Brycz, Pavel

Der Schriftsteller Pavel Brycz wurde am 28. Juli 1968 in Roudnice nad Labem geboren und wuchs im nordböhmischen Most (Brüx) auf. An der Pädagogischen Fakultät in Ústí nad Labem (Aussig) studierte er Tschechisch, später an der Prager Kunsthochschule DAMU Dramaturgie. Er arbeitete als Mittelschullehrer, Publizist und Texter in einer Reklameagentur. Die Atmosphäre seiner Heimatstadt Most spiegelt sich in seinem Buch „Jsem město“ (Ich bin die Stadt) wieder, für das er 1999 mit dem Jiří-Orten-Preis ausgezeichnet wurde. 2000 erhielt er ein UNESCO-Stipendium und lebte zwei Monate in Frankreich, wo er die Novelle „Sloni mlčí“ (Die Elefanten schweigen) schrieb. Für seinen Roman „Patriarchátu dávno zašlá sláva“ (Des Patriarchates längst verflogener Ruhm) errang er 2004 den Staatspreis für Literatur. Brycz schreibt ebenfalls Gedichte und verfasst literarische Wortspiele, aus denen er gemeinsam mit dem Künstler Filip Raif das Büchlein „Láska na konci světa“ (Liebe am Ende der Welt) zusammenstellte. Mit Kurzgeschichten ist er in „Daylight in Night-club Inferno – Post Kundera Generation“ vertreten, einer amerikanischen Anthologie zur tschechischen Gegenwartsprosa (West Haven, 1997), und im Verlag Twisted Spoon Press erschien unter dem Titel „City“ die englische Übersetzung des erwähnten Buches über seine Heimatstadt. Auch als Autor von Kinderliteratur hat sich Brycz einen Namen gemacht: Seine Erzählungen werden in Kinderprogrammen des Tschechischen Rundfunks ausgestrahlt, und sein Buchdebüt auf diesem Gebiet war 2006 „Kouzelný svět Gabriely“ (Gabrielas Zauberwelt), versehen mit Illustrationen von Šárka Zíková. Nicht zuletzt schreibt er Texte für die Band Zdarr, die moderne Chansons mit folkloristischen Elementen, Rock, Klezmer und Balkanfolklore verbindet. Pavel Brycz arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Liberec (Reichenberg), ist verheiratet, hat drei Söhne und lebt in Jablonec nad Nisou (Gablonz).

Pavel Brycz, Schriftsteller, Dichter, Gelegenheitstexter und Verfasser von Kindergeschichten, Autor von sieben bemerkenswerten Büchern, ist ein klassisches Beispiel für einen Schriftsteller der Gegenwart, der zwar auf eine gewisse konfessionelle und autobiografische Art und Weise seine Lebensgeschichte voller persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse ausbreitet, um sie dann aber doch geschickt in einen breiteren Dialog mit den Menschen von heute zu überführen, die in seinen Texten vielfach im Banne fast Hrabal’scher oder Márquez’scher magischer und bizarrer Geschichten vorkommen.

Auf den ersten Blick mag Brycz als bloßer Sammler und Protokollant von Geschichten oder als scharfsinniger Konstrukteur komplizierter Arabesken und Ornamente erscheinen, die über den alltäglichen Ereignissen schweben und gelegentlich die Dimension von etwas wenig Wahrscheinlichem oder sogar Irrealem erlangen. Er ist belesen und allseitig gebildet, und so bereitet es ihm keine Schwierigkeiten, die manchmal kahle und schlichte Handlungslinie seiner Erzählungen oder „zerstückelten“ Novellen und Romane durch einen riesigen Apparat von Exkursen zu bereichern. Die wirken gelegentlich wie weit verzweigte Abschweifungen zum Selbstzweck, die nicht auf tiefsinnige Meditationen hinauslaufen, sondern eher auf einen Nachhall jener „Baflerei“ eines Bohumil Hrabal, Ladislav Fuks oder Vladimír Páral, die niemals über den Horizont der äußeren Welt in weit abgelegene geistige Räume hinausreicht.

Brycz ahnt, dass man die gegenwärtige, etwas sterile Literatur nur auf eine einzige Art und Weise beleben kann, dass man sie nämlich zu einem amüsant übertriebenen, absichtlich überexponierten Erzählen à la Rabelais machen muss, ohne komplizierte Metaphern und vertikale Ausgangspunkte. Daher kann man den Kritikern nicht ohne weiteres zustimmen, die Brycz im südamerikanischen magischen Realismus verorten. Und ebenso wenig kann man ihn – vor allem im Bezug auf sein offenbar bedeutendstes Buch „Patriarchátu dávno zašlá sláva“ – in die Nähe von episch-weitschweifigen Erzählern stellen, wie es Thomas Mann, Hermann Broch, Stefan Zweig oder Robert Musil waren. Auch der Vergleich mit der Linie Vančura – Čapek oder mit dem halb vergessenen Epiker Vladimír Neff hinkt, denn Brycz’ Poetik ist nicht so „allumfassend“ und zeitlich permanent, so realistisch und miniaturhaft, und doch gleichzeitig auch auf die Beobachtung großer Geschichte und großer Schicksale ausgerichtet.

