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Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publikationsdatum:
05.08.2021
Ausgabe:
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YES
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Land: Austria
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Auszug aus "Schiefe Kirche"
Barbora blinzelt schlaftrunken in das Halbdunkel des frühen Morgens. Sie träumte einen seltsamen Traum, sie weiß nicht mehr, worum es ging, aber er erschreckte sie, so dass sie aufwachte. Sie greift nach dem Ton neben sich, damit sie sich in Pawels Wärme von der Unruhe befreit. Unter der Hand fühlt sie jedoch nur ein leeres Polster.
Ungestüm setzt sie sich im Bett auf und weiß plötzlich, dass das was sie aufweckte, kein gewöhnlicher Traum war. Auch das Federbett ist unberührt, hier ist etwas nicht in Ordnung, es ist etwas Schlimmes passiert, da ist sie sich sicher. Pawel ist nicht einer von denen, die nicht gleich nach der Schicht heimkommen, außerdem hat er Karl dabei, er kümmert sich um ihn. Er versprach, dass er auf ihn aufpasst.
Überall ist es still, nur die Pendeluhr führt weiter ungenau ihre Arbeit aus. Barbora hat das Gefühl, dass sie zusammen mit ihr auch ihr Herz schlagen hört, der Atem ist irgendwie unvermittelt in der Kehle ins Stocken geraten, die Handflächen schwitzen. Verwirrt irrt sie mit den Augen durch die Küche und sucht die ausgezogenen Arbeitshosen. Wie oft hat sie sich über Pawel geärgert, dass er sie drinnen über den Sessel warf und den Kohlenstaub ins Haus schleppte. Wie gerne würde sie ihn jetzt für etwas ausschimpfen. Aber die geschwärzte Kleidung sah sie nirgendwo.
Die Blechkannen stehen nicht auf dem Ofen.
Sind sie nicht gekommen?
Sind sie beide nicht gekommen?
Ungestüm schiebt sie die Tuchent weg, plötzlich ganz aufgewacht, und läuft barfuß ins Schlafzimmer. Sie lässt es nicht darauf ankommen, dass sie still öffnet, ungestüm reißt sie die Tür auf und im schwachen Licht des frühen Morgens sucht sie Karl.
Ein leeres Polster, eine unberührte Tuchent.
Sie sind nicht gekommen.
Beide sind nicht gekommen!
Die bloßen Füße laufen zurück, die zitternden Hände nehmen den Rock und versuchen ihn so schnell wie möglich anzuziehen, aber das Schnürband in der Taille entgleitet zweimal den Fingern, und ebenso ist es dann mit den Knöpfen an der Bluse, soviel verlorene Zeit, so viele Sekunden, die sie durch ihre Ungeschicklichkeit verliere! Schuhe. Schnell. Die Haare flicht sie schon auf dem Weg nach unten vom Berg zu einem schlampigen Zopf, das Kopftuch blieb daheim, der Teufel soll es holen, deswegen wird sie nicht noch einmal zurückgehen.
Sie ist noch nicht einmal an der Kirche und sieht schon ein Gewimmel, einfach ungewöhnlich für diese Tageszeit. Im zunehmenden Licht der roten Frühe hat sich vielleicht die ganze Kolonie (Siedlung) versammelt, die Leute stehen zwischen Kirche und Schule, Barbora ist nicht direkt bei ihnen, aber zu ihr dringt schon aufgeregtes Reden, die Worte sind noch nicht verständlich, aber das ist auch nicht notwendig, es reicht die zum Himmel emporgeschwungenen [vzepjaté] Arme zu sehen und die zu Boden gesenkten Köpfe.
„Was ist passiert?“ schreit sie in die Menschenmenge, damit fragt sie alle und niemanden. Die am nächsten stehende Gestalt dreht sich zu ihr um: „Im Schacht hat es geknallt. Eine Unmenge Männer sind verschüttet.“
„In welchem Schacht?“
„Am ehesten im Franziska-Schacht. Oder auch in Hlubina oder im Jan-Karel-Schacht.“
Barbora fließt es heiß den Rücken herunter.
„Wann?“
„In der Nacht. Es begann um halb zehn.“
Barbora bedankt sich nicht und verabschiedet sich nicht. Nur fast unbemerkbar nickt sie mit dem Kopf und beginnt sich durch die Menschenmenge zu drängen, die Hände hält sie schützend auf dem gewölbten Bauch, sie bricht sich zwischen den stehenden Gestalten eine Bahn zur Freistädter Straße. Sie sieht auf ihr einige weitere Frauen eilen, ein Teil von Ihnen biegt nach einer Weile zum Franziska-Schacht ab, der Rest geht weiter auf der frisch gepflanzten Allee zusammen mit ihr zum Jan-Karel-Schacht.
