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Bärentanz der/und Befreiung
Georg Lukács und die sechziger Jahre
Endre Kiss, Budapest
Georg Lukács’ „Lebenswerk” (auch als eine Einheit von „Leben” und „Werk”) erlebt 1968, aber etwas allgemeiner schon in den sechziger Jah-ren einen Höhepunkt. In dieser Höhe vereinten sich die verschiedenen Momente zu einer schwer analytisch auseinander zu dividierender Ein-heit. Eine frappante, aber nicht erlaubte Lösung für die Erklärung dieses Phänomens wäre die extreme Verallgemeinerung, wenn nicht eben Hy-perbolisierung der Fragestellung. In diesem Falle wäre zu sagen, dass im Schicksal Lukács’ das Schicksal einer Philosophie und politischen Ein-richtung fokusartig und sinnbildlich manifest wird, so dass auch die Di-lemmata und die mit sich weiter schleppenden tiefliegenden Widersprü-che dieser Philosophie und politischen Einrichtung weit über das Indivi-duelle hinausweisen. In dieser Superverallgemeinerung steckt zweifellos viel Wahrheit, unser spezifisches, nicht so sehr ins Allgemeine, vielmehr ins Konkrete hinübergreifendes Problem löst sie aber nicht. Wir wollen deshalb Lukács’ persönliches und philosophisches Schicksal nicht in dem Sinne exemplarisch hinstellen, wie manchmal das Schicksal eines Dich-ters exemplarisch für eine literarische Bewegung, das eines politischen Protagonisten exemplarisch für das Schicksal eines Landes erscheinen mag. In einer gewissen Allgemeinheit kann man allerdings auch nicht umhin, im Werk und Schicksal von Georg Lukács die umfassendsten und allgemeinsten Dilemmata, mit Honoré de Balzac zu sprechen, die „Größe” und den „Verfall” des Marxismus des zwanzigsten Jahrhun-derts und des damit am engsten zusammenhängenden politischen Sys-tems des realen Sozialismus wahrzunehmen und dementsprechend auch zu studieren.
Der Leninismus, als eine „Dialektik” des Marxismus, der „Stalinismus” als eine „Dialektik” des Leninismus (und wenn man will, eine schon zweite Dialektik, oder vielleicht eine „zweite Potenz” des Marxismus) verknüpfen sich miteinander auf eine wahrhaft nicht zu trennende Weise.
In diesem Zusammenhang lässt sich eine alte Frage auf eine Weise stel-len. 1968 warteten viele von Lukács eine Neuformulierung des Marxis-mus, die mit der hier gebrauchten Terminologie als die „vierte” Dialektik des Marxismus hätte bezeichnet werden können. Die damals vorherr-schende Erwartung – noch ohne die notwendige philosophische Distanz – war notgedrungen auf Lukács’ neue Ontologie gerichtet. Kein Zweifel, die Ontologie (mit ihren Sprachproblemen, mit den in vielem unentschlos-senen Ausgangsthesen, mit den sichtbaren Zeichen von gravierenden philosophischen Orientierungsschwierigkeiten) dürfte jenes umfassende Bedürfnis nach einer „vierten” Dialektik des Marxismus keineswegs er-füllen. Das soll aber wieder nicht bedeuten, dass sowohl vom Corpus der Ontologie wie auch aus dem Werk von Lukács generell eine vierte Phase des Marxismus nicht hätte antizipiert werden können.
In dem sich stets wechselnden Kontext erscheint Lukács immer anders. Der permanente Insider der Arbeiterbewegung und der marxistischen Philo-sophie figuriert auch als der permanente Outsider. Sein Werk und seine Phi-losophie erscheint im Westen anders als im Osten. Dazu gesellt sich noch, dass er selber mit keinen, unauffälligen, oft kaum wahrnehmbaren Schritten sein aktuelles Bild auch stets ändert.
Im Budapest der sechziger Jahre erschien Lukács auch der philosophie-renden, aber auch der nicht-philosophierenden Gesellschaft in mehreren Gestalten. Einerseits erlebte man es mit einer anerkennungswürdigen Bewusstheit die geistige und die physische Präsenz des Philosophen. Die Gegenwart großen Denkens ist in keiner Metropole der Welt ganz gleichgültig. Die Nachrichten, die Publikationen, der Stadtklatsch vermit-telte den nicht alltäglichen Atem der großen Philosophie und führten auch zu dieser Zeit in Budapest zu einem ohnehin steigenden Interesse des aufkommenden Neomarxismus, dem man allein kraft der Tatsache der wieder möglich gewordenen Westreisen und des langsam möglich gewordenen Zugangs zu westlichen Medien ohnehin näher kam.
Dem positiven Ansatz der Gegenwart der großen Philosophie stand das anfangs gar nicht so sehr differenziertes Bild gegenüber, das auf Lukács’ unaufgearbeitete stalinistische Vergangenheit aufgebaut war. Diese Ein-stellung weckte das Gefühl einer Unsicherheit und einer Fragmentierung jenes Verhaltens, das von der physisch erlebbare Flair einer großen Phi-losophie langsam um sich griff. Zu dieser Ambivalenz gesellten sich his-torisch-literaturkritische Prozesse. Zum einen wurde die in Ungarn aus-geübte prämarxistische theoretische und kritische Tätigkeit Lukács’ Schritt für Schritt bekannt, es war im wahren Sinne des Wortes eine Neