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Jaroslav Rudiš / Grandhotel. Praha 2006
Alois Schräg
* 12.10.1922
† 30.08.1997
Nicht dass ich mit diesen Begräbnisdingen unbedingt etwas zu tun haben wollte. Aber ich habe einfach nicht nein sagen können. Franz sah entschlossen aus. Begeistert. Und das gefiel mir an ihm. Er sah auch dann entschlossen aus, wenn er im blauen Wagerl für den Sauhaufen aus dem Hotel hockte, weil er sich den Fuß auf den Pflastersteinen am Hauptplatz verrenkt hatte. Den gesunden Fuß, muss ich betonen. Aber die Aktion mit dem Namen Alois Schräg wollte er deswegen nicht abblasen.
Und so sind wir aufgebrochen.
Das Haus zu finden, wo Alois Schräg wohnte, war nicht schwer. Wir hät-ten es vielleicht auch ohne die alte Karte von Franz gefunden. Dieses Haus stand ein Stück von der Straßenbahnendhaltestelle in einem Villenviertel, das die Leu-te Anfang des vergangenen Jahrhunderts gebaut haben, das in Schönheit erblüh-te, wie der Anfang eines jeden Jahrhunderts. Es erblühte in Schönheit, und viel-leicht sind deshalb auf allen diesen Häusern Blumen. Ich meine auf den Fassa-den und so halt. Keiner weiß, wann es in Stücke geht und von der Schönheit und den Blumen und dem Jahrhundert nichts mehr übrigbleibt als ein paar alte Fotos, Filme, Staub und abgeblätterter Verputz. Das weiß nicht einmal meine Ärztin und auch Franz nicht, die sonst fast alles wissen.
Schrägs Elternhaus stand auf einer Straße, wo Straßenbahnen fahren, auf einer, die Masarykstraße heißt. Vorher war das die Leninzeile. Und vorher die Šamanekzeile. Und noch davor Bayer Strasse. Und Siebenhäuser. Und davor Kaiser-Josef-Straße. Und noch davor Belvedere.
Schräg bedeutet schräg. Vis á vis. Aber auch merkwürdig. Abgefahren. Das, falls Sie das interessiert. Und Franz sagte, dass Alois gerade so einer war, weil er sich angeblich als kleiner Bub alle Vögel notierte, die sich bei ihnen im Garten tummelten, dreimal täglich streute er ihnen Körndln und Krümchen, gab ihnen Namen wie Rudi oder Trudi und baute ihnen eine kleine Burg aus Futter-häuschen, die noch heute im Garten der Villa steht.
Alois machte das im Alter wieder, denn man kehrt am Ende an den An-fang zurück, wie meine Ärztin zu sagen pflegt. Und so kaufte er in Hamburg jeden Tag zwanzig Semmeln, ging an der Elbe entlang und fütterte Möwen und Enten, bis er dabei einen Schlaganfall bekam. Und die Vögel flogen zu ihm und pickten ihm alle Semmeln auf, die, welche er zerbröselt in der Hand hatte, und die, welche er in der Jackentaschen versteckt hatte. Und als ihn die Leute gefun-den haben, saßen die Vögel auf ihm wie auf einem Denkmal und ließen nieman-den an ihn heran und zwickten und zwickten, bis man Feuerwehrmänner in Schutzkleidung rufen musste, die sie wegjagen. So hat es wenigstens Franz er-zählt und der muss das wissen, wenn er Alois’ bester Freund war.
Alois Schräg war nicht tot. Nur für einen kurzen Augenblick wurde sein Hirn getrübt. Als er im Spital zu sich kam, merkte er, dass er blind geworden war. Fünf Jahre saß er dann beim Fenster, mit einem Häferl Kaffee in der Hand, beim Fenster, das im Sommer und im Winter geöffnet war. Er hörte dem Ge-tümmel auf der Strasse zu und sagte Franz, dass das kein trauriges Leben sei, dass er glücklich sei, dass er einwandfrei der Glücklichste sei, und dass er sich nie gedacht hätte, wie schön die Welt sei, die man sich vorstellen kann. Und auf die Fensterbank flogen zu ihm Vögel, die er fütterte. Zum Schluss gab es soviel Schönheit der Vorstellungskraft, dass sie ihn verschüttete.
Sein Haus zu finden, war nicht schwer. Dort war Stille, die nur manchmal die Straßenbahn zerschnitt oder das Grölen der Tiere aus dem nicht weiten Tier-park. Elefanten, Affen, weiße Tiger und so. Ein paar mal war ich dort mit der Schule.
Wir standen auf dem Gehsteig vor der Villa.
"Wie lautet unsere Losung?" fragte Franz.
"Der Mensch muss dort aufhören, wo er geboren ist.“
"Vergiss das nie."
"Bestimmt."
"Was hast du gesagt?"
"Dass ich bereit bin."
"Ich werde aufpassen. Und dir den Rücken freihalten. Wenn ich so pfeife, so los los los!" Aus dem Plastiksackerl holte er ein Kaffeebüchserl und gab sie mir.
Na, klar. Ich fühlte mich gewaltig ruhig. Den Rücken deckte mir zwar ein Entschlossener, aber auch ein doppelter Krüppel, der in einem Wagerl saß mit einem lebenslänglich beschädigten Bein und einem anderen vorübergehend ver-stauchten. Aber ich ging es an. Seinetwegen. Und meinetwegen auch. Lieber im Leben wenigstens etwas tun als überhaupt nichts zu tun.