Ungefähr auf halber Strecke kommt ihr die erste Frau entgegen, die in die umgekehrte Richtung geht. Sie fasst sich ein Herz und schaut ihr in die Augen, aber danach bereut sie das, denn sie bemerkt nur Kummer, Schmerz und Dunkelheit. Barboras Beine erstarren für kurze Zeit und auf ihre Brust legt sich ein Felsblock der Angst. Sie kann nicht weiter gehen. Was wenn auf sie dort oben ebenso schlechte Nachrichten warten wie auf diese niedergeschmetterte Frau?
Die Erstarrung dauert nicht lange. Barbora weiß, dass sie einmal ebenso die Wahrheit erfahren muss, und sp presst sie fest die Lippen zusammen, atmet tief ein und läuft weiter, jetzt jedoch schon lieber mit dem Blick auf die Schuhspitzen gerichtet. Es ist doch nicht notwendig gleich an das Schlimmste zu denken! Pawel und Karel können unter der Erde nur hängengeblieben sein, sie können oben sein und den Verletzten helfen, können selbst verletzt sein… Solange ich nicht diesen verfluchten Berg hinaufgestiefelt (hinaufgehatscht) bin und nicht gefragt habe, hat es keinen Sinn über irgendetwas nachzudenken. Beten, das ist das Einzige, was Sinn hat. Und so schnell wie möglich gehen.
Erst als sie das zweistöckige helle Gebäude, hinter dessen Dach die viereckige Mauerumkleidung des Förderturms und des noch höheren Schornsteins emporragt, schon in Sichtweite hatte, beginnt sie den Gestank wahrzunehmen. Und die Not in der Luft. Sie versucht sich zu orientieren und darauf zu kommen, wohin sie gehen muss, aber sie sieht nur Wirrwarr.
Sie möchte jemanden anhalten und fragen, was sie machen soll, nur alle tuen so, als hätten sie sie nicht gesehen. Eine Weile steht sie verlegen da und dann packt sie einfach den erstbesten Menschen am Ärmel, der an ihr vorbeigeht.
„Gestern Abend sind mein Mann und mein Sohn unten eingefahren. Wohin muss ich gehen?“ Ein Mann mit Bart zeigt auf das Hauptgebäude.
„Dort sind alle.“ Barbora versteht zwar nicht ganz die Bedeutung des Wortes alle, aber sie will nicht fragen, um nicht als Antwort etwas zu hören, worauf sie vorerst nicht vorbereitet ist. Und eigentlich kann sie nicht einmal fragen, den der Mann, der ihr die Richtung gezeigt hat, ist schon weg, hat sich in einer Unmenge anderer Leute verloren, einige irgendwie ziellos, andere im strammen Schritt. Erst nach einer Weile kapiert Barbora, dass das Hauer sind, die zur Frühschicht gekommen sind und jetzt heimfahren oder versuchen festzustellen, wo sie behilflich sein können.
Zögernd macht sie sich auf den Weg dorthin, wo vor einem Augenblick der Bart des unbekannten Bergmannes hingezeigt hatte. Rechts sieht sie eine Holzkonstruktion, montiert aus dicken Balken, auf der eine Laufbrücke befestigt ist, die in den ersten Stock des Hauptgebäudes führt. Auf der Erde unter der Brücke bemerkt sie irgendeine Bewegung, und so lenkte sie ihre Schritte in diese Richtung. Sowie sie den Blick so sehr schärfen kann, um erkennen zu können, was sich unter dem provisorischen Vordach abspielt, erstarrt sie. Auf der Erde liegen Körper; eine lange Reihe Körper. Bei einigen Toten knien Menschen; bei anderen ist es noch leer, ihre nahen Verwandten sind noch nicht eingetroffen.
Die Beine hören auf ihr zu gehorchen. Sie kann sich nicht entschließen, zu diesem Schreckensort zu gehen.
Sie steht und mit weit aufgerissenen Augen versucht się nicht davon zu sehen, was um sie passiert. Aber sie bemüht sich umsonst: jetzt sieht sie gerade, wie aus dem Hauptgebäude ein weiterer Körper herausgetragen wird.
Im nicht weit entfernt stehenden Häuflein rauscht es. Es treten einige Frauen heraus und folgen dem Rettungsmann unter das Vordach. Sowie die Männer den toten Häuer neben seine Kameraden legen, machen die Frauen zögernd die restlichen paar Schritte, um dem gerade gebrachten ins Gesicht zu sehen.
Den allgegenwärtigen Lärm durchschneidet ein Wimmern.
Eine der Frauen fällt auf die Knie und schluchzt. Sie weint verzweifelt und schiebt wild die Hände derer fort, die sie wenigstens durch eine Berührung trösten wollen, sie beugt sich zu ihrem Mann, nimmt sein Gesicht in die Hände und sagt ihm etwas, schreit ihn fast an, aber ihre Worte verschluckt das Getöse.
Die übrigen Frauen kehren zum Häuflein zurück, damit sie weiter auf ein Wunder warten können.
Barbora will fliehen.
Fliehen, aber es gibt kein Wohin.
Sie hat nur zwei Möglichkeiten: mit den anderen Frauen warten oder zu der Reihe der Toten gehen und suchen.
Sie entscheidet sich für das Geringere der zwei Übel. Die Ereignisse wälzen sich auf sie, hat sie doch vor einer Stunde noch geschlafen, nichts gewusst, sie muss ausatmen, ausruhen [spočnout], sie kann den Toten noch nicht ins Gesicht blicken, noch nicht, jetzt muss sie noch mit den Lebenden sein.
Sie schließt sich den wartenden Frauen an und schweigt mit ihnen.
Es dauert eine ganze Ewigkeit, bis aus der Tür weitere Paare von Rettungsleuten mit Tragen auftauchen.
Die Menge um Barbora wird starr.
Die Männer gehen in die entgegengesetzte Richtung los, weg von dem liegenden Spalier der Getöteten.
„Wohin gehen sie?“ beginnt Barbora so verständlich zu kreischen, wie es ihr die ausgetrocknete Kehle erlaubt.
„Die Verletzten führen sie ins Spital nach Tešiň,“ antwortet die Frau mit weißem Kopftuch.
„Also gibt es auch Verletzte? Nicht nur Tote?“
„Es wurden nicht alle getötet. Aber einige blieben unten, es ist schwer an sie heranzukommen. Sie bringen alle, die noch können, aber es geht langsam.“
Das begonnene Gespräch reißt die übrigen Frauen aus dem Schweigen und plötzlich kommen die Sätze von allen Seiten:
„Sie tragen sie seit der Nacht hinaus, als es zuerst daneben im Franziska-Schacht krachte. Gleich nach der Explosion fuhren sechzig Männer hinunter, aber im Verlauf einer halben Stunde knallte es wieder und der Gang wurde so auch hier verschüttet, im Jan-Karel-Schacht. Die Männer, die sich bemühen die Verletzten zu bergen und die Toten herauszutragen, haben aber schon die Lungen voller Staub, die Essigmasken schützen sie nicht sehr und etwas anderes haben sie nicht. Es helfen alle, die Ingenieure, die Inspektoren und die Männer, die zur Frühschicht gekommen sind. Einige von denen, die runtergefahren sind, um zu helfen, haben sie auch schon tot herausgebracht. Man sagt aber, dass immer noch Hoffnung besteht, dass unten auch Lebende sind, denen es gelang vor dem Rauch in andere Stockwerke oder in die Abluftkammer [výdušná jáma] zu flüchten.“
Der übereilte Wortsturz hört so plötzlich auf, wie er begonnen hat.
Die Erde bebt und es erschallt eine mächtige Explosion.
Die Augen aller Anwesenden wenden sich zum Himmel, den der schwarze Rauch, der aus den Schächten quillt, bedeckt.
Einige Frauen beginnen zu weinen.
Die Frau mit dem weißen Kopftuch, die vor kurzen noch so redselig war, sinkt zu Boden. Und Barbora begreift, dass auf nichts mehr zu warten ist. Es kam die Zeit [nadešel čas], sich mit den Toten zu treffen, denn unten ist niemand am Leben geblieben.
Sie bricht zu dem hölzernen Vordach auf und untersucht dort mit den Augen die liegenden Gesichter, geschwärzt vom Staub und verkohlt vom Feuer. Sie sucht und geht sie durch [přeje si], um sie nicht zu finden.
Sie findet.
Karel hat den Mund weit offen und die Augen zum schwarzen Himmel aufgerissen. Als ob er noch nach Luft schnappt, als ob er immer noch nicht glaubt, dass ihn die giftigen Gase nicht ersticken.
Als ob er wüsste, dass wenn er stürbe, seine Mutter über ihn versteinert stehen würde und ebenso sterben möchte.
Barbora steht lange versteinert da und möchte schreien und möchte sterben, aber nicht eins von den beiden Sachen kann sie tun, und so sinkt sie stattdessen zu Boden, vergräbt die Finger in der herabgefallenen Flugasche und schaut die blauen Augen ihres Sohnes an.
Die Welt ist verschwunden.
Erst nach einem langen Augenblick heben sie die Hände von irgendjemanden hinauf und irgendeine Stimme sagt, dass sie nach Hause gehen soll.
„Ich warte noch auf Pawel,“ versucht sie sich diesen Händen zu entwinden.
„Wenn er überlebt hat, ist er schon daheim, wenn er nicht überlebt hat, hat es keinen Sinn zu warten.“ Die Lapidarität der Mitteilung bringt sie wieder auf die Beine. Sie geht nach Hause, wie es von ihr verlangt wird, und ahnt überhaupt noch nicht, dass sie Pawel niemals finden werden. Sie wird ihn nicht in ein Grab legen können, denn sein Grab wurde der Schacht, wo er mehr als ein Viertel Jahrhundert Kohle abgebaut hat.
Übersetzung©Stephan Teichgräber
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