie leben, zu senken. Es reicht, dass sie auf ihre Bedingungen eingehen. Auch das gegenwärtige System der globalisierten Ökonomie bildet und verstärkt die Unsicherheit nicht ihrer selbst wegen. Solventen Klienten bietet sie Versicherungen in privaten Fonds.

Weniger solvente Klienten will sie zwingen, dass sie sich direkt per Gesetz versichern. Die höchste Anstrengung wird in dieser Richtung im Bereich der Altersversorgung gemacht, weil hier (und im Bereich des Gesundheitswesens) bei weitem das meiste Geld fließt.

 

  An der Wende von den 70-iger zu den 80-iger Jahren des 20. Jahrhunderts setzt sich in einer Reihe von Ländern das Streben, ganze Teile des öffentlichen Sektors und der Versicherungsysteme des Sozialstaates zu privatisieren, durch. In allen Ländern wird die Notwendigkeit dieser Änderung ähnlich begründet. Mit der Analyse dieser Begründungen beschäftigt sich der deutsche Publizist Albrecht Müller in einer lehrreichen Arbeit:

Müller, A.: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren. München: Droemer Verlag

2004.

 

   Wenn wir die Sache im größeren Kontext betrachten, stellen wir fest, dass es sich aus historischer Perspektive um einen sehr paradoxen Prozess handelt. Gerade die Institutionen, die nach ungefähr hundert Jahren den Beschäftigten ihre untergeordnete Position kompensierten, sollen sich in eine neue Quelle des Gewinns für die Besitzer des großen Geldes verwandeln.  Policen zur Sicherung der Arbeitskraft, die über ganze Generationen aufgebaut wurden, sollten sich in Instrumente verwandeln, welche den Unternehmern ermöglicht, von dem Geld immer mehr zu haben.

  Was bedeutet die Privatisierung der Versicherungssysteme aus der Sicht der Angestellten?

Sie müssen einer Gruppe von Unternehmern (denen, die mit der Gesundheit handeln, mit Krediten für Bildung, mit  Versicherungen für das Alter) zahlen, damit sie ihre Arbeitskraft auf dem Niveau halten können, dass es anderen Gruppen von Unternehmern (Besitzern von Firmen) maximalen Gewinn bringen wird. 

   Was bedeutet das für die Unternehmer? In der klassischen Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts konnten sie einzig (oder vor allem) in Fabriken reich werden.

In ihnen arbeiteten Arbeiter, die damals nicht versichert waren (so wie heute in China). Heute wandert die klassische Fabrikarbeit in die ärmeren Länder, der Anteil der Industriearbeiter in den ökonomisch entwickelten (reifen) Ländern sinkt. Zum Glück fanden die, die das große Geld haben, eine Lösung.

Wenn die Unternehmer sie nicht in Fabriken verwertet können, können sie die Versicherungssysteme privatisieren (gerade die, welche die Angestellten für ihre Unsicherheit und ihre untergeordnete Position entschädigten).

 

   Dies hat eine Reihe von Vorteilen:

-        

man kann das Geld nicht nur im Bereich der Arbeit verwerten, sondern auch  in arbeitsfreien Bereichen des menschlichen Lebens (Gesundheit, Bildung, Arbeitslosigkeit, Alter)

 

-        

Geld wird nicht nur durch die Arbeit der Arbeiter wertvoll,

sondern durch die Versicherungen auch bei den Angestellten des öffentlichen Sektors, den Gewerbetreibenden, den freien Berufe, der Kleinunternehmer u.a.

-        

Studium, Krankheit und Alter sind außerordentliche passende Felder zur Investition, denn im Unterschied zum Bereich der Arbeit bilden sie keine Zone, in der es leicht wäre, sich zu organisieren und ein gemeinsames Interesse zu vertreten.

 

 

   Es entsteht eine gewisse „Teilung der Investionsarbeit“ zwischen denen, die weiter die Industrieproduktion finanzieren, und denen, die ihre Finanzmittel in den Bereich der privaten Versicherungsfonds stecken. Das schafft übrigens einen scharfen Widerspruch im Funktionieren des ganzen Systems. Die, die in klassische Produktion investieren, brauchen niedrige Löhne (wegen der Konkurrenzfähigkeit). Umgekehrt brauchen die, die in private Versicherungsfonds, die die verschiedensten arbeitsfreien Aspekte der menschlichen Existenz mit einer Gebühr belegen (Bildung, Gesundheit, Alter u.a.), investieren, möglichst solvente Klienten.

 

   Dieser ganze Prozess radikaler Veränderung des Staates und die nicht weniger radikale Veränderung der Bürger werden von einer neuen Ideologie gedeckt. Nach ihr haben Staaten und jedes Individuum wie eine Firma zu funktionieren.

Dardot, P., Laval, Ch. La nouvelle raison du monde. Essai sur la société néolibérale. Paris: La Découvert 2009.

 

   Es existiert ein verbreiteter Mythos, dass die Linke einen großen und starken Staat will, während die Rechte einen minimalen und sparsamen Staat fordert.

In Wirklichkeit will die Rechte den Staat ebenso nicht so stark minimalisieren oder sogar ganz zerstören. Durch die öffentlichen Budgets auch der ideologisch liberalsten Staaten fließt Jahr für Jahr ein Umfang an Geld, der mit dem Geldfluss innerhalb der großzügigsten Sozialstaaten vergleichbar ist.

Die Rechte bemüht sich nur diesen Geldfluss von den Sozialhilfe Benötigenden zur Hilfe der finanziell Starken umzulenken. (Es widmet sich also einer gewissen Sozialarbeit mit den Firmen und den höchsten Einkommensgruppen.)

   Der Anteil des Bruttosozialprodukts, das jährlich durch die Staatskasse fließt, wächst in den letzten dreißig Jahren in allen ökonomisch entwickelten Ländern. Nur seine Struktur ändert sich in den Intentionen der neoliberalen Politik: Es steigt die Hilfe des Staates für Firmen, es sinkt das Maß der Vorsorge für die Arbeitslosigkeit. Es steigen die Ausgaben für die Tätigkeit des punitiven Sektors (Polizei und Gerichte), es sinken die Investitionen, die für das öffentliche Schulwesen ausgegeben werden. Die Zahlung der Sozialversicherungen wird mit Nachsicht behandelt, nicht jedoch im gleichen Maße die der Angestellten. Es sinken die Steuern von Finanztransmissionen auf Eigentum, auf hohe Einkünfte der Erbschaftssteuer, es wachsen dagegen die öffentlichen Gebühren, die Steuern für den Konsum und für das Wohnen.

   Der Staat soll sich wie eine Firma verhalten und soll als Service für andere Firmen (hauptsächlich große transnationale) dienen. Darum werden die Steuern für die Reichsten gesenkt.

Das erzwingt natürlich nachfolgend Reduktionen der öffentlichen Ausgaben und der sozialen Programme unter der Losung, die Staatsverschuldung nicht zu erhöhen. Die entstehenden Löcher im Staatsbudget werden als Beweis dafür herangezogen, dass die Lasten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienste zu hoch sind.

Das dient als Argument zu ihrer Privatisierung.

   Der Staat bilanziert bei diesen Manövern unmittelbar am Rande seiner Selbstdestruktion. Reichlich trägt er zur Untergrabung seiner Autorität bei. Zum Schwächen des öffentlichen Sektors werden Staatsbeamte benutzt, welche diese Tätigkeit vollkommen loyal, sorgfältig und gewissenhaft ausführen, wie sie es vom öffentlichen Dienst gewohnt sind.

 

Bonelli, L., Pelletier, W. (eds.) Ľ État démantelé. Enquête sur une révolution silencieuse. Paris: La Découverte 2010.

 

Der neoliberale Staat hat in der Beschreibung der Arbeit keinen Schutz seiner Bürger vor den Unsicherheiten des Marktes, vor der sich erhöhenden Konkurrenz oder vor den Auswirkungen  der Wirtschaftskrise. Im Gegenteil, er hat die Bürger dazu zu zwingen, dass sie sich all diesem Druck – soweit möglich auf eigene Kosten – anpassen. 

Sie haben sich dem Sinken des Wertes der Arbeit, dem Sinken der Höhe der Staatspensionen, der Schwächung der Rolle des Arbeitsgesetzbuches, der Schwächung des Einflusses der Gewerkschaften zu adaptieren.

    Die Aufzählung der sozialen Risiken, welche die Forscher angeben, gewinnt ihre Logik gerade im Lichte der Adaptierung des Staates und der Bürger an den Druck der globalisierten Ökonomie:

    Die Notwendigkeit das Familienleben mit der Erwerbsarbeit in Einklang zu bringen, (was vor allem erwerbstätige Frauen betrifft), hängt eng mit dem Sinken des Wertes der Arbeit und mit dem Sinken des Umfanges des sozialen Schutzes der Familien zusammen.

Die Existenzprobleme derer, die eine niedrige oder veraltete Arbeitsqualifikation haben, hängen mit der Delokalisierung ganzer Produktionszweige zusammen. Die unzureichende Versicherung der Personen besonders im Alter entsteht durch den Druck, den Wert der Arbeitskraft zu senken  und die Sozialversicherung zu reduzieren.

(Der Faktor des Alterns der Bevölkerung ist zwar ein objektiver demographischer Prozess, ein schwierig zu lösender wird er jedoch gerade im Kontext der übrigen „Adaptionsmaßregeln“.)

   Einem Staat, der seine Quellen auf die beschriebene Weise umlenkt, bleibt verständlicherweise nicht genügend Kapazität, um seinen Bürgern zu helfen. Dies führt zu Aufrufen, nach denen sich jeder Bürger nach dem Muster einer vollkommen konkurrenzfähigen Firma um sich selbst kümmern soll. Jeder Einzelne soll nach dem Vorbild einer Privatfirma funktionieren:  „Jeder Einzelne muss in seiner Arbeit, in seiner Freizeit und in seinem Intimleben sein Leben als wirklicher Professioneller, als Verwalter seiner eigenen Leistung, regeln (steuern, lenken).“

 

Alain Ehrenberg: Le culte de la performance. Paris: Calmann-Lévy 1991.

 

   Neuestens beschreibt diesen Trend die italienisch-französische Soziologin Maria Michela Marzano im Buch, das bezeichnender Weise den Titel „Ausweitung der Herrschaft der Manipulation“ trägt.

 

Marzano, M. 2008. Extension du domaine de la manipulation. De ľentreprise a la vie privée. Paris: Bernard Grasset.

 

Schlüsselworte dieser Metamorphose sind: „Konkurrenz“, „Freiheit der Wahl“ und „Verantwortung“. Die Verwandlung des Individuums in eine Firma bedeutet, dass jeder Einzelne konkurrenzfähig im Wetteifern mit anderen Menschen, die genauso wie er geformt sind, wird. Der in eine Firma verwandelte Mensch muss alles realisieren, was der Befehl der unbedingten Adaptabilität verlangt: er wird der Experte seiner selbst, der Unternehmer seiner selbst. Alle diese Aktivitäten führt er ausschließlich auf dem Weg der Selbstfinanzierung, also auf eigene Kosten durch.

  Der Druck auf die allgegenwärtige Konkurrenz dient versteckten Zielen: er nährt die Illusion der freien Wahl dort, wo die Freiheit der Wahl vereitelt ist. Jedem wird eingeredet, dass er ganz autonom ist, und zugleich wird ihm gesagt, dass er gänzlich hinsichtlich der verlangten Norm der Leistung konform sein muss.

Von jedem wird behauptet, dass er alle Freiheit hat, und zugleich gibt man ihm zu verstehen, dass er praktisch keine Wahl hat. Jeder soll eine maximale Leistung liefern, ohne Rücksicht darauf, wie seine Arbeitsbedingungen sind, wie sein Status  ist und wie er entlohnt wird.

 

 

Le Goff, J.-P.: La barbarie douce. La modernisation aveugle des entreprises et de ľécole. Paris: La Découverte 2003.

 

Die Freiheit der Wahl wird auf eins reduziert – auf die Anstrengung konkurrenzfähiger als andere zu werden. Die erwähnte Illusion der freien Wahl in dem Milieu der allgegenwärtigen Konkurrenz ermöglicht noch etwas weiteres – es wird möglich jedem persönlich die Schuld an seinem Misserfolg zuzuschreiben. Es ist notwendig, Kranke und Invaliden, Schüler und Studenten, Jobsuchende und alternde Menschen verantwortlich zu machen (Responsibilisierung). Es wird auf sie der wachsende Anteil der „Lasten“ ihrer Wahlen übertragen: es geht um die Verschiebung des Risikos auf den Kranken, der sich die Art der Pflege oder den Typ der Operation „aussucht“, auf den Studenten oder Arbeitslosen, der sich „den Bildungstyp auswählt“, auf den künftigen Pensionisten, der sich den Typ der Altersversicherung „auswählt“.

   Die Vorstellung des Menschen als Firma führt so über eine Serie von Zwischenschritten zum Endziel – die Schuld auf die Opfer der NSR zu übertragen. Sie versagten als Manager des eigenen Lebens, die nicht beständig für eine höhere Produktivität mit dem Ziel, sich am günstigsten zu verkaufen, trainiert haben.

 

   Wie schon Anfang der 90. Jahre John Kenneth Galbraith aufmerksam machte, erfüllt das den Opfern des NSR Schuldzusprechen noch eine wichtige Funktion.

Die Reichen und Erfolgreichen entledigen sich damit ihrer eigenen Schuldgefühle, welche ihnen die Behaglichkeit nehmen könnte, solange sie die Frage quält: „Wie kann irgendwer so glücklich sein, wenn so viel Übrige um die nackte Existenz kämpfen oder sogar diesen Kampf schon verloren haben?“

 

 

Galbraith, J. K. The Culture of Contentment. London: Sinclair-Stevenson 1992..

 

 Der Komplex der Quellen, über die der Mensch in der Rolle als Firma verfügt, stellt sein „Humankapital“ dar. Wenn jeder Mensch Träger von Humankapital ist, dann wird es legitim, dass er auch Träger aller (Markt)Risiken, die mit der Nutzung des Kapitals verbunden sind, ist. 

Das Konzept des Humankapitals drückt die Verpflichtung einer jeden Menschenfirma aus, seine Arbeitskraft auf dem Niveau zu erhalten, das es den echten Firmen maximalen Gewinn bringt.

Dieses Konzept korrespondiert gut mit der fortschreitenden Privatisierung der Versicherungen als eine der Voraussetzungen für den Betrieb der mafianisierten Ökonomie.  

   Gerade das Konzept des Humankapitals hat aus Sicht der Koppelung  „Konkurrenz – freie Wahl – Eigenverantwortung – eigenes Risiko“ grundsätzliche Bedeutung. Seine Wertung (Bewertung) sollte das Haupt(wenn nicht das einzige)Motiv jeglichen Handelns jedes Einzelnen werden. Jeder soll sich wie ein Kapitalist verhalten und wie er mit seinem Kapital an Bildung, Profession, Gesundheit u.a. umgehen.

Es geht um die Kapitalisierung des gesamten Lebens: Jeder muss „Verwalter seiner Risiken“ im Bereich der Anstellung, der Gesundheit, der Bildung usw. werden. Hinter der Vorstellung des Menschen als Träger des „Humankapitals“ versteckt sich die Verwandlung der gesamten Population in eine so billig wie mögliche und leicht zu benutzende Quelle für Firmen und für wirkliches Kapital, das in ihnen Wert findet.

   Was bedeutet es eigentlich, wenn alles wie eine Firma funktionieren soll? Sobald der Staat wie eine Firma funktionieren soll, bedeutet das dann, dass in ihm (ähnlich wie in jeder anderen Firma) kein Platz für diejenigen ist, die aus irgendeinem Grunde nicht arbeiten. Sobald ein Einzelner wie eine Firma funktionieren soll, heißt das, dass auch der die Verantwortung selbst für sich übernehmen muss, der kein verwendbares Kapital besitzt.

Volle persönliche Verantwortung für seine Wahl soll auch derjenige tragen, der keine wirkliche Wahl hat.

 

   Ähnliche Ratschläge können schwer den Opfern der NSR helfen. Im Wesentlichen geht es um Instruktionen aus Managerhandbüchern, welche an die adressiert sind, an welchen wirkliche Manager kein Interesse haben. Ähnliche Aufrufe kann man nicht als ernstgemeinte Ratschläge auffassen. „Von jemand zu wollen, der keine Arbeit hat und in einer schwierigen familiären Situation ist, dass er ein Projekt seiner Existenz ausarbeitet, ist sehr kühn. Wenn die betreffenden Leute dessen fähig wären, brauchten sie jemanden, der ihnen helfen würde.

Castel, R.: La montée des incertitudes. Paris: Seuil 2009.

 

  Welche tiefere Logik können wir in diesen Prozess einschreiben? In der Periode der Moderne (Modernität) wechselten sich drei Typen von Mittelschichten ab. Zuerst waren das die alten Mittelschichten, vor allem die Kleinunternehmer, die Besitzer kleiner Familienfirmen. Sie waren fleißig und legten ihr Gehalt beiseite, damit es mit der Zeit mehr werde. Sie waren im hohen Maße zur Selbstkontrolle fähig. Sie waren in der Lage, ihre Zukunft zu planen. Wie bekannt ist, standen nach Max Weber gerade diese religiös inspirierten Eigenschaften an der Wiege der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals und trugen in nicht geringem Maße zur Entstehung des modernen Kapitalismus bei. (Wir wissen, dass Werner Sombart die Entstehung des Marktsystems anders erklärte, aber das spielt hier keine Rolle.)

   Das Modell der alten Mittelschichten beginnt mit der Entwicklung großer formaler Organisationen ungefähr seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Hintergrund zu treten und setzt sich zum großen Teil im 20. Jahrhundert fort. Anstelle der Kleinbesitzer von Familienbetrieben treten Massen von Angestellten öffentlicher Ämter und großer Privatfirmen. Sie haben ganz andere Eigenschaften:

Einen Teil ihrer Unabhängigkeit tauschen sie für eine verhältnismäßig großzügige Versorgung.

Ihre Eigenschaften beschreibt kritisch eine Reihe von Autoren, z.B.:

David Riesman: Die einsame Masse (dt. 1956)

William H. Whyte: Der Organisationsmensch (1956).

Nach diesen Autoren sind sie vollkommen konform, initiativlos, bei ihnen verschwindet die Fähigkeit, Lohn beiseite zu legen, sie gewöhnen sich mit Schulden zu leben, anstelle der höchst möglichen Leistung tritt nur der Schein von Produktivität.

   Die Sozialarbeit forderte in ihren Anfängen von ihren Klienten Eigenschaften der alten Mittelschichten. In der Phase der organisierten Modernität empfiehlt sie Eigenschaften der neuen Mittelschichten: sich durch Beschäftigung in große Organisationen und damit in die Gesellschaft zu integrieren.

   Seit Ende des 20. Jahrhunderts tritt jedoch die dritte Generation der Mittelschichten an: der deutsche Soziologe Gerhard Schulze „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992), der amerikanische Journalist David Brooks „Bobos in Paradise“ (2000), der französische Philosoph Gilles Lipovetsky „Paradoxes Glück“ (2006).

   Man stimmt darin überein, dass die neuesten Mittelschichten viel autonomer und kreativer, aber zugleich auch viel weniger abgesichert und wesentlich verletzlicher im Vergleich zum Organisationsmenschen sind. Sie haben mehr Möglichkeiten sich abzuheben, zugleich sind sie von vielen Risiken bedroht, welche die Angehörigen der neuen Mittelschichten praktisch nicht berührte.

 Mit den alten Mittelschichten haben sie gemeinsam die Sehnsucht nach Selbstständigkeit. Es fehlt ihnen jedoch deren Enthaltsamkeit und Selbstzucht. Anstelle der Pflicht pflegen sie das Vergnügen.Sie suchen eifrig nach immer neuen Erlebnissen (Schulze), leben demonstrativ als Bohemian (Brooks), widmen sich leidenschaftlich dem Hyperkonsum (Lipovetsky).

   Und wieder wird die Sozialarbeit von den Eigenschaften dieser neuesten Mittelschichten inspiriert (respektive: durch einzelne dieser Eigenschaften). Vor allem sind sozial bedürftige Menschen von einer Haltung und einer Strategie, die der Mentalität des Organisationsmenschen ähnelt, abgeschreckt.

