Verlag:
Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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ISSN:
Publikationsdatum:
06.08.2021
Ausgabe:
Vorrätig:
YES
E-Mail:
Land: Austria
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„Fünf tausend Millionen.“
„Fünf Milliarden,“ korrigiert ihn der Opa.
„Fünf Milliarden,“ wiederholt Ondřej mit Demut.
Gemeinsam sitzen sie am Tisch in der engen Plattenbauküche, auf dem Herd pfeift eine alte Kanne und Opa hat die Hand auf ein verblasstes Exemplar der “Volksdemokratie” gelegt. Der Zeigefinger, der Mittelfinger und der Ringfinger verdecken die Zeitungsüberschrift, es sind nur einige Silben zu sehen. Ondřej muss sie jedoch nicht erraten – er weiß, wovon auf der Titelseite geschrieben wird, denn der Großvater zeigt ihm die Zeitung vom Juli siebenundachtzig nicht zum ersten Mal.
Auf der Welt laufen schon fünf Milliarden Menschen herum. Auf der Welt laufen schon fünf Milliarden Menschen herum und die Tageszeitung informiert über den Neugeborenen in Zagreb mit dem Namen Mate Gašpar, dem die Ordnungsnummer mit fünf und neun Nullen zufiel.
„Das konntest du sein,” sagt der Opa und gießt sich Kaffee ins Glas. Während die Wände des Trinkglases durch den Türkischen dunkel werden, beschlagen sie kurz durch den perlenden Dampf. “Was konnte er? Du musstest das sein, davon bin ich felsenfest überzeugt,” fährt er fort und rührt den Kaffee um, damit die gemahlene Bohne nicht an der Oberfläche blieb und schneller sich setzte. “Es würde sich über dich der Generalsekretär der UNO beugen und die Fotos von eurem Treffen würden auf den Titelseiten der Zeitungen in der ganzen Republik erscheinen. Auch im Fernsehen.”
Ondřej schweigt, andächtig betrachtet er Großvaters Adamsapfel, der steigt und fällt mit jedem Schluck... und dann beginnt schon die Leselektion.
In die Schule geht er zwar erst seit kurzem, aber jetzt rutscht er mit den Augen über das vergilbte Zeitungspapier seines Geburtstages und mit dem Finger hielt er sich an die fettgedruckten Silben der Nachricht aus Jugoslawien.
„Mate… Gašpar,“ liest er vorsichtig vor und Opa beobachtet ihn die ganze Zeit aufmerksam.
Erst daheim zieht Ondřej ein Schubfach in der Kommode auf und nimmt eine leicht gewellte Kappe mit weißen Fransen heraus, an die drei goldene Schellen mit einer roten Schleife gebunden sind. Danach läuft er in das Wohnzimmer und wirft den Kopf einmal zur einen Seite einmal zur anderen. Die Schellen trommeln an die Kappe, rasseln und läuten.
“Rate, wer ich bin?” fordert er die Mutter auf.
“Ein Zwerg?”
“Nein, das bin ich nicht,” lehnt er ab und stampft zur Seite. Die Schellen läuten wieder.
“Der Teufel?”
“Das bin ich auch nicht!” hüpft er.
“Dann das Kasperle...?”
“Jå! Nein. Jå! Aber ein großes...! Ich bin Mate Kasperle!” schreit er und seine stolze Stimme bebt vor Erregung. Die Mutter lacht und nimmt ihm die Kappe vom Kopf.
Von diesem Tag an wird man ihn nicht mehr anders rufen. Für immer bleibt er Mate.
Über dem Küchentisch hängt eine ausgeblichene Reproduktion der verschneiten Škodawerken, auf dem Küchentisch rascheln abgegriffene Blätter der “Volksdemokratie” und mit ihnen ist wieder in der Wohnung der Großeltern auch der Schatten des kroatischen Buben anwesend, der das Interesse der Presse verdient hatte, weil er als Fünfmilliardster auf die Erde kam.
„Du konntest das sein,“ sagt Opa, lächelt heuchlerisch und trinkt ein bisschen von seinem Türkischen aus dem Grogglas.
“Nur dass ich nicht in Jugoslawien geboren bin,” wendet Ondřej entrüstet ein. Er ist dreizehn, lümmelhaft und es war ihm zuwider, wenn sich der Opa laut an seine Geburt erinnert.
“Und darin liegt gerade der Fehler! Dass der UNO-Generalsekretär gerade nach Jugoslawien fuhr! Und gerade nach Zagreb,” ließ sich der Opa nicht beruhigen. “Dabei wenn er zu uns gefahren wäre, so hätte er sich mit dir und mit Eurer Mami fotografieren lassen.”
“Das hätte mir gerade gefehlt, dass sie mich gleich nach der Geburt fotografieren,” schnauzt Ondřejs Mutter das Großväterchen an - und sie schnauzt ihn nur zum Schein an. Dann dreht sie sich zu Hanuš: “Es wird das sein.”
Auf dem Küchentisch beginnt ein Katalog mit Palmenblättern, mit Orchideenblumen zu rascheln... mit Angeboten von Aufenthaltsreisen. Die Eltern haben am vorherigen Abend beschlossen, dass im Sommer die ganze Familie ins kroatische Dalmatien fährt, am Nachmittag war die Mutter im Reisebüro, um die Anzahlung zu leisten.
Hanuš setzt sich die Brille auf und untersucht auf der glänzenden Oberfläche des Papiers eine kleine Fotografie mit einer weißen Villa und der Beschreibung der Unterkunft.
“Aber das sieht schön aus! Und an den Strand habt ihr nur sechzig Meter!”
“Und was habt ihr euch letzten Endes ausgesucht? Spanien?” fragt Opa und legt die Hand auf die geöffnete Zeitung, mit gelblichen Fingern deckt er den Rumpf und das Gesicht des beleibten Generalsekretärs zu. Zu sehen war nur eine zerzauste, finstere, aber geschminkte Mutter und Windeln mit einem Neugeborenen, der den Kopf verdreht [zavracející].
“Schließlich wurde es Jugoland.”
Opa rutscht auf dem knarrenden Eichenstuhl hin und her, in den Augen glänzt Aufregung, übrigens diesmal keineswegs darum, dass seine Tochter eine ungültige und veraltete Bezeichnung verwendete - so, wie er es gern hat.
“Hier siehst es, du Räuber!” schnitt er für den Enkel eine launenhafte Fratze. “Du wirst es dir persönlich mit Gašpar ausmachen können!”
Mate
Die Schatten sind kurz. Im Rücken hört man das Krächzen [chraplání] eines Radios vom Strandkiosk, ein salziges Schmatzen und ein Knarren der Plastikseelen, welche die ausgelassenen Feriengäste in die Sattel auf den Wellen setzen. Man hört das Knacken der Fotoapparate, das Geplapper der Urlauber aus Böhmen und Mähren und aus der Ostslowakei, aus Bayern, aus Nieder- und Oberösterreich, aus Slawonien und aus der Wojwodina. Offensichtlich dort, im Gebrüll der Stimmen, sind auch seine Eltern, aber Ondřej weiß das nicht, kann nicht darüber nachdenken, denn es ist Mittag, die Sonne brennt zu sehr und er hat sich zu lange über ein Buch gebeugt, die Strahlen haben sich ihm in den Hinterkopf hineingebohrt. Jetzt beißt ihn die glühend heiße Hitze in die Arme und saugt ihm Schweiß aus der Stirn.
Er schaute vor sich hin. Im Staub des provisorischen Parkplatzes liegt ein Eisstanitzel. Ein Schokoladenhügelchen schmilzt, die braune Masse kriecht über den weißen Boden, auf der weißen Fläche ergießt sich eine braune Lacke. Sie hält erst am Zeh eines fremden Fußes.
In erhitzten Trugbildern kann Ondřej nur schwer den Blick scharf einstellen. Sodann sieht er die Sporne der Knöchel und die spitzen Höcker der Knie, die Gelenke an den herabhängenden Fingern der Hand und die Harmonika hervortretender Rippen, sieht die gebeugten Arme und einen schorfigen Hals - er sieht einen Burschen in seinem Alter, ebenso einen Halbstarken, wie er selbst ist.
Strahlende Hitze bringt Ondřejs Stirn zum Glühen. Die Sonne brennt ihm in den Haaren.
Der fremde Bursche mustert ihn mißtrauisch und er schaut ihn verdutzt und erstaunt an, als ob er ihn schon einmal früher getroffen hätte, als ob er ihn irgendwoher schon kannte. Er will ihn ansprechen, er öffnet den Mund und holt Luft, durch die Nase jagt bittere Sommerluft bis ins Oberstübchen, den brennenden Kopf bringt sie zur Weißglut und versengt ihm den Hals. Dann hört er aus der Ferne die Mutter, die nach ihm sucht. Über die Schreie der tschechischen und slowakischen und deutschen und kroatischen Touristen ruft sie seinen ausgeborgten Namen, den Spitznamen als Kind. Beide Burschen reißen den Kopf herum.
Beide reißen den Kopf herum, beide wenden sich nach dem Rufen des Namens Mate um.
Die kroatische Sonne brennt weiter.
Ist es vielleicht möglich, dass es gerade er war? Aufgeschreckt zuckt er, will sich überzeugen, dass sich der unbekannte Bub wirklich nach diesem Namen umblickte.
Nur dass der Parkplatz leer war. Nur an der Straße beben raschelnde Sträucher mit weißen Beeren, die trockenen Sträucher dagegen gehen ein.
In die halbwüchsige, zusammengepresste Lunge, die bisher noch von keiner Zigarette geprüft wurde, saugt er weitere Luft. Seine Augen reizt der salzige Schweiß und der weiße Boden kommt ins Schwingen, Ondřej dreht sich schlapp zum Strand. Das mittägliche Meer schleuderte käsebleiche Kieselsteine heraus, lederne Findlinge, die sich unter farbigen Hauben auf schlanken Beinen verbergen und von Kartenfächern abgeschottet werden. Er dreht sich wieder um. Die Sonne brennt zu sehr und aus der Schokoladenlacke blieb nur die Landkarte eines dicken, schlammigen Breis. Der Magen kommt ihm hoch. Dann packt ihn am Arm eine Männerhand.
„Wohin bist denn verschwunden?“
Kälte läuft ihm über den Hals und sticht unter dem Schulterblatt. Er erschrickt. Er springt auf. Der glühende Kopf zerplatzt.
„Mama sucht dich,“ fährt der Vater fort, doch der Schreck Ondřejs schnitt ihm das Wort ab.
„W-w-was?“ gab er letztendlich von sich.
Seit diesem Tag stottert er.
Übersetzung © Stephan Teichgräber
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