Das letzte Pferd Pompeis

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PAVEL VILIKOVSKÝ

Die ersten zwei Kapitel des Romans

PAVEL VILIKOVSKÝ 1

Das letzte Pferd aus Pompeji 1

ANSTELLE EINES PROLOGS 2

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Das letzte Pferd aus Pompeji

Aus dem Slowakischen von Stephan Teichgräber

Nach langer Pause sah ich wieder mein Pompeji: es scheint mir, dass ich in die Jahre meiner Jugend zurückgekehrt bin. Es scheint mir, dass das, was ich damals als Jüngling getan habe, auch jetzt schaffen kann und dass ich das erst vor kurzem tat…

Seneca

ANSTELLE EINES PROLOGS

In einem kleinen Dorf nahe den Fichten bestandenem Berge steht ein schönes ge-mauertes Haus. Es ist das Haus von Frau Tereza, einer Witwe, die dort mit ihrem Sohn lebt. Das Haus, das dort im grünen Tal leuchtet, hat seine Gestalt seit den ver-gangenen Zeiten des Kapitalismus sehr häufig verändert und wurde immer schöner und fröhlicher. Obwohl Frau Tereza nicht gerade den besten Sohn hat, der die Frei-heit, in der er lebt und um die tausende arme und arbeitslose Leute gekämpft haben, zu schätzen wüsste. Unablässig rügt sie ihn und erzieht ihn gewissenhaft im Geiste des Sozialismus. Sie ist eine alte Kämpferin für die Menschenrechte und kämpfte lange Zeit an der Seite ihres Mannes, der leider die errungene Freiheit nicht genie-ßen konnte. Alle Bürger des Dorfes hatten sie gern und folgten ihr gespannt, wie ge-wissenhaft sie den festgelegten Plan erfüllt.

Jetzt sitzt sie in der Küche und flickt die Wäsche. Sie denkt ständig an die Vergangenheit und ihre Gedanken verbindet sie mit vielen Sorgen. Im Ziegelofen geht das Feuer aus, und gerade als Frau Tereza aufsteht, um Kohlen nachzulegen, erscheint in der Tür die verstörte Nachbarin und lässt sich über den Postbote mit un-schönen Schimpfworten aus. Es ist ein junges fünfundzwanzigjähriges Weibsbild, voller Energie und selbstbewusstem Zorn. Mit ihrer Stimme versucht sie bei Tereza Trost und Erklärung zu finden, warum ihr der Postbote mehr Geld als gewöhnlich für die Elektrizität abkassiert hat. Ganz rot vor Wut wartete sie auf die Antwort Frau Te-rezas, in der Zorn und Hass auf ihre Nachbarin von Anfang an kochte. Der unschul-dige Blick der Nachbarin ließ ihr die Nerven durchgehen und sie schrie: „Raus!“ Die erzürnte Nachbarin, die ihren Ohren nicht glaubte, drehte sich um und schlug mit Entsetzen die Tür zur Veranda der erregten Tereza zu, die fieberhaft auf ihrem Stuhl rotierte, aber nach einem Blick auf die Uhr zur Arbeit aufbrach. Auf dem Weg belastete ihr die junge und verrückte Bürgerin das Hirn, der sicher niemand von dem großen Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus erzählt hatte. Vermutlich weiß sie nicht, dass ihr Vaterland ihr das Recht auf Arbeit, auf Ruhestand und Lohn gibt? Wahrscheinlich sehnt sie sich nach dem Westen, nach voller Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut? Sie denkt vielleicht, dass man ihr Luft zu fächeln wird, dass man ihr die besten Speisen bringt, und ob... Ach, genug! Dieses Gedankenknäuel beginnt eine neue Geschichte, über die Tereza schon soviel Male nachgedacht hatte, sie versuchte es ihrem Sohn auszutreiben und schau, schon hängt ihr ein anderer Mensch am Hals, der diese Geschichte nicht kennt, der nicht den Kampf des Großvaters für die Freiheit kennt, dessen Sieg vor ihm auf dem Tisch liegt und der seitenlang Rechte hat, die ihm erlauben, das Leben zu verbessern. Tereza vertrieb die Gedanken, setzte sich auf ein niedriges Stühlchen und begann mit der Arbeit.

Kaum war Tereza weggegangen, kam ein Häuflein sechzehnjähriger Bur-schen in die Wohnung. Alle setzten sich auf das Bett und begannen genüsslich ein vergnügtes Gespräch. Natürlich steckten sie sich Zigaretten in den Mund, damit sie wie Männer aussehen, und aus ihren Mündern drangen wilde Lieder, die sie allmäh-lich in einen verrückten Tanz versetzten. Der Sohn Frau Terezas war genau ihr Ge-genteil. Mit Freude bewirtete er die Freunde, die nicht mehr genau sahen, was vor ihren Augen war und den nicht geleerten Weinflaschen keine Ruhe ließen. Als sie meinten, dass es reichte, erschien in der Tür die überraschte Mutter und brach ver-zweifelt ihren Sohn anschauend in Weinen aus. Der halbbetrunkene Jožo schüttelte den Kopf und sagte dabei der Mutter wiederholt folgende Worte: „Mama?! Morgen machen wir einen Ausflug.“ „Ach, mein lieber Sohn, was hast du? Die Schwester ist Ingenieurin, der ältere Bruder Doktor und du? Was wird aus dir?“ Tereza fasste sich verzweifelt an den Kopf. Als die betrunkenen Burschen gegangen waren und Jožo sich hingelegt hatte, setzte sich die arme Tereza an den Tisch und schrieb dem Sohn dieses Brieferl:

Wenn du morgen fährst, verlierst du mich! Mama.

Wer weiß, was die ratlose Tereza im Sinne hatte, aber nach langem Grübeln legte sie sich ins Bett und schlief fest ein. Der Morgen brach an und aus dem Bett stieg der schlaftrunkene Jožo. Als er in die Küche kam und sich mit den Händen die Augen rieb, reckte er sich sorgfältig in der Taille und trat mit Bestürzung an den Tisch, der in der Küchenecke stand, und peilte den merkwürdigen Brief an. Gleich nach dem Durchlesen der Nachricht der Mutter, lachte er gleichgültig, winkte mit der Hand ab und packte langsam seine Sachen für den Ausflug. Pfeifend verließ er das elterliche Haus. Gerade als Frau Tereza nach Hause kam und überrascht den Sohn suchte, setzte sich der verantwortungslose Jožo in den Zug und ähnelte, im Mund eine Zigarette, den anderen Sprösslingen. Alle lachten laut und verstreuten lustig im Wagencoupé dumme Bemerkungen. Jožo, der sehr oft mit Mutters Geld Kavalier spielte, verstummte erst, als der Schaffner ins Coupé trat und die Fahrkarten verlang-te. Die anderen Burschen hatten sie und nur allein Jožo zwang der Schaffner, Strafe zu zahlen. Der Flüchtling tastete in den Taschen herum, aber umsonst. Es wollte ihm irgendwie kein Geld in die Hände kommen und ob er wollte oder nicht, er verließ un-ter dem schadenfrohen Gelächter der sogenannten Freunde den Zug.

Als er aus dem Zug stieg, sich mit wahnsinnigem Schritt entfernte, damit er nicht die Zielscheibe des Spottes von zig Leuten wurde, die sich aus den Fenstern herausstreckten. In seinem Kopf liefen verzweifelte Gedanken ab, die mit unglückli-chen Gefühlen und Leidenschaften gemischt waren. Mal lief er, mal stand er, doch plötzlich zog ihn etwas. Das Brieflein, Mutters Brieflein tauchte immer lebendiger in seinen Gedanken auf und eine halbe Stunde lief er sinnlos an der Eisenbahn ent-lang. Es wurde Abend und Jožo hatte noch nicht einmal ein Viertel des Rückweges hinter sich. Er war verzweifelt und beschloss aus dem Vaterland zu fliehen. Er schleppte sich in die umliegenden Berge und, von dem Weg erschöpft, versank er in sorglosen Schlaf. Nach dem Anbruch des Morgens schickte sich der müde Jožo an, seinen konfusen Plan zu verwirklichen. Er hatte ein bisschen Gefühl, aber nur das notwendigste, das Gefühl für die Mutter. Das Gefühl, wodurch er auf der heimatlichen Erde steht, frei auf ihr ohne Hunger und Not lebt, kannte er nicht. Blind jagte er auf die feste und steinige Straße, die in die Granitwelt – den Kapitalismus – führte.

Es sind drei Tage vergangen und die arme Tereza hofft, über dem Tisch Trä-nen vergießend, weiter auf die Rückkehr Jožos. Im Schlaf stellt sie sich ihren Sohn lebhaft vor, wie er für armseliges Geld schwitzt und wie er in Staub und Schmutz ei-ner Großgrundbesitzerfabrik um Luft ringt.