Das Vertrauen auf Hilfe führt angeblich auf den Abweg der bürokratischen Abhängigkeit. Diese moralisierende Haltung hat verständlicherweise seine latente Funktion – sie soll begründen, warum es nicht wünschenswert ist, die Mittel für Sozialfürsorge der Armen und Bedürftigen zu erhöhen. Zugleich soll sie den Übergang von einer systematischen vom Staat organisierten Fürsorge zu einer nur Anlassfürsorge, die in der Regie von privaten Agenturen durchgeführt wird, ermöglichen.

  Von dem Modell der Bohémebourgeosie (bobos) wird den Opfern der NSR nur etwas empfohlen zu übernehmen: Für den raffinierten Konsum haben sie keine Mittel. Sie haben sich aber ähnlich wie erfolgreiche Mitglieder der neuesten Mittelschichten stets in den Konkurrenzkampf zu werfen und ganz frei sich in ihm zu realisieren. Auch wenn ihnen dazu verzweifelt die Mittel fehlen, haben sie vorbehaltlos alle Verantwortung, die mit der eigenen Wahl verbunden ist, zu übernehmen. Ihnen ist also genau die Hälfte davon bestimmt, was David Brooks am Leben der Erfolgreichsten fesselte.

  Im Wesentlichen sind den  sozial Bedürftigen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts Rezepte vorgeschrieben, nach denen vor mehr als hundert Jahren die Angehörigen der alten Mittelschichten vorgingen. Das Modell des Menschen als Firma suggeriert ihnen, dass jeder im Prinzip ein Unternehmer ist. Für die Zukunft haben sie ihr Gehalt auch in dem Fall beiseite zu legen, wenn sie keine Zukunft erwartet.

   Merkwürdig sind daran vor allem zwei Sachen:

1)     

Die Sozialarbeiter sollen die, die fast ganz ohne Ressourcen sind, anhalten, dass sie sich ähnlich wie Leute verhalten, deren verhältnismäßig umfangreiche Familien- und Besitzquellen es häufig doch nicht ermöglicht hat, in der allgemeinen Konkurrenz zu bestehen.

2)     

Die Sozialarbeit nötigt den auf dem Markt und im Leben am wenigsten erfolgreichen Personen die alten Tugenden der Mittelschichten gerade in einer Zeit auf, wo die Mittelschichten selbst ausgeprägt unterschiedliche Werte haben, ja nicht selten ganz entgegengesetzte.

Anstelle des persönlichen Einsatzes tritt bei den Mittelschichten belanglose Mitteilung von Erfahrungen, anstelle der Besessenheit von Leistung das Suchen nach Vergnügen und Erlebnissen, anstelle harter Arbeit solche Aktivitäten, in denen das Spielerische und die Belanglosigkeit vorherrscht.

   Als ob das Marktsystem die klassischen Tugenden der Kleinbourgeoisie als Trödelkram, der höchstens noch für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, zu gebrauchen ist, beiseite gelegt hätte.

 

   Die größte Schwäche des neoliberalen Konzeptes des Staates und des Einzelnen als Periode der Privatfirma ist der Begriff der Firma selbst. Anfang des 21. Jahrhunderts verstanden die Neoliberalen die Firma noch auf eine Art, die zuletzt irgendwann in der Periode der 30. bis 50. Jahre des 20. Jahrhunderts anerkannt war. Für die Bedürfnisse der angeblichen Modernisierung des Funktionierens der Gesellschaft soll so ein ganz veraltetes, überholtes und schon fast ein halbes Jahrhundert nicht mehr benutztes Modell dienen.

Die Institution Firma, die unter anderem zur Lösung des NSR herangezogen werden soll, machte gerade im Verlauf der letzten Jahrhunderthälfte insoweit wichtige Veränderungen durch, dass sie eine der Hauptquellen dieses Risikos wurde. Zur Heilung der sozialen Krankheit soll so gerade das angewandt werden, was diese Krankheit verursachte und was sie systematisch vertieft.

  Wie sah die Firma aus, durch deren Nachbildung die Probleme der angeblich  üppig wuchernden Staatsmacht und des Funktionierens des öffentlichen Sektors und zuletzt auch die Frage der Durchsetzung des Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt, d.h. die Integration der sozial Ausgeschlossenen gelöst werden sollten? 