Er fabuliert und fantasiert auf bizarre Art und Weise. Immer stärker nähert sich sein literarisches Vorgehen der Poetik des Films mit seinen manchmal fast brutalen Schnitten, die zeitliche Proportionen und Kausalität verwischen. Auch seine Schreibweise hat ihre Hast, ihre Dynamik und ihre Bildeffekte mit dem Film gemeinsam, die in den meisten Fällen jedoch nicht dauerhaft festgehalten werden können. Der Publizist Jiří Peňás spricht in seiner Rezension zu diesem Roman ausdrücklich vom „Schlittschuhlaufe übers zwanzigsten Jahrhundert hinweg“, wobei er den Hang zur Vereinfachung und Oberflächlichkeit herausstellt, den der Autor in seinem (auto)biografischen Werk über die Nachkommen des regelrecht mythisch dargestellten Ukrainers Jefim Berezinko nicht bezwingen konnte. Der Nachhall eines zeitübergreifenden und philosophischen Gleichnisses darüber, dass Mannhaftigkeit und Heldentum, die Übermacht patriarchaler Beziehungen in der Welt, richtungweisend seien, hat schon im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts seine Gültigkeit eingebüßt und sich in ein tragikomisches Herumirren verwandelt, in ein Resignieren männlicher und weiblicher Protagonisten, was die Erfüllung in einem freudigen und sinnvollen Leben angeht. Der Autor bemüht sich, die vieldeutige Philosophie vom enterbten modernen Menschen mit fast allen bemerkenswerten Wendepunkten des 20. Jahrhunderts zu belegen, sei es der Erste Weltkrieg oder der Machtantritt des Bolschewismus in der Ukraine, der für Jefims Nachkommen Anlass ist, nach Europa auszuwandern, konkret ins sudetendeutsche Reichenberg alias Liberec, wo sich die Familie niederlässt, um kurze Zeit später von Hitlers Exzessen heimgesucht zu werden. Es folgt die Vertreibung aus dem Sudetenland und dann das Leben in Deutschland bzw. im New Yorker kosmopolitischen Exil. Durch die äußeren Rahmenbegebenheiten, die vom Autor gelegentlich regelrecht in Form eines brennenden Panoptikums gezeichnet werden, windet sich das pränatale Lied eines geerdeten Menschen, eines Großvaters, eines nicht zu verpflanzenden Wesens, das eigentlich auch auf mythische Weise unsterblich ist – eben jenes Jefim. Kein Wunder, dass der Leser ihm am Ende von Brycz’ narrativem Strom erneut begegnet, irgendwo in der entvölkerten Gegend nahe dem ukrainischen Tschernobyl. Während der Urvater des Geschlechts das Land nicht verlässt und zur Saga, zur Ikone wird, zu einem Heiligen, der alle Nachkommen segnet, heiratet sein Sohn Theodor in Reichenberg die Witwe eines deutschen Soldaten und bekommt mit ihr zwei Söhne: Roland und Kurt. Kurt emigriert in den Westen, Roland bleibt (der Verweis auf das Rolandslied ist offensichtlich), um mit seiner tschechischen Frau Květa die Söhne Kryštof und Vladimír zu zeugen, die man als zentrale Protagonisten von Brycz’ komplizierter „Geschichte eines Jahrhunderts“ verstehen kann.

Der Autor versucht in seinem Roman das Modell des „Romans als Fluss“ à la Galsworthy oder Tolstoi wiederzubeleben, wobei er im Unterschied zu den genannten Erzählern die Struktur des Romanstroms durch bizarre Episoden oder alltägliche Banalitäten zerschlägt. Den zeitlichen Rahmen für die Handlung bildet das komplette 20. Jahrhundert.