Es ist ein heißer Sommernachmittag und vor der Fabrik des alten Fabrikanten Baries stehen Hunderte Leute, die auf Arbeit warten. In die ersten Reihen schlägt sich Jožo durch. Um jeden Preis bemüht er sich, dem Fabrikanten unter die Augen zu kommen. Zehnmal zeigte Baries mit dem Finger an Jožo vorbei, der zwei Stunden lang in diesem riesigen Haufen stand und keine Arbeit bekommen hatte. Erst jetzt bemerkte er seinen Fehler, doch war es schon zu spät, ihn zu korrigieren. Darum brach er ganz bekümmert zu einem Streifzug durch die Stadt am Tage auf. Er ging, sein Glück in einer anderen Fabrik zu probieren. An den Ecken der Straßen saßen alte, auf die Straße gesetzte Bettler, schwache und klägliche Alte, die um ein Stück Brot oder um ein paar Heller baten. Jožo ging durch Straßen mit verschiedenem Aussehen. Die Straße und die Häuser der Adligen ragten durch die von den Händen der armen Arbeiter geschaffene Schönheit hervor. In der Nacht brachten sie dank der Petroleumlampen feine Nuancen hervor. In diesen schönen Vierteln spazierten die Söhne reicher Adliger in Lederjacken, kifften teure Drogen, durch die sie lang ersehn-te Träume träumten und sich die Gesundheit ruinierten. Jožo seufzte und sprach zum ersten Mal in seinem Leben solch ein schönes und wohlklingendes Wort aus – Sozia-lismus. Das Wort Kapitalismus klang in Jožos Geist an letzter Stelle. Als er sich wie-der in den dunklen und staubigen Gassen befand, bot sich vor ihm dasselbe Bild, das er am Stadtrand gesehen hatte. Es war eine kleinere Fabrik als die vorherge-hende, aber Leute, die sich um Arbeit bemühten, waren mehr. Jožo stand in der Nä-he des Haufens der Leute, die auf Arbeit warteten und sah auf den dicken Mann, der auf Leute zeigte, die er zur Arbeit annahm. Als er mit dem Finger auf Jožo zeigte, hüpfte der Glückliche fast vor Freude. Ganz glücklich näherte er sich seinem neuen Herrn. Ein begeistertes Dutzend neuer Arbeiter ging unter der Aufsicht des strengen Fabrikanten in die große Fabrikhalle fort. Als sie stehen blieben, hörten sie gespannt seine Worte und mit ungeduldigem Blick direkt auf den Herrn sehnten sie sich nach Arbeit. Jožo sah erstaunt seinen Vorgesetzten an und mit offenem Mund rief er einen trostlosen Eindruck hervor. Die Komödie, die der verzweifelte Emmigrant vorführte, erreichte ihren Höhepunkt. „Are you from England?“ fragte der erzürnte Mann. Jožo verstand offensichtlich, wonach er fragt, und antwortete unsicher: „Slowake.“ Der selbstsichere Mann lächelte monoton, packte Jožo am Hemd, öffnete die Tür und warf ihn hinaus. Vielleicht gefiel ihm seine Herkunft nicht? In Jožo kochte nicht das Herzweh nach Arbeit, sondern es brodelte in ihm der Hass auf den Herrn. Er wollte nach Beilen greifen und eine Fabrik nach der anderen entzweihauen, aber das war Unsinn – ein Aufschrei der Ohnmächtigkeit. Allein gegen alle? Seine Augen glänzten und die Wangen waren nach langer Zeit von Tränen feucht. Noch an diesem Tag nahm er sich vor, dass er eine traurige Nachricht nach Hause schicken muss. Der Abend brach herein und Jožo schmiegte sich an die Petroleumlampen, die Feder und das Papier. Vor Kälte zitternd, dachte er lange nach, wie er den Brief anfangen soll, aber dann entschloss er sich.

Teuerste Mutter! In erster Linie grüße ich Dich demütig und bitte um Verzei-hung. Ich bin in der Fremde, auf einem harten Boden, den man auch mit zärtlichen Worten nicht beschreiben kann. Er ist grausam und straft jeden unbesonnenen und gierigen Menschen. Ich will hier nicht bleiben, ohne Liebe sterben und irgendwo in einer dunklen Ecke einer elenden Gasse verfaulen. Ich bitte Dich um Hilfe. Dein Sohn Jožo.

Als der Brief geschrieben war, steckte er ihn in einen dreckigen Umschlag, klebte ihn zu und schickte ihn am nächsten Tag seiner Mutter. In jedem Traum unter der Petroleumlampe sah er die Beziehung zwischen Herr und Bettler, sah die Aus-beutung und die großen Vermögensunterschiede. Spürbar erkannte er die Liebe zum Vaterland, so flehentlich bat er das Schicksal, dass es ihn aus der Not reiße, damit er wieder ein freier Bürger seiner Heimaterde werde. Als er erwachte, war das erste, was er hörte, ein großer Schrei der Einwohner, die zum Streik antraten. Jožo sprang auf die Beine und reihte sich in den Haufen der armen Arbeiter ein, in die Masse, die sich anschickte, die Bänder des Kapitalismus zu brechen. Die zehntausendköpfige Barriere der Menschenmenge hob Plakate hoch und einige Individuen schrieen mit Knüppeln in der Hand verschiedene Namen, die ihnen häufig Elend gebracht hatten. Es waren dies Namen hoher Beamter und Ausbeuter. Im unzufriedenen Aufmarsch der Streikenden standen auch Kinder, die auf die Arme ihrer ängstlichen Mütter ge-stiegen waren. Gerade als sich Jožo vorbereitete, ein unflätiges Wort zu schreien, wurde er zurechtgewiesen. Irgendwo vorn schallte ein Schuss und nach ihm der ver-zweifelten Schrei einer Mutter. Es gingen ihm schreckliche Gedanke durch den Kopf, gewürzt durch verschiedene unruhige Schreie. Genau um fünf Uhr nachmittags war der Streik niedergeschlagen und seine Führer gefangengenommen. Jožo kehrte an seinen gewohnten Ort zurück und führte ein paar Tage ein noch ärmeres Leben als zuvor.

Es war Ende der Woche und über die Stufen der Post schritt der ungeduldige Flüchtling, der nervös an seinen Nägeln kaute. Kurz darauf kam er an den Schalter zur Ausgabe eingeschriebener Sendungen. Als er an die Reihe kam, sagte er seinen Namen und ersuchte die Beamtin, die langersehnte Antwort herauszugeben. Ge-spannt verfolgte er die Frau, die in einem Haufen Briefe herumwühlte und das Schreiben der Mutter suchte. „Da haben wir es!“ Bereitwillig gab sie ihn dem Ansu-chenden, dessen Hände sich nach dem Öffnen des kostbaren Briefes sehnten. Mit Freude und Spannung öffnete er ihn. Als er den Inhalt des Briefes begriff, fing er an zu weinen. Aus dem Kuvert zog er das Brieflein, das er am Schicksalstag, als er das Vaterland verließ, ignoriert hatte.

I.S. (14 Jahre): Der Fehler des Lebens des Emigranten Jožo (Wettkampf junger Talente „Li-terarisches Käsmark“ 1973)

1

Wenn du dich in die Einsamkeit zurückziehst, musst du dich nicht darum kümmern, dass die Leute über dich reden, sondern dass du mit dir selbst sprichst. Worüber aber wirst du reden? Darüber, was die Leuten nur anderen gegenüber tun, verleumde dich selbst bei dir: du gewöhnst dich dran, die Wahrheit zu sagen und auch sie zu hören.

SENECA

Ein Ochsengesicht, ohne beleidigen zu wollen. Aber warum habe ich mich er-schreckt? Dass es so plötzlich auftauchte? Oder vor dem Gedanken? Das schwere, massive Gesicht eines Ochsens; für etwas so ausgedehntes ist vielleicht auch schwer ein Ausdruck zu finden, der verständlich ist und auf allgemeine Zustimmung stößt. Ein Gesicht, das an den Schädel wie ein Geschwulst angewachsen ist.

Aber wovor habe ich mich erschreckt? Nicht vor dem Gedanken, ich bin nicht so jung und ich habe es schon geschafft, verschiedene Sachen auszudenken; beim Denken gilt kein guter Geschmack und keine Erziehung. Ich stellte mit vor, was ich sah. Das Gesicht, dem trotz aller Größe irgendwie ein Bein fehlte. Meins. Ich er-schreckte vor dieser Leere, dass ich es nicht sah.

Es standen dort vor dem Hotel einige Menschen herum, einer, zwei, schon ei-nige Tage, aber ich beachtete sie nicht. Das Hotel, obwohl in Reichweite, war eine andere Welt. Personen mit Transparenten, aber ich bog jedes Mal rechts ab. Es ist meinerseits grausam, dass sie in mir keinerlei Neugierde weckten.

Jetzt war Sonntag und wer weiß warum, vielleicht im dem Vorgefühl, dass ich weggehe, empfand ich an der Ecke das Hotel als ein Manko. Ein Nachbar, und ich werde ihn nicht einmal ansprechen? Eigentlich war ich die ganze Zeit noch nicht im Hotel gewesen, und wenn Sonntag ist, sollte man den Tag zu etwas besonderem machen. Ich wusste, dass Hotels in Parterre eine eigene Bar haben, aber darum geht es nicht; ich dachte an etwas anderes und drehte, ohne mich umzusehen, um. Fünf Schritte, sechs... Auf dem Weg sah ich, wie schon einmal, nicht den Mann an, dass er nicht zufällig dachte, dass ich ihn anschaue. Bevor ich auf den Fußweg trat, las ich das Transparent, das er in der Hand hielt. Do not patronize this hotel. Nehmen sie nicht die Dienste dieses Hotels in Anspruch, sagen wir mal. Das verwirrte mich, eher hätte ich erwartet, das er bettelt oder ein neues Haarshampoo propagiert, und bald hatte ich mich auch damit abgefunden.

So ein Gesicht! Ein Gesicht, das ihm wortwörtlich über den Kopf hinaus wuchs, mit dem er sich überhaupt keinen Rat wusste. In Bratislava würde ich mir zu einem solchen Gesicht eine Legende ausdenken, und nicht, dass sie ganz unglaub-würdig wäre, sondern ganz abseits; aber ich würde es mir trauen. Das ist zu Hause, dahat man den Mut, fehlende Geschichten zu Ende zu erzählen.