 

   Die Firma wird als undifferenziertes Ganzes begriffen. Sie ist eine gewisse Monade, ein weiter nicht teilbares Gebilde, das in sich alles enthält, was es zum erfolgreichen Überleben im Wirbel der Konkurrenz braucht. Es wird vorausgesetzt, dass die Interessen aller Firmenetagen im Prinzip gleich seien. So wurden Firmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Organisationstheorie beschrieben. Es wurde nur darüber diskutiert, mit Hilfe welcher Instrumente so eine in Organisation und Interessen homogenen Firma geleitet werden soll: Taylors Zweig der Managertheorie setzte auf die Methode Zuckerbrot und Peitsche, auf die Kombination materieller Belohnung und Strafe.

Die „human relations“ genannte Richtung betonte die Freiwilligkeit der Kooperation und hob die Rolle nicht formaler die Motivation der Arbeiter hebenden Beziehungen.

    Seit den 70. Jahren des 20. Jahrhunderts zerfallen jedoch die Firmenpyramiden in Zentrum und Peripherie. Die Firmen beginnen sich ihrer Beschäftigten zu entledigen. Der ganze bisherige Streit darüber, welcher Leitungsstil und welche Beziehung der Manager zu den Angestellten für die Firma der effektivste sei, wird zweitrangig.

Vorteilhafter als auf den Taylorschen Prinzipien Zuckerbrot und Peitsche zu bestehen, und vorteilhafter als den Beschäftigten zu ihrer informellen Anerkennung zu bewegen ist -  sich im maximal möglichen Maße von den Beschäftigten zu befreien.

Aus den ehemaligen Angestellten werden formal unabhängige Sublieferanten, die mit der Firma kurzzeitige zweckbefristete Verträge  abschließen. Sie verlieren alle Vorteile von vollwertigen Verträgen und drücken in unerbittlicher Konkurrenz den Wert ihrer Arbeit herunter. Die Firmen erreichen damit einen doppelten Effekt: einerseits entledigen sie sich der Verpflichtung, sich um die Angestellten zu kümmern, andererseits senken sie den Preis ihrer  Einstellung.

Beides bringt den oberen Etagen der Firmen einen nicht zu vernachlässigenden Profit. Es gilt nicht mehr, dass Höhe des Risikos und der Entlohnung zusammenhängen. Die, die einen hohen Gewinn haben, verlagern das Risikomaximum auf die, die niedere Einkommen haben. Während die Einkünfte sich in den Kernen der Firmen konzentrieren, werden die Risiken an die Periphere der Lieferer und Sublieferer verlagert.

Die Sublieferanten sind formal autonom, aber sind nicht versichert und haben Anspruch auf nichts. Viele von ihnen haben nur die Auswahl zwischen niedrigem Gehalt und Arbeitslosigkeit. Andere wählen zwischen der Gründung einer Familie und der Anschaffung von Kindern und materieller Fülle. Andere können zwischen einem ständigen Wohnsitz und ständiger Mobilität wählen.

   So zeugen Firmen NSR, und dabei betont das NSR den Opfern, dass sie sich nur helfen können, wenn sie sich gerade wie diese Firmen verhalten. Wir müssen sehr naiv sein, wenn wir denken, dass das funktionieren kann.

   Zusammenfassung zum Abschluss: Auf dem Gebiet der Praxis will sich das große Geld der arbeitsfreien Aktivitäten des Menschen bemächtigen, um durch ihre Versicherung (real oder fiktiv) so viel wie möglich an Wert zu bekommen. Auf dem Gebiet der Theorie will ähnlich das Konzept des Menschen als Firma (und das Konzept des menschlichen Kapitals) die ganze menschliche Existenz vollkommen beherrschen. Darum wird den auf dem Markt Erfolglosen als Heilmittel ein Rat angeboten – auf dem Markt erfolgreich zu werden. Und vor allem – alle Folgen dafür zu tragen, wenn sie dazu nicht fähig sind.

© Übersetzung Stephan Teichgräber

 

 

 

 

Autor

Keller, Jan