In der Novelle „Sloni mlčí“ (Die Elefanten schweigen) wird der Zeitrahmen durch ein einziges Jahr und die Wandlung der vier Jahreszeiten bestimmt, wobei das umfangreichste Kapitel hier die Herbstgeschichte ist. Die vier Hauptteile sind in dreiundneunzig kurze Kapitel gegliedert, Spiegelscherben oder Tagebuchnotizen, die das Zusammenleben des „ehemaligen“, „toten“ Dichters und jetzigen Angestellten einer Reklameagentur Kryštof Rybář und der Grundschullehrerin Karolína schildern. Jener Dichter ist natürlich der Autor selbst und auch die weibliche Heldin stammt aus einem Umfeld, das Brycz während seiner kurzen Karriere als Lehrer näher kennen lernte. In der Einführung der Novelle taucht eine Art absurdes, ionescohaftes Symbol einer Stadt auf, deren Ratsherren ohne einen Zweck Elefanten halten. Die seltsamen nächtlichen Geräusche, die die Akteure wahrnehmen und die offensichtlich aus den riesigen Körpern der Elefanten kommen, bringen eine eigenwillig poetische und verfremdende Note einer geheimnisvollen und in der Gegenwart demythisierten Natur, die als Deus ex machina in Brycz’ wirkliche und erdichtete Stadt eindringt, in die ansonsten reale, gelegentlich sogar als love story charakterisierte Geschichte von Kryštof und Karolína.

Die Auffassung vom Leben und von der Stadt, die beim modernen Menschen sein häufigster Rahmen ist, verschmelzen nicht nur in dieser Novelle, sondern vor allem in Brycz’ lyrischem Buch „Jsem město“ (Ich bin die Stadt) zur Gestalt eines wandelbaren, amöbenartig aussehenden, manchmal freundlichen, ein andermal feindseligen Organismus, der mit eigenen Lungen atmet und sich auf eigenen Gliedmaßen bewegt wie ein archaisches Geschöpf. Der Organismus der Stadt, die zwar eine namenlose und vielschichtige ist, hinter der man aber die sehr konkrete Vedute des nordböhmischen Most (Brüx) ahnen kann, des Ortes mit der verschobenen gotischen Kathedrale, mit der hügelartigen Erhebung des Hněvín, mit dem Farbdruck der alternden Mietshäuser aus den Zeiten der Ersten Republik, die den anonymen Plattenbausiedlungen weichen, dem Betonlabyrinth der Nichtigkeit; die Gestalt dieses Organismus kann in Brycz’ Prosagedichten archaisch-heroische sein, aber auch historisch-okkupativ und nostalgisch, unschuldig oder sündig, nahezu hollywoodartig märchenhaft, unkonkret poetisch oder auch konkret fotografisch wie bei Sudek. Ein provisorisches Zirkuszelt wird in Brycz’ Wiedergabe zu einem genauso vollwertigen Topos wie ein Friedhof, eine Kappelle, Kneipen und Krankenhäuser, heruntergekommene und verlassene Fabriken. Im Unterschied zu den ausgedehnten epischen Komplexen, in denen Brycz manchmal selbst zum Gefangenen seines eigenen weitverzweigten Erzählstils wird, sind die Textminiaturen in „Jsem město“ lyrisch in sich geschlossen und lakonisch, sie zielen mehr in die Tiefe als in die grenzenlose Weite.

Dasselbe lässt sich in gewissem Maße auch über Brycz als Verfasser von Kurzgeschichten konstatieren. Vor allem die Erzählungen aus dem Band „Miloval jsem Teklu“ (Ich habe Thekla geliebt) sind von den veränderlichen Reflexen und den schimärenhaften Facetten der Liebe und ihrer Inhaltslosigkeit durchdrungen, doch diese Elemente finden sich auch im bisher letzten Buch „Malá domů“ (Eigentor). Gleich im Vorwort verschweigt der Autor nicht, dass seine Erzählungen eine kurzweilige Lektüre sind, Aufzeichnungen des Schwadronierens und „Bafelns“ in billigen Lokalen und am Rande der Gesellschaft und der hektischen Zivilisation. Nostalgie und Retrospektive machen daraus zwar eine literarische Antiquität im Aufwind, ein melancholisches Zurückblicken darauf, was in der Gegenwart beinahe schon verloren ist, nämlich auf eine suggestive, lebendige und pointierte Handlung, nichtsdestotrotz erscheinen aber gerade in „Malá domů“ Brycz’ Virtuosität und seine ungestüme Bilderflut manchmal fast schon als Selbstzweck.

Bibliographie:

Hlava Upanišády Magil 1993 Tschechisch

Láska na konci světa VŠUP 1997 Tschechisch

Jsem město Hněvín 1998 Tschechisch

Miloval jsem Teklu a jiné povídky Hněvín 2000 Tschechisch

Sloni mlčí Hněvín 2002 Tschechisch

Patriarchátu dávno zašlá sláva Host 2003 Tschechisch

Kouzelný svět Gabriely Meander 2006 Tschechisch

Malá domů Host 2006 Tschechisch

Mé ztracené město Listen 2008 Tschechisch

Dětský zvěřinec Albatros 2008 Tschechisch

Siehe auch

Personaldaten

Herr Brycz, Pavel
Ort: Jablonec nad Nisou (Gablonz).
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Geburtsdatum: 1968-07-28
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