Ich dachte an etwas anderes, gerade, und der Gedanke flog in das Gesicht wie unter ein Auto. Ich dachte an den Titel der Arbeit, den sich für mich Professor Okey-Dokey ausgedacht hatte: Elemente des slawischen Gemüts im Werk Joseph Conrads; eigentlich dachte ich nicht nach, denn ich hatte ihn, wie schon tausendmal zuvor, vergeblich im Mund wie einen Schnuller durchgekaut und plötzlich öffnete er sich mir vor den Augen in seiner ursprünglichen Bedeutung: Okey-Dokey dachte, dass ich ein Slawe sei! Darum wählte er für mich als Arbeit solch eine Aufgabe, solch einen Titel! Ich erschrak, aber das war nur der erste Schreck, weniger, das Missver-ständnis, dessen ich mir in dem ganzen dreiviertel Jahr nicht bewusst wurde; für ei-nen Augenblick hielt ich inne, lediglich nur, um mich im Geiste auf den Fersen umzu-drehen und sofort und zugleich zu beginnen, die Sache ins richtige Lot zu bringen. Der eine hilft sich mit Zähneknirschen, ich mit diesen Vorstellungen... Also bekam ich den nächsten Schreck, einen wirklichen: Das habe ich mir doch gedacht! Als ob ich beim Rasieren im Spiegel das andere, entgegengesetzte Geschlecht entdeckt habe. Solange lebe ich schon mit ihm und erst jetzt! Reflektierend hob ich das Haupt, als ob ich wieder in den Spiegel schauen wollte, um mich zu überzeugen, und ich sah vor mir dieses Gesicht. In London war es ein unwiderruflich leeres Gesicht; im Spie-gel meins. Was will von mir dieser Slawe? Damit ich bekenne, dass ich bisher im Irr-tum lebte, dass ich mich von Anfang an überbewertet habe?

Wirklich, was wollte er eigentlich? Ich war von ihm drei Schritte entfernt, für meinen Geschmack ein bisschen zu nah. Ich schämte mich, plötzlich die Richtung zu ändern, aber auf diesem Fußweg war nichts außer dem Hotel. Soll ich ihm ein paar Münzen hinwerfen? Aber er bettelt doch nicht; hat keinen Hut, keine Schuhschachtel. Appelliert er an das bekannte slawische Gemüt, meines und Conrads? Und wie soll sich dieses slawische Gemüt äußern? Dass ich ihm gehorche und das Hotel weit umgehe? Zu spät, aber wenn auch, das wäre eindeutig englisches Gemüt, wendete er sich doch mit dieser Tafel vor allem an Britten: die Aufschrift war auf Englisch, nicht in einer slawischen oder einer anderen Sprache.

Das fesselte mich. Ich bin doch ein Profi, nicht war? Ein Fachmann für Ele-mente des slawischen Gemüts in Werken und im Leben. Nach den drei Schritten hat-te ich das slawische Gemüt schon ausgebrütet. Das slawische Gemüt war, wenn ich trotz des Burschen mit dem Transparent in das Hotel ginge, eines der schönsten Zimmer mietete, mich einquartierte, dann in den Speisesaal hinabging, mir ein reich-liches Mittagessen genehmigte, ein Gläschen Whisky, oder noch lieber eine Flasche Sekt, und plötzlich würde ich aus dem nichts heraus den Kellner, den Mann an der Rezeption oder den Schichtleiter laut als Ausbeutersäue beschimpfen, als Blutsauger und kapitalistische Swolotsche. Danach würde ich mich ruhig, als sei nichts gewe-sen, in mein Zimmer begeben, um fernzusehen. So irgendwie würde das slawische Gemüt aussehen, wenn für dieses den Slawen in London nicht die materielle Grund-lage fehlte.

Fröhliche Verzweiflung: wenn das neuerworbene Geschlecht schon da ist, wa-rum sollte ich nicht mit ihm spielen? Ich bin kein Rassist und an das slawische Gemüt glaube ich nicht mehr als an slawische Ohren, aber als Professioneller weiß ich, dass das gerade so etwas unkoordiniertes, unverständliches, aber großartiges wäre; ein reiner Schrei ohne Widerhall, eine unleserliche Aufschrift über eine ganze Wand. Ir-gendeine praktische Wirkung, irgendeine Veränderung in der realen, materiellen Welt würde diesen Akt wie das Gemüt nicht entwerten. Wenn es irgendetwas wie das sla-wische Gemüt überhaupt existierte – womit ich nicht sagen will, dass es nicht exis-tiert, für irgendjemanden, ich aber lehne es ab, mein Gemüt kennzeichnen zu lassen.

Dieser Mensch vor dem Hotel verwirrte mich. Das Transparent hatte auch auf der anderen Seite eine Aufschrift, als ich durch die Hoteltür ging, drehte der Bursche sie zu mir. Protest against victimization. Das habe ich nicht einmal richtig verstanden. Ich verstand, dass man ihn abscheulich betrogen hatte, aber was ihn konkret heim-gesucht hatte, das konnte ich nicht dechiffrieren. Es wäre dumm, ihn zu bemitleiden, ohne zu wissen, wofür; es wäre auch menschlich dreist. Schließlich steht er seine Zeit ab und geht nach Hause; isst sein Sonntagabendessen, trinkt zwei Bier und nach den Abendnachrichten schläft er mit seiner Frau. Mein Schicksal ist schlimmer. Bald endet mein zehnmonatiges Stipendium, das ich zur Erforschung der Elemente des slawischen Gemüts im Werk Joseph Conrads bekommen hatte, und es läuft auch meine Aufenthaltserlaubnis ab. Abends kehre ich in das Zimmer zurück, in dem ich schon fast ein dreiviertel Jahr die Zeit alleine verbringe. Ich grüße den Portier, ein paar Worte verlor ich auch mit der kroatischen Putzfrau, aber die einzige Bezie-hungsperson ist Professor Okey-Dokey, und der verachtet mich taktvoll. Er machte für mich, was möglich war: er dachte sich die Arbeit über das slawische Gemüt im Werk Joseph Conrads aus und organisierte dazu ein zehnmonatiges Stipendium. An das slawische Gemüt glaubten er sicher nicht mehr als ich, auch wenn er das vor mir nicht zeigte; ich ja auch nicht vor ihm. Er benahm sich mir gegenüber zerstreut herz-lich wie ein Mensch, dem in zwei Minuten der Zug abfährt. Eigentlich fuhr aus seiner Sicht mir der Zug ab. So oder so, es war das Verhältnis von zwei Menschen auf dem Bahnsteig.

Ich begann es zu begreifen. Elemente des slawischen Gemüts! Es ging nicht darum, dass Professor Okey-Dokey kein prächtiger Mensch wäre, aber auf Unwahr-heit, wenn auch einer gemeinsamen, ließ sich keine vollwertige Beziehung aufbauen. Okey-Dokey war ein intellektuelles Raubtier, und mir zuliebe ließ er von seiner Raubgier ab, als sei es nur eine geborgte Bärenhaut, in der er für Fotografen posier-te. Er verübelte sich in Gedanken das intellektuelle Zugeständnis, zu dem ich ihn ge-zwungen hatte. Er vollbrachte eine gute Tat, sogar um den Preis eines schweren Kompromisses, und befreite sich damit von mir menschlich. Er forderte von mir keine Dankbarkeit, war höflich, ja auf gewisse ungeduldige Weise auch leutselig, aber er-wartete, dass ich wenigstens auf dem Papier an das slowakische Gemüt glauben werde, aber wegen dieser intellektuellen Unehrlichkeit – unserer gemeinsamen Un-ehrlichkeit – verachtete er mich. Vielleicht verachtete er sich selber, aber vor mir prahlte er nicht damit, und so gut, dass ich das herausfinden konnte, kannte ich ihn noch nicht. Und vielleicht schätzte er mich darum nicht, weil ich meine Probleme nicht selbst und dort lösen konnte, wo sie in Wirklichkeit lagen, also zu Hause. Viel-leicht wollte er mich mit dem Thema des slawischen Gemüts unauffällig in meine slawischen Schranken weisen. Oder ich war vielleicht nur auf unsere Beziehung fi-xiert, wenn ich seine englische Standardhöflichkeit so las; vielleicht war das ganze slawische Gemüt nichts anderes als eine Beziehungsfixiertheit. Sei es nun, wie es wolle, ich war plötzlich neugierig, ob ich in mir zu diesem Burschen vor dem Hotel irgendein Gefühl wachrufen könnte. Mein eigenes Gefühl, mit meinem Monogramm. Ich weiß nicht, warum meine Neugierde gerade an ihm hängen blieb. Er stand dort, und plötzlich... Er stand schon eine Woche dort und bot mir seine Geschichte an, und ich habe ihn nicht einmal wahrgenommen. Er bat mich, dass ich dem Hotel aus dem Weg gehe, und solange ich nicht davon wusste, ging ich ihm auch aus dem Weg; jetzt gehe ich hinein. Wollte ich mit diesem Gefühl ihn um Verzeihung bitten? Aber Gewissensbisse sind ein Gefühl zu sich selbst, mit ihnen erforschen wir uns selbst, nicht den anderen.

Ich war lange allein. Nicht dass ich klagte, im Gegenteil. Mir gefiel das. Ich war nicht von Gegenständen oder Menschen in Beschlag genommen, überall traf ich auf mich selbst. Jedoch wenn ich überall war, war ich eigentlich nirgendwo; als ob ich auch nicht wäre. Ich konnte das nicht auseinanderhalten. Bis ich vor meiner Zufrie-denheit, diesem guten Domizil, ein wenig Angst bekam: was ist, wenn ich mich daran gewöhne? Was ist, wenn ich wieder jemand sein muss? Werde ich das noch kön-nen? Professor Okey-Dokey war ich dankbar, und das fesselte mir die Hände. Ich konnte nicht frei über ihn als Menschen nachdenken. Er war nicht vollkommen. Er bezeichnete sich, im Verhältnis zu mir, als Wohltäter, und war übrigens damit aus dem Spiel. Ich überwand mich nur dazu, dass ich ihn aus Boshaftigkeit oder Trotz – aus Dankbarkeit sicher nicht – in Gedanken Okey-Dokey nannte, denn ich wusste, dass der falsche amerikanische Frohsinn dieser Zustimmung ihn genauso wie mich im Innern anekeln würde.