Im Garten war Ruhe. Im Haus auch. Alle waren auf Arbeit. Das checkten wir schon vorher ab.
Zum letzten Mal schaute ich mich um. Nirgendwo niemand. Ich kletterte über den Zaun und sprang in den Garten. Und dann machte ich das Büchserl auf.
"Zeig es ihm zuerst," schrie mich Franz an.
"Wie zeigen?"
"Zeig ihm einfach das Haus, bevor du ihn ausschüttest. No, dass er sieht, dass er zu Hause ist."
Ich verstand es nicht wirklich, aber ich richtete das Büchserl zu der Haus-tür.
"Herzlich Willkommen zu Hause, Alois", rief Franz.
Dann fing ich an. Ich schüttete ein bisschen von Alois zu der Tür, zum Kellerfensterchen, zu der Gartenbank und zum Schluss auch zu der Burg aus den Futterhäuschen, die viel größer war als ich. Drinnen erschreckte ich zwei Meisen. Ich streute ihn überall hin, wo es möglich war, und dachte daran, wie er selbst hier vor Jahren ebenso den Amseln, Spatzen und Tauben streute. Nur A-lois Schräg streute Körndln und Brotkrümchen und ich streue hier seine Asche.
Ich streute ihn überall hin und dachte daran, dass Franz vielleicht doch Recht hat, dass jetzt Alois wirklich dorthin zurückkehrt, wo er geboren ist. Und mit allen wieder langsam zusammenwächst. Und dass das richtig ist. Klar, ich weiß, es ist abgefahren. Aber in Hinblick darauf, was heute normalerweise im Fernsehen läuft, so ist das nur ein bisschen abgefahren. Ich habe das Gefühl, dass dies wenigstens irgendeinen Sinn hat.
Und als ich das leere Büchserl wieder zumachte und zum Zaun zurück-ging und überlegte, wie ich drüberklettern soll und mir nicht die Hosen zerreiße, bewegte sich etwas über mir. Manche Sachen sieht man, ohne sie zu sehen. Ich schaute zum Himmel. Am Himmel schlängelte sich eine Wimper. Sonst nir-gendwo nicht einmal eine Wolke. Sie hing ungefähr zehn Kilometer oben. Eine Wimper in Bewegung zu sehen, ist nicht ohne. Wimpern bewegen sich, aber so irgendwie bewegungslos, fast unsichtbar, wenn ihr mich versteht, nur ein wenig, wie vielleicht Menschen, die beim Begräbnis stehen. Die bewegen maximal ihr Gesicht. Und um ein Begräbnis ging es auch in diesem Fall. Also, im Fall na-mens Alois Schräg.
Und dann passierte es. Ich beobachtete die Wimper und bemerkte, wie sich ein kleines Stückchen von ihr löst und abfällt. Und ich sah, dass das Stück-chen nicht nach unten fliegt, sondern, dass es nur langsam hinunterschwebt, dass es ebenso langsam fällt wie die abgeschnittenen Haare von Mamas Kundinnen, wie Haare, die Sie nur so zwischen den Fingern halten und dann dem Wind ü-berlassen. Und ich fühlte, dass das der Augenblick ist, wann die Zeit stehen bleibt, und ich schloss vor dieser Schönheit die Augen und wünschte mir, dass das nie aufhöre, dass diese Wimper bis nach unten falle und uns alle verschlin-ge.
Aufgeweckt hat mich erst Franz.
Ich stellte fest, dass sich nicht nur über mir und in mir, sondern auch hin-ter mir etwas bewegte.
Franz pfiff rasend nach mir. Wenn auch rasend in seinem Fall vielleicht nicht das richtige Wort war. Er pfiff einfach. Und hustete dabei abwechselnd.
Ich drehte mich um.
Dort stand ein Hund. Das hatten wir nicht gecheckt.
"Hündchen, kleines, braves," flüsterte ich.
Aber das Hündchen war nicht besonders klein und auch nicht brav. Ihm glänzten die Augen. Er knurrte und stand vor mir. Es war ein schöner Hund. Ein deutscher Schäferhund, der ein tschechisches Haus bewachte, das früher ein deutsches war. Diesen Zustand der Welt bezeichnet meine Ärztin als Paradox. Zumindest weiß ich schon, was das genau ist, denn ich wurde gezwungen, die-ses Paradox auszukosten. Es komplett zu erleben.
"Fleischman, lauf!" befiel Franz.
Das nennt man rechten Rat zur rechten Zeit. Selbst wäre ich darauf wahr-scheinlich nicht gekommen. Trotzdem blieb ich auf der Stelle stehen. Schließ-lich hat das auch nicht schrecklich wehgetan. Der Hund biss mich nicht, nur sprang er mich an, stützte sich mit den Pfoten auf meine Schultern und leckte mir das Gesicht ab. Der Duft war nicht besonderes.
Wir gingen ins Hotel zurück. Ich schob Franz in seinem Wagerl. Er schlief ein. Im Schlaf lächelte er zufrieden und auf dem Schoss hielt er das leere Kaffeebüchserl.
Bei der Rezeption trafen wir Patka und Jegr. Jegr kaufte bei ihm das nächste Flascherl glücklichen Lebens. Und Patka wollte auch Franz eine andre-hen, weil es angeblich für jedes Problem ist, auch für beschädigte Beine und kranke Seelen. Aber Franz stieß ihn nur mit dem Stock zurück. Und im Zimmer gab er mir 50 Euro. Sollte es euch interessieren.
Übersetzung: © Pavlina Amon/ Immanuel Teichgräber
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