Die Eingangshalle, dunkel und still, als hätte sie sich vor meinem Kommen ausgehustet. Ich brauchte nicht den Hinweis, ich wusste es im Voraus, dass mir das Hotel einige Nummern zu groß sein wird, freilich wusste ich auch, dass Bier an Hotel-theken nicht viel teurer ist, als in normalen Beisln. Ich ging also durch die Glasflügel-tür zur Theke – aber im Slowakischen ist dieses Wort störend, bleiben wir lieber bei der englischen Bar, denn es war ein geräumiger Salon mit weichen Plüschfauteuils und Sofas. Es wunderte mich nicht einmal, dass er leer war, nur auf dem Sofa vor dem Fernseher saß irgendein Kerl. Ich wusste nicht, ob die Leere dem Mann mit dem Transparent zuzuschreiben war, oder dem Sonntagnachmittag, aber beide Gründe waren gleich gut; ich fühlte nur, dass allein im Beisl sein, heißt, doppelt allein zu sein. Gleich danach freute ich mich über den neuen, unerwarteten Blick auf den ganz be-kannten Fußweg, auf den kleinen Platz mit dem Park; als ob ich hinter dem Vorhang hervor auf meinen eigenen Hinterkopf schaute.

Ich krabbelte auf den hohen Barhocker und bat die Frau hinter dem Pult um Bier, doch sie hatte irgendwelche Probleme mit den Röhrchen. Sofern ich sie richtig verstanden habe, und ich verstand sie fast überhaupt nicht, waren sie verstopft, oder in ihnen fehlte der Druck. Nach dem Bier sehnte ich mich nicht, war es doch nur die Eintrittskarte zum Besuch des Hotels, und so schüttelte ich den Kopf, als sie mir Fla-schenbier anbot, denn ich trinke nur gezapftes Bier; draught beer heißt das auf eng-lisch. Die Frau (ich kann sie nicht Bardame nennen, denn mit dem weißen Häubchen und der Schürze sah sie familiär aus wie ein Hausfrauchen, das vom Sonntagmittag-essen fortgelaufen war) versprach mir, das ihr jeden Augenblick jemand zu Hilfe kä-me, doch als Zeichen der Bereitwilligkeit kroch sie selbst unter das Pult und rüttelt dort an etwas, aber ohne große Überzeugung, eher nur um mir zu dokumentieren, dass sie mich nicht täuscht. Der Lärm und das laute Reden weckten den Herrn am Fernseher, er sah sich um und kam zu uns. Es war ein Gentleman mit einem wei-chen wollenen Anzug mit Streifen – unter „weich“ verstehe ich jene Zerknautschtheit, die in England ein Zeichen von Qualität ist. Ein Gesicht hatte er wie ein mäßig gebra-tenes Äpfelchen – nicht gerötet von der Innenheizung, nicht am Strand gebräunt, sondern als ob er Jahre im Zugwind auf einem Leuchtturm verbracht hätte – und auch so gerunzelt. Die aschgrauen Haare waren offensichtlich einmal blond, doch vielleicht hatten sie auch ans Rotwerden gedacht, aber sich es dann anders überlegt. Der Herr bot dem Problem die Stirn. Er zog gleich das Sakko aus, krempelte die Hemdsärmel auf und verschwand hinter dem Pult. Manchmal bat er die Gastwirtin von unten herauf um etwas – ich verstand ihn nicht, aber sah, dass sie ihm ein Mes-ser gab, dann irgendeinen Draht oder eine Spange und noch etwas kleines, das ich nicht erkennen konnte.

Verstopfte Bierröhrchen, das war eine Tragödie wie für einen Sonntagnachmit-tag genäht, die passte wie angegossen. Ich saß einstweilen auf dem hohen Stockerl, baumelte mit den Beinen und dachte über die Einsamkeit des Burschen vor dem Ho-tel und über die Einsamkeit von uns dreien dort drinnen nach. Der Bursche draußen war nicht wirklich einsam. Er war nur allein, und auch das nicht ganz, denn er hatte ein Transparent. Bald kommen sie ihn ablösen, so wie er einen anderen abgelöst hat. Und dieses leere Gesicht...ist das Loch, das er zurückließ, dieses leere Gesicht ist weggegangen, um nicht zu stören. Er steht dort nicht seinetwegen, sondern für eine Sache. Die Frau hinter dem Pult sah vielleicht einsam aus, besonders als sie auch noch der Druck in den Röhrchen verließ, aber in Wirklichkeit konnte sie nicht einsam sein, denn ihr Gehalt lief die ganze Zeit. Der Gentleman konnte sich einsam fühlen, als er ins Fernsehen gaffte, aber das war vor einer Weile; jetzt hatte er schon Bekanntschaft mit den Röhrchen gemacht, auch mit der Bardame tauschte er ein paar Sätze aus, und überhaupt, ein tatkräftig beschäftigter Mensch kann nicht ein-sam sein. Und schon sind wir daheim! Der einzige wirklich einsame Mensch hier bin ich, und gerade ich unterstehe mich, die Einsamkeit anderer zu bedauern.

Um die Wahrheit zu sagen, bis jetzt war auch ich nicht einsam, denn ich war mit mir selbst zusammen, eine Gesellschaft, von der ich nicht genug haben kann. Einsam begann ich mich erst zu fühlen, als ich gegen meinen Willen im Spiel, unter Menschen, war. Vor diesen Menschen tauchte ich auf, hatte eine Gestalt, einen Aus-druck; es genügte wenig, und sie werden dir Eigenschaften zuschreiben. Ich wäre am liebsten beinah weggegangen, aber war das möglich, wenn sich der ganze Zirkus mit den Röhrchen eigentlich meinetwegen abspielte?

„Fertig“ erklärte der Gentleman, staubte sich die Hände ab und zog sein Sak-ko an. „Und geben sie uns gleich zwei Bier, damit wir das ausprobieren.“ Ich weiß nicht, ob ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen war, aber er begann das expansive Wohl-wollen eines Arbeitsmenschen anzunehmen. Er nahm das alles auf sein Leiberl: ar-rangierte für mich das Bier und bezahlte es mir auch, gleich dort am Pult. Dann nahm er beide Gläser und trug sie zum Tischchen vor dem Fernseher. Und so kam ich für ein Bier um meine Unabhängigkeit. Von der Bar zum Fernsehgerät waren es viel-leicht zehn Schritte, und nach jedem fiel ich immer tiefer in Einsamkeit. Alleinsein, das ist reine Mathematik, man braucht keinen Finger zu rühren, aber Einsamkeit ver-langt aktive Bewusstseinsarbeit. Das typische slawische Gemüt, dachte ich, senti-mental sich von dem Hotel verabschieden gehen, wo wir uns gegenseitig ein dreivier-tel Jahr glücklich ignoriert haben, und in einem zwischenmenschlichen Marasmus stecken bleiben. Und noch typischer sich zu unterfangen, seine Nächsten zu bedau-ern und im Selbstmitleid zu enden.

„Cheers,“ sagte ich und hob das Glas, damit wir das schnell hinter uns haben. Vor uns lief der Fernseher leise vor sich hin, wie ein nicht zugedrehter Wasserhahn. Ich schaute ihn an, denn ich wollte nicht meinen Nachbarn ansehen, als ob ich von ihm etwas erwartete. Auf dem Bildschirm rannten weiße Gestalten.

„Wissen sie, was sie dort spielen?“ fragte mich mein neuer Bekannter.

„Kricket wahrscheinlich,“ erwiderte ich, „aber ich gestehe, dass die Regeln für mich ein Rätsel sind. Ich bin nämlich kein Engländer.“ Ich nahm an, dass er einem solchen Zuspiel nicht widerstehen kann und mir beginnt sie zu erklären, und obwohl mich die Regeln von Kricket nicht ein bisschen interessierten, war das noch nicht die schlimmste Aussicht; mir schien es, dass ich einer solchen unpersönlichen Form des Gesprächs mit heiler Haut entkommen könnte.

Jedoch die Regeln kamen nicht. „Ich bin entsetzt,“ sagte der Gentleman. Er erklärte das keineswegs dramatisch, er saß weiter auf dem Sofa vorn übergebeugt und in seinen gefalteten Händen hing das Glas Bier wie in einem Halter; wenn auch mit Lachen, aber er war entsetzt. „Nicht das mich Kricket besonders interessierte, ich schaue es mir nur an, dass dort etwas läuft. Damit sie mich verstehen, Kricket ist für mich etwas völlig selbstverständliches, ich habe es selbst irgendwann einmal ge-spielt, in der Schule, aber vielleicht gerade darum habe ich es niemals richtig wahr-genommen. Erst heute wird mir bewusst... Sehen Sie, was ich meine? Es reicht eine Weile da zuzuschauen und sofort ist klar, dass das Ende dieser Zivilisation unaus-weichlich ist.“

Das überraschte mich: Ein Engländer, der so übertreibt! Ein bisschen berührte mich auch, dass ich aus meiner Position des höflichen Desinteresses an Kricket mich plötzlich tief im Hinterland befand; als ob mich jemand in der Reihe überholt hatte. Warum gleich das Ende der Zivilisation? Und das sagt ein Mensch, den es vor einem Weilchen nicht ekelte, die Bierröhrchen zu reparieren!

„Ja,“ sagte ich vorsichtig, „es ist richtig, dass dieses Spiel, diese Unterhaltung auf dem Bildschirm ein bisschen, sagen wir, im Kontrast zu dem Burschen dort drau-ßen vor dem Hotel steht, ich weiß nicht, ob Sie auf ihn geachtet haben. Auf der einen Seite ein Mensch, der, wenn ich das als Ausländer richtig verstehe, irgendeine grundlegende Gerechtigkeit beansprucht, aber auf der anderen Seite...“

Er ließ mich nicht einmal ausreden. „Aber das ist die gleiche Absurdität. Ein erwachsener Mensch!“ Wieder wunderte sich der Gentleman leise und diskret. „Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, ich sitze in diesem Hotel rein aus humani-tären Gründen. Ich wollte dem Burschen einen Gefallen tun und ging so hinein. Viel-leicht versteht er es. Gerechtigkeit! Nicht das ich mich erkundigt habe, aber ich kann es mir denken, was sich da ungefähr abgespielt hat. Ein banaler Vorfall: die Beschäf-tigten wollten höheres Gehalt, oder vielleicht neue Livreen, und als sie sie nicht be-kamen, begannen sie zu streiken. Damit Sie verstehen, ich weiß nicht, wer im Recht war, ob die Angestellten oder die Leitung, aber darum geht es auch nicht. Das Er-gebnis des Kampfes ist nicht Gerechtigkeit, sondern der Sieg und die Besiegten. Der Streik brach offensichtlich zusammen, die Hotelleitung pickte die Hauptakteure her-aus und warf sie hinaus. Doch der mit der Tafel zeigt jetzt der ganzen Welt, dass er nichts kapiert hat. Wenn das umgekehrt ausgegangen wäre und die Beschäftigten hätten ihre Ziele erzwungen, können Sie sich vorstellen, dass die Leitung des Hotels die Kunden mit Transparenten fortgejagt hätte, um so ihre Gerechtigkeit zu bean-spruchen? Das ist ein Verlust der fundamentalen Instinkte. Jedoch hier verlor irgend-ein Individuum seine Instinkte, und den Kricketwettkampf verfolgen vor dem Fernse-her Millionen Zuschauer; wenn England, sagen wir, gegen Pakistan oder Australien spielt, praktisch das ganze Volk. Darum behaupte ich, dass diese Zivilisation bald zugrunde geht. Glauben Sie nicht?

Ich antwortete, dass ich mir als Ausländer nicht traue, das zu beurteilen, aber Kricket wurde doch, glaube ich, auch schon im vergangenen Jahrhundert gespielt, sodass diese Zivilisation, wenn das vom Kricket abhinge, schon lange in Trümmern liegen müsse.

„Oh, Kricket begann man im achtzehnten Jahrhundert zu spielen. Aber das Kricket an sich ist nicht so wichtig. Wenn sich ein paar Verwirrte, irgendein enger Kreis von Leuten, sich zur Überwindung der Langeweile eine sinnlose Unterhaltung ausdenken, dann ist das noch keine Katastrophe. Im Gegenteil, das zeugt von einer gewissen Erfindungsgabe. Täuschen Sie sich nicht, ich bin nicht gegen Bewegung, Bewegung ist natürlich, und bestimmt auch eine gesunde Sache. Die harmonische Entwicklung des Menschen und so weiter, das kannten alles schon die alten Grie-chen. Ich verstehe es, wenn jemand läuft, schwimmt, oder, meinetwegen, Diskus wirft. Ein wenig geht es mir ab, warum man dabei wetteifern muss, aber das ent-spricht der menschlichen Natur. Solch ein Atavismus. Doch ich verstehe nicht, wie jemand komplizierte Regeln, die ihn an der Bewegung hindern, ausdenken kann... Gut, es sind zweiundzwanzig Leute, die sich langweilen, den es nicht so sehr um die Bewegung geht als darum, die Zeit totzuschlagen. Solche Leute finden sich immer. Aber wenn die Hälfte des Volkes vor dem Fernseher sitzt und zuschaut, wie sich zwanzig Leute langweilen – das ist schon eine Perversität, die über die Welt etwas aussagt. Über ihre Hoffnungslosigkeit.“

Erst jetzt – er stellte das Bier ab, erhob sich vom Sofa und begann vor dem Fernsehgerät zu schlendern – bemerkte ich, dass er hinkte. Vielleicht war es kein Hinken; kein Gebrechen, sondern eine Eigenheit des Ganges, als ob er sich mit ei-nem Bein auf die Zehenspitzen stellte, aber auf dem dicken Teppich ließen seine Schritte keinen Ton hören, und diese Enttäuschung der Erwartung des Gehörs rief den Eindruck einer noch viel schwereren Heimsuchung hervor: er hinkte taubstumm. Kaum hatte ich das bemerkt, hatte ich gleich für seine Tirade eine liebevolle Erklä-rung: er nahm der Bewegung übel, dass sie nicht defekt ist. Nicht dass man ihm nicht zustimmen könnte, im Wesentlichen, aber das Problem verlor damit jede Ernsthaftig-keit. Vielleicht hatte er das wahrgenommen, denn plötzlich lachte er. „Langweile ich sie nicht? Noch ein Bier?“

Jetzt hätte ich ihm gern ein Bier bezahlt, damit in unser Verhältnis wieder ein Gleichgewicht einkehrte, damit ich mich nämlich von ihm befreite (unter dem Sakko hatte er immer noch die meinetwegen aufgekrempelten Ärmel), aber am Boden ne-ben dem Sofa stand sein nicht ausgetrunkenes Glas, und auch mir war nicht mehr nach Bier. Ich empfand es als sinnlosen Luxus, also würde es mir nicht schmecken. Auch noch die Geschmackszellen unterliegen der Ideologie! Für einen Augenblick mit der Verletzbarkeit der Sinne beschäftigt und besonders damit, dass es bei ver-schiedenen Leuten ganz entgegengesetzte Vorzeichen haben kann – wenn mir aus dem Schuldgefühl das Bier im Mund bitter wird, gibt es andere, denen es, da sie sich eine Schuld zu kommen lassen, um so mehr schmecken würde – ich habe nicht ein-mal bemerkt, wie wir auf der Straße gelandet waren. Das hatte ich nicht bemerkt, dafür hatte ich mir gemerkt, dass ich diesem Menschen ein Bier schuldig geblieben war, und so hatte es gereicht, dass er mit dem Finger schnipste; er hatte mir ein Bier gekauft, wie könnte ich ihm nun etwas abschlagen?

Gleich hinter der Tür, noch desorientiert, stieß ich wieder auf dieses Gesicht. Das schmerzte mich; erst schmerzte mich, wie sehr, wie tief ich es vergessen hatte, kurz darauf schmerzte mich, dass es immer noch so leer ist. Was hatte sich doch alles im Innern abgespielt: erst kam nichts, dann kam Bier, aus dem Fernseher kam Kricket, der Untergang der Zivilisation bereitete sich vor, und auf diesem Gesicht wa-ren die Zeiger um keinen Millimeter weitergerückt. Als ob von ihm irgendein Vandale alle Spuren des Ausdrucks Stück für Stück abgeschlagen hätte. Schließlich, ja, was kann einen anderes an einem Gesicht reizen, was kann aus einem Gesicht anderes hervorstechen als der Ausdruck? Und vielleicht war auch ich so ein Vandale, als ich hineinging?

Ich trank nur ein Bier, ich wollte aufschreien, aber auch das bezahlte er mir! – und wenn uns der Kerl wenigstens mit einer Augenbewegung wahr genommen hätte, garantiere ich nicht, dass nicht etwas aus mir herausgeplatzt wäre. Jedoch nein, die Zeiger bewegten sich nicht. Wie tausendmal aus der Hand gefallen und immer auf die bestrichene Seite. „Dass du vor uns aber nicht ausspuckst,“ sagte ich halblaut meinem neuen Freund, als wir vorbeigingen. Ich wunderte mich wirklich nicht, ich war nur auf seine Reaktion neugierig. Was war, wenn in England die Streikenden nicht spucken, sondern durch die Nase pfeifen? Schweigend zeigte er mit dem Kopf auf die andere Straßenseite, wo auf dem Gehsteig gleichgültig ein Polizist spazierte. So ist das also! Nein, darauf konnte ich nicht eingehen; ich weiß nicht, wie ein Gentle-man sich verhielte, aber mein Bursche mit dem Transparent war eine etwas kompli-ziertere Gestalt.

An der Ecke hätten wir uns trennen müssen, aber der Freund zögerte; als ob er fürchtete, mich so verstört auf die Straße zu lassen, begann er mich zu beruhigen, dass ich mir das nicht zu Herzen nehmen solle, dass jetzt in der Saison das Hotel auch ohne uns voller Touristen ist, nur sonntags fuhren sie nach Windsor oder nach Brighton, und dass das der Protestant mit der Tafel sehr gut weiß; er steht dort nicht wegen uns, sondern um den Manager zu ärgern. „Es ist für ihn eigentlich eine Form der geistigen Hygiene: es fiele ihm schwer, sich mit der Niederlage abzufinden, und durch sein trotziges Stehen vor dem Hotel gewöhnt er sich allmählich daran. Wissen Sie, wie ein abgezählter Boxer, der noch auf dem Boden in die Luft drischt, bis ihm klar wird, das alles aus ist.

Das waren nur solche Reden, und er sagte sie ja mit einem Lächeln, aber wie wir so an der Ecke standen, kam er mir kleiner vor als vorhin in der Bar. Die satte Herbstfarbe und seine, ich finde kein anderes Wort, Wasserdichte bewahrte er sich, doch war er augenscheinlich kleiner und schmächtiger. Er sprach weiter, aber ich hörte nicht zu, ich hatte für einen kurzen betäubenden Augenblick das Gefühl, dass er nach jedem Wort noch weiter abnimmt. Eine Sinnestäuschung, die vielleicht durch Hunger hervorgerufen war, dachte ich im ersten Augenblick, aber ich spürte keinen Hunger, und dann, die Häuser hinter seinem Rücken änderten in keiner Weise ihre Proportionen, und die Lichter an der Kreuzung blinkten in derselben Höhe: ein Wun-der aktiver Empathie. Dieser Mensch an der Ecke schrumpfte durch irgendeine geis-tige Kraft, nur um mich aufzumuntern, um mein Selbstbewusstsein zu heben! Die Worte hörte ich, denn er hatte mich, obwohl er davon nichts wusste, durch das Bier vorausbezahlt: dieser aufopfernde Akt der Freundschaft hat mich doch ausgespro-chen gerührt. Rührung nimmt bei mir häufig die Gestalt einer Betäubung, einer Hys-terie an; ich schütte mich oft von den Ufern ganz mit der Badewanne und dem Kind aus. In diesem Fall steigerte die Hysterie noch das Bewusstsein, dass ich in immer größere Schulden gerate, nicht mehr nur materiell, sondern auch moralisch. Ich woll-te sie durch eine energische Geste annullieren, und das sofort.

„Ich wohne hier ganz in der Nähe,“ sagte ich, „aha, dort in der Einfahrt. Wollen Sie nicht zu mir Tee trinken kommen?“

Mir schien, ich hatte ihn überrascht. Er wusste natürlich nicht, dass ich mich von Schulden entledigen müsse, und vielleicht kam die Einladung ins Private für ei-nen Engländer zu unerwartet, zu früh. Vielleicht in diesem Stadium beinah zu intim; als ob ich ihm mir nichts, dir nichts mein Taschentuch anböte. Vermutlich hing ihm kein Schnodder herunter? Vielleicht nahm er an, dass ihn der Besuch zu irgendetwas verpflichte, dass er durch ihn für mich Verantwortung übernehme. So oder so, solan-ge ich in Gedanken sein Dilemma löste, lachte der Gentleman und sagte: „Gern.“

2

Ich heiße deine Absicht gut: lebe versteckt in der Einsamkeit, aber verstecke auch die Einsamkeit selbst.

SENECA

Aber wie könnte ich mich allein fühlen, wenn mir Freunde Briefe schreiben! Die Freunde schreiben mir: „Na los, Alter, bei Christi Wundmalen, äußere dich endlich –du bist ins U.K. emigriert in der Märtyrerabsicht die 14% Arbeitslosenarmee zu vergrößern, oder wäschst du dir nur die Hände, entschlossen, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst, aus Angst vor S.T.D., wie man hier euphemistisch den Tripper nennt?“

Wenn für den Engländer seine Heimat seine Burg ist, so war es bei mir so, dass mein Internatszimmer umso weniger es mein Zuhause war, umso mehr meine Burg wurde. Als ich es aufschloss, fiel mir ein, dass der neue Bekannte der erste Besuch bei mir ist – wenn wir freilich die Saubermachefrau nicht mitrechnen. Ich fürchte nicht, dass ich mich vor ihm bloß-stellen würde, in dem Zimmer war nichts persönliches, nicht einmal wenigstens Unordnung, aber ich erwartete, dass er sich glich auf der Schwelle neugierig und freimütig umschaut und für einen Augenblick sah ich mein Domizil mit seinen Augen, wie ein fremdes. Werde ich das Zimmer nach seinem Weggang mit dem eigenen Atem desinfizieren müssen? Wird mir in ihm etwas passieren müssen, damit es wieder meins wird?

Überflüssige Sorgen, der Gentleman verhielt sich wie ein Gentlemen und mit keusch niedergeschlagenen Augen ging er direkt auf das Fauteuil am Fenster zu. Ich ging in die Gemeinschaftsküche, um Tee zu kochen. Bis das Wasser kochte, dachte ich über meinen Freund nach. Schüchtern, das ist das richtige Wort; aber wie tatkräftig er sich doch ohne Umschweife an das Reparieren der Rohre gemacht hat! Ist vielleicht seine Schüchternheit ein abgeleitetes Produkt einer hauptsächlichen und ursprünglichen Schüchternheit, nämlich meiner eigenen? Er versucht sich mir im Gleichschritt taktvoll anzupassen, oder mich nur unwillkürlich wiederzuspiegeln? Oder, und das ist das ganze Geheimnis unserer Bekannt-schaft, meine Schüchternheit brüllt, dass er ohne Schwierigkeiten von Weitem in mir einen Stammesbruder spüren konnte.

Genau das wollte ich nicht: sich mit mir selbst beschäftigen, wenn hier, überall rings-um, die unendliche weite Welt ist. So sieht das aus, wenn Sie sich dem Körper eines ande-ren nähern. Mir wurde sofort klar, dass ich meinem neuen Bekannten die ganze Zeit nicht richtig ins Gesicht gesehen hatte; wenn er inzwischen weggegangen und an seiner Stelle sich irgendein anderer ins Zimmer gesetzt hatte, ebenso wettergebräunt und voller Runzeln, würde ich vielleicht nicht einmal den Austausch bemerkt haben. Das war, diese ausweichen-de Art von meiner Seite, nur die übliche Höflichkeit, oder schützte ich mich unterbewusst vor zu großer Annährung? Umsonst, er war auch so: er machte mich aus dem sozusagen bis ins lebendige Fleisch eingewachsene Falten im Anzug, von den tatkräftig hochgestreiften Är-meln, von der leisen, aber drei Tage nicht rasierten Stimme, mit der er mir sozusagen fein-fühlig zulächelte und mich hornhäutig streichelte. Davon wie er auf der Straße augenschein-lich zusammengeschrumpft war. Es war danach nicht einmal so wenig, es reicht doch auch meinetwegen nur ein Element – die Frisur, eine Zahnlücke oder die Art, wie jemand die Stri-che in einem Satz zieht – und man wächst dazu automatisch heran.

Als ich mit dem Tee zurückkam, begann er über den Ausblick aus dem Fenster zu reden, als ob er eine Bemerkung über irgendetwas im Zimmer für zu persönlich hielte. Für den Ausblick war ich wirklich nicht verantwortlich, er konnte also sagen, dass er nicht verlo-ckend ist. Beinahe beklemmend, eigentlich. Diese nackten Mädchen, die ich an der Pinwand sicher als ein Gegenmittel aufgehängt hatte, damit ich die trostlose gelbe Ziegelbrandmauer des Hauses, das mit seiner weißen nach Thymol riechenden Fassade in eine ganz andere Straße grinste, ausgleiche.

Aber im Gegenteil, widersprach ich ihm, das gefällt mir ja gerade, dass sich London vor mir nicht verbirgt, dass es mich so beständig daran erinnert, mit welcher Seite es sich mir zugekehrt hat. Außerdem ist diese anonyme Wand nicht aufdringlich, setzt der Fantasie kei-ne Schranken, ich kann auf sie projizieren, was mein Herz begehrt. Nein, die nackten Mäd-chen hatten mit dem Ausblick nichts zu tun, die Mädchen... Es schien mir, dass man nackte Mädchen im Internat nicht zu erklären braucht. Sollte ich da einen Che Guevara hinhauen?

„Damit sie nicht so allein sind?“ fragte er. „In diesem leeren Raum?“

„Allein?“ Darauf wäre ich nicht gekommen. „Ich bin es auch so. Sie machen doch nichts unerwartetes, ganz von selbst. Sie fangen nicht an zu weinen, sie pforzen nicht ein-mal.“

„Ihrer Meinung nach heißt allein sein also, dem Unvorhergesehenen entgegentre-ten?“

Das habe ich im ersten Moment nicht einmal verstanden. Dem Unvorhergesehenen entgegentreten! Was ist das für eine Art sich auszudrücken? Na, so ein menschlicher Mo-ment, ja. Dass ich reagieren musste. Eigentlich nicht musste, dass es mich mitriss. Spontan.“

Die Mädchen waren an der Wand gegenüber dem Fenster, ziemlich weit weg. Der Gentleman erhob sich aus dem Fauteuil und machte ein paar Schritt, um sie besser zu se-hen.

„Haben Sie versucht, sie anzusprechen?“ fragte er mit einem Lächeln.

„Klar. Nicht nur einmal.“

„Und was? Wenn Sie die anreden, antworten sie?“

„Ja, auf ihre Weise. Ich sage mal so: ich finde in ihnen eine Antwort.“

Er stand dort und sah auf die Pinwand, mit geneigtem Kopf, als entzifferte er ein ku-bistisches Bild. „Das alles allein. Ohne ihre Hilfe?“

Darüber musste ich nachdenken. „Ohne Hilfe? Ich weiß nicht. Aber, sie sind hier. Sie sind zu sehen. Aber was ich ihnen nicht gebe, das haben sie nicht.“

„Aber Sie reden sie an?“

„Ja, ich sage es doch. Manchmal.“

Der Gentleman wandte den Kopf von den Bildern und sah mich an. „Also dann, lieber Freund, sind sie nicht allein,“ sagte er mit schelmischen Lächeln.

Noch nicht? Und wann, bei Gott, werde ich allein sein, lieber Freund? Ich sah nach ihm, wie er leicht humpelnd zum Fauteuil zurückging, und wieder so markant: der gebückte Gang. Bevor er sich setzte, langte er irgendwo unter das Sako und zauberte dort einen Flachmann in einer Ledertasche hervor. „Gibt es bei Ihnen nicht zwei Gläser?“

Mit den Mädchen war das in Wirklichkeit so: ich ließ auf dem Tischchen irgendwelche Herrenmagazine liegen, und als die kroatische Putzfrau in meiner Abwesenheit kam, um im Zimmer Ordnung zu machen, nahm sie ein Faltblatt und heftete es an die Pinwand. Vielleicht wollte sie mich damit als Frau still auslachen, dieser Vorliebe und dem, dass ich mich vor ihr verstecke, und vielleicht wollte sie mir als der erfahrenere Mitgastarbeiter andeuten, was man mit solchen Bilden in englischen Internatszimmern macht; ich weiß nicht. Um die Wahr-heit zu sagen, ich weiß nicht einmal, ob die Putzfrau eine Kroatin oder eine Serbin war, sie bemerkte nur, dass sie aus Jugoslawien sei und ich kann an der Sprache diese beiden Nati-onalitäten nicht auseinanderhalten; ich weiß zwar, dass die einen das Theater kazalište und die anderen pozorište, aber über Theater habe ich mit der Putzfrau nicht geredet. Sie sind offensichtlich Meister der feinen Beobachtung, die die Nationalität auch ohne Sprachkrücken unterscheiden – ich war Zeuge, als ein serbischer Hochschulprofessor, der das halbe Jahr in Paris verbrachte, mit einem Lachen verkündete: Ich erkenne einen Kroaten auch von hinten, nach dem Gang – aber mir geht ein solches Feingefühl ab. Mir befahl nur der angeborene Respekt zur Genauigkeit, dass ich die Putzfrau auch nicht in Gedanken Jugoslawin nannte, wenn ich selbst die Bezeichnung Tschechoslowake für nicht gelungen oder nicht angebracht halte; als blieben wir auf halber Strecke stecken und sagten Säugetier und nicht Mensch. Obwohl, tatsächlich, wozu noch mit solchen Unterschieden langweilen, wenn uns unten, tief in den Eingeweiden, alle der Saugreflex des slawischen Gemüts verbindet? So oder so, ich wehrte die Provokation der Putzfrau ab oder hörte auf ihre Anleitung und füllte die Pinwand mit weiteren Bildern. So ein Spiel, und übrigens habe ich nur mehr hinzugefügt.

„Sie halten, hoffe ich, meine Fragen nicht für aufdringlich?“ fragte mich der Gentle-man, als ich endlich die gesellschaftliche Lage auf dem Sessel fand, die schweigend damit rechnet, dass ich mich mit den Ellenbogen auf den Tisch stütze; ein anderes Fauteuil gab es im Zimmer nicht, und mich auf dem Bett hinzulümmeln, kam mir doch zu familiär vor. „Neh-men Sie das nicht persönlich, mich interessiert das einfach als Problem.“

„Das Problem der Einsamkeit?“ In den Bechern für die Zahnbürste oder für die dritten Zähne war schottischer Whisky, ich roch in der Luft seinen Geruch. So versuche ich naiv die Schuld mit Tee auszuglajchen, und er bringt mich mit dem Scotch in noch tiefere Verschul-dung. Hoffnungslos!

Nnnein, nicht ganz. Offen gesagt, im Augenblick traue ich mir nicht, das Problem zu bezeichnen, das wäre übereilt. Seien Sie nicht böse, wenn ich sie noch ausfragen werde? Sagen wir... aber zuerst trinken wir an. Prost. Zum Beispiel, können Sie mir sagen, was Sie zu ihnen sagen?“

„Wie diesen Mädchen? Das ist verschieden, wie mir zumute ist.“ Mit Erstaunen merk-te ich einen gewissen inneren Widerwillen, als ob ich meine Puppe einem fremden Kind bor-gen sollte, und das kam mir lächerlich vor. Ich spreche sie einzeln an, auf welche gerade mein Blick fällt. Wollen Sie sich irgendeine aussuchen? Zum Beispiel die mit den violetten Strümpfen, das ist Glenda. So sage ich der zum Beispiel: Glenda, du mit deinen Sommer-sprossen und den Haaren auf den Unterarmen, du bist ein gesundes Bauernmädchen und violette Strümpfe passen nicht zu dir. Tue nicht verdorbener als du bist. Diese ausgestreck-ten Beine, gut, das ist Natur, dieses dichte Fell. Und das Kreuz, ist das eine Erinnerung an die Konfirmation? Mag sein. Aber dein violetter Strumpf, nur an einem Bein... Ich weiß, du bist hübsch, das sage ich schon der Glenda auf dem Nachbarbild, wenn sie dich von hinten beleuchten, siehst du aus wie aus dem Boudoire, und wie du dich mit dem Handtuch enthül-len kannst! Tue nur so traurig, Glenda, mit der Hand auf der Scham! Beiß in die Traube, da-mit dir die Quelle des Saftes über die Wange fließt, aber schnell, denn Traube hält nicht lan-ge, und wie viel dieser Körper aushält, uns beide? So irgendwie, in diesem Sinne. Oder wol-len Sie die andere, Valeria? Ich nenne sie Valika, mit der blödele ich meist herum. Valika, sage ich zu ihr, nimm diesen Busen ab, denn er macht dich unnötig älter. Du bist, Valika, auch so nur zum Kitzeln da, oder du könntest im Bett leicht atmen, damit man leichter ein-schläft.“

„Apropos,“ sagte der Gentleman, „sie heißt nicht Valeria. Auch Glenda nicht, die an-dere. Das sind nicht ihre eigentlichen Namen. Wenn Sie sich ein dänisches Erotikmagazin gekauft hätten oder ein deutsches, dort finden Sie dieselben Mädchen aber unter ganz ande-ren Namen.“

„Auf den Namen kommt es nicht an, wozu sollte ich mir irgendeinen anderen ausden-ken? Zum Beispiel Billie, so ein Name gefällt mir bei Mädchen. Billie ist mein Lieblingsmäd-chen, der sage ich: Dich nähme ich ins Theater mit, Billie, ich würde dich meiner Mutter vor-stellen... Ins Theater, wenn du die Karten kaufen würdest, der Mutter, wenn ich hier eine hät-te. Das könnte fürs ganze Leben sein, Billie, mit diesem vertrauensvollen Blick, mit diesem zierlichen Körper, in dem ich abends gerne blättern würde. So sei nicht billig, nimm diese Hand aus der Schere, hörst du? Und so weiter.“

„Gut, das sagen Sie ihnen, und was sagen sie Ihnen?“

‚Du gehst mir am Arsch,’ dachte ich, aber laut habe ich das nicht ausgesprochen; nicht nur, dass das nicht höflich wäre, es wäre auch nicht ganz die Wahrheit. So etwas kann mir manchmal nur Glenda sagen. „Das ist schwer. Wie ich schon sagte, dass ist jenseits der Worte. Ich lese es ihnen vom Gesicht ab. Wenn ich sie anspreche, verändern sie ihren Ge-sichtsausdruck. Ein etwas anderes Licht in den Augen, solche Fünkchen, ein etwas stärker nach oben gezogener Mundwinkel beim Lachen... Valika zittert of das Kinn, als ob sie los-weinen wollte, die versteht keinen Spaß. Na und ich übersetze mir das einfach, so wie wir alle uns Gesichter, Mimik und Gesten das ganze Leben lang übersetzen, und es nicht einmal bemerken. Daran ist nichts besonderes.“

„Ja.“ Der Gentleman hantierte wieder mit dem Flachmann, und obwohl er überhaupt nicht hinsah, goss er in beide Becher gleich viel ein, als ob er ein Messgerät im Handwurzel-gelenk hätte. „Ja, das ist schön. Ich meine, was sie hier gesagt haben, wie sie mit diesen Mädchen sprechen. Mit welchem Gefühl. Hut ab, soviel können sie aus so einer kleinen Sa-che herausholen. Gratuliere. Aber, wenn sie nicht böse sind, war das alles männlicher Per-spektive. Wissen sie, worauf ich hinauswill? Sie helfen eigentlich nur, mit all ihrem erregten Wahrnehmungsvermögen, diese Mädchen dem anspruchsvolleren Kunden zu verkaufen. An der Sache ändert nichts, dass in diesem Fall dieser anspruchsvollere Kunde sie selbst sind. Ich weiß, es sind solche Fotografien, die sich die männliche Perspektive erlauben. Nichts dagegen einzuwenden, aber trotzdem: waren Sie nie in Versuchung diese Grenze zu über-schreiten? Über den Zaun auf die andere Seite zu kriechen?“

Wessen Whisky du trinkst, dessen Lied du singst; aber was ist, wenn du die Melodie nicht schnappen kannst, nicht einmal die Worte? Ich nahm an, dass wir über das Problem der Einsamkeit sprechen, und wenn auch nicht ganz, so über etwas sehr ähnliches. Welcher Zaun auf einmal, welche andere Seite? Der Gentleman erklärte mir, dass er an die andere Hälfte der Menschheit denkt; wenn ich will, an die bessere, erklärte er mit einem Lächeln. Kommt es mir nicht schrecklich vor, das ganze Leben nur eine Hälfte zu leben und nicht einmal, nicht einen Moment, die andere zu erleben? Also nur zur Hälfte zu leben?

„Ich gestehe,“ sagte er immer noch mit einem Lächeln, vielleicht nur ein bisschen verschämter, „ich bemühe mich jeden Tag wenigstens eine Stunde lang, eine Frau zu sein. Soweit es meine Zeit erlaubt, denn dafür brauche ich Ruhe. Sich auf dem Sofa ausstrecken, sich lockern... Den Erfolg kann ich allerdings nicht beurteilen. Sicher ist, dass ich nicht schwanger werden kann, aber auch viele Frauen können nicht schwanger werden. Auch Brüste wachsen mir nicht, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, als ob sich mein Schwer-gewicht etwas noch oben verschiebt, so ein Wechsel des Druckes in der Wirbelsäule; aber darum geht’s nicht. Das ist eine geistige Übung. Handeln wie eine Frau traue ich mir nicht, das wäre vielleicht auch nicht richtig, aber ich versuche wie eine Frau meine täglichen Erleb-nisse neu zu erleben. Kennen Sie das Gefühl, dass Ihnen die Wahrnehmungen, die Sie nicht einmal geschafft haben wahrzunehmen, hängen bleiben, solche Griebse, die Sie irgendwo hingelegt haben und auf die Sie niemals mehr zurückkommen. Denn Männer ziehen durch Ereignisse nach meiner Meinung auf dem kürzesten Wege, geradlinig. Im Voraus bestimmen sie die Bedeutungen, und halten später an ihnen fest. Frauen haben keine solche Hierar-chie.“

„Woher wissen Sie das?“ lachte ich.

„Ich bin doch täglich eine Stunde eine Frau,“ antwortete er auch mit einem Lächeln.

„Nein, nein. Sie sind nur ein Mann, der sich täglich eine Stunde vorstellt, dass er eine Frau ist. Das ist alles.“

Er hob eine Hand hoch wie ein Fußballer, der ein Foul anmeldet. „Der Einspruch wird anerkannt. Aber auch so können wir uns darauf einigen, dass es besser ist, ein Mann zu sein, der sich vorstellt, dass er eine Frau ist, als ein Mann, der sich vorstellt, ein Mann zu sein. Trainieren sie wenigstens ein bisschen die Fantasie. Fühlen Sie, dass in Ihnen auf einmal mehr Platz ist, so eine Leere, Durchzug, aber ein begieriger... wie wenn Sie in einer alten Schachtel mit Knöpfen oder Fetzen herumkramen, so eine Freude. Sie sind bunt, ge-färbt, farbig, gehören nirgendwo hin; so viele Möglichkeiten! Probieren Sie das einmal.“

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte ich. „Stellen Sie sich vor, dass sie eine bestimmte Frau sind? Ihre Gattin zum Beispiel?“

Diese Frage stellte ich ihm nicht zufällig. Von Anfang an und eigentlich ziemlich lange konnte ich mich aus seinen Reden schlau werden, aber dann traf mich die plötzliche Erleuchtung: ein Homosexueller! Ich erschrak nicht, ich war nicht einmal entrüstet – übrigens, als ob ich mit meinem anderen, slawischen Geschlecht irgendjemand vorwerfen könnte, dass er abnormal sei? Nein, ich hatte widersprüchlichere Gefühle. Einerseits freute es mich, wie er alles erklärte, alles passte auf einmal zusammen: die Bekanntschaft, das Bier, auch dass er ohne Umschweife die Einladung annahm, auch seine komische Einstel-lung zu den Frauen; andererseits verdross mich diese drastische Vereinfachung: und auch dieses Wunder der Teilnahme, die sichtbare Veränderung der Körpermaße an der Straßenecke war offensichtlich nur ein Bestandteil der Balz. Ein Bisschen mehr Geheimnis wäre zu wünschen. Aber man kann nicht alles haben, und die Bilanz war insgesamt positiv: mir wurde leichter. Ich kann mir das logisch nicht erklären, aber ich hatte das Gefühl, dass mich die Homosexualität des Gentlemans von allen Verpflichtungen befreite. Welche Schulden schon – und noch moralischer! – wenn es seinerseits nur um eine durchdachte Investition ging? Die ihm, ganz unter uns, nichts bringt? Auch noch das männliche Gentlemanlike disqualifizierte ich geschickt als homosexuelle Verfeinerung; wirklich, ich musste in großer Not sein, wenn ich mich zu diesem Gefühlsnotausgang stürzte. Da hast du endlich deinen ersten englischen Homosexuellen, dachte ich und musste mich unmittelbar darauf beherrschen, dass ich nicht laut loslachte, denn mir fiel die Aufschrift auf der frisch ausgemalten Kabine unseres Gemeinschaftsklos ein: I’m the first bugger to write on this bloody door, ich bin der erste Pisser (die ursprüngliche Bedeutung des Wortes bugger ist Schwuler, vielleicht habe ich mich gerade darum an diese Aufschrift erinnert, aber heute ist das einfach nur noch ein Schimpfwort), der an diese reichlich genutzte Tür kritzelt. Wirklich, was ist das im Menschen, das so danach trachtet, erster zu sein? Wusste doch dieser Türschriftsteller gut, wo er mit seiner Tätigkeit einzuordnen ist, und deshalb konnte er nicht wiederstehen; na und ich begann wiederum den Gentleman, der mir zum ersten Platz verholfen hatte – obwohl eigentlich er der erste war, aber ohne mich es nicht geworden wäre, war mein erster, den ich durch diesen ersten Platz adoptierte -, gerade in diesem Moment irgendwie gern zu haben. Ich hatte ihn liebgewonnen, plötzlich und zweifelsfrei, als wenn sich im Raum mir nichts dir nichts die Beleuchtung ändert. Mit seiner Schwäche hatte er sich mir verständlich gemacht, ich konnte seinem Spiel mit meinem Spiel antworten, ihn prickelnd, ein bisschen, mit der Frage sekkieren, ob er sich vorstellt, dass er seine Frau sei, und warten, wie er antwortet – ausweichend? Oder gesteht er, dass er ledig ist und probiert, es mit irgendwelchen äußeren Umständen zu begründen? Bringt er zufällig die Sprache auf eine ausgedachte Geliebte? Oder nutzt er die Gelegenheit und deutet wenigstens verschleiert seine sexuelle Präferenz an?

„Eine Gattin? Wozu? Nein, “ sagte er vielleicht etwas verblüfft; eine andere Emotion habe ich nicht beobachtet. „Ich stelle mir vor, dass ich das bin. Eigentlich stelle ich mir das nicht einmal vor, ich bin es einfach, jedoch als Frau. Ich habe doch gesagt, dass ich die täg-lichen Erlebnisse wiederhole, meine. Sie nehmen die Augenblicke, einen nach dem anderen, knacken sie wie Nüsse auf und stellen fest, dass viel mehr drinnen ist. Dass sie viel größer sind. Ich bin schon etwas müde, ich kann mich nicht gut ausdrücken. Probieren Sie es und Sie sehen.“ Er stand vom Fauteuil auf; es schien mir, dass er nicht größer ist, als im Sitzen, dass ich ihm vom Sessel direkt in die Augen schaue. Schüchtern, zum Teufel schüchtern, schutzlos!

Ich begann ihn gern zu haben, einen Schwulen, und überhaupt nicht deswegen, dass es mein erster war, sondern nur so.

„Apropos“, sagte er mit diesem schelmischen Lachen, in dem nichts Angriffslustiges war, nur eine Einladung zum Tanz, „das könnte auch eine Antwort auf ihr Problem der Ein-samkeit sein. Sie werden in sich immer die Mitteilung der Partnerin haben. Das ist besser als eine Fotografie. Aber die beste Lösung ist... glauben Sie an Gott?“

„Wenn ich in einen Aufzug gefallen wäre, “ sagte ich angesteckt von seiner Fröhlich-keit, „dann würde ich vielleicht glauben. Aber unter normalen Umständen, nein.“

„Sie fallen doch, schon seit der Geburt, sie haben es nur noch nicht bemerkt. Sie ge-ben noch nichts darauf.“ Ich nahm vom Tisch den Flachmann, schüttelte ihn am Ohr und ließ ihn im Mantel verschwinden. „Leer. Wer an Gott glaubt, das wollte ich sagen, ist niemals al-lein. Er muss es nicht sein. So einfach ist das.“

Schon zu sehr, dachte ich; auch Christus kam so ein Augenblick, dass er rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? und er war ersten Grades verwandt. Aber über Religion wollte ich nicht mit ihm streiten. „Und Sie? Glauben Sie?“ fragte ich nur.

„An Gott?“ stellte er sich ernst, als ob er nachdächte, aber er lachte mit Falten um die Augen. Oder er war wirklich müde und seine Mimik blieb hängen. „Und wissen Sie, dass das stimmt? Es ließe sich sogar sagen, dass ich ihn persönlich kenne. Also, ich weiß wenigstens, wo er arbeitet. Ich gehe manchmal und schau nach ihm.“

Auch ich stand auf; ich erschrak, dass er wegginge und ich es nicht geschafft haben würde, ihm zum Abschied zuzusetzen – so idiotisch offenbare ich meine Zuneigung. Die Engländer nennen das parting shot. „Die ganze Zeit,“ sagte ich, „eigentlich warte ich auch jetzt immer noch, wann Sie endlich sagen, dass diese Zivilisation zum Untergang verurteilt ist, wenn man Bilder nackter Mädchen produziert und anschaut, anstatt sich mit ihnen im Bett zu wälzen. Wissen Sie: so eine Perversität!“ zitierte ich ihn schon mit Lachen.

Der Gentleman schloss sich an, leise: das war ein Ton, als ob jemand hinter der Tür das Parkett schmirgelt. „Das ist so offensichtlich, dass man darüber nicht sprechen braucht. Ungern würde ich ihre Intelligenz unterschätzen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das Prob-lem liegt woanders, nur kann ich es, wie gesagt, nicht ausdrücken. Aber beachten Sie zu welch psychischer Leistung, und das meine ich jetzt ernst, als Lob, zu welcher Leistung hat Sie diese Unnatürlichkeit inspiriert, diese künstlichen Mädchen auf den Fotografien; wie viel und wie schön Sie darüber erzählen konnten, und wenn Sie ein Mädchen hätten, ein leben-diges, eine Geliebte – ich sage nicht, dass Sie es nicht haben,

Siehe auch:

Autor

Vilikovský, Pavel

Pavel Vilikovský sa narodil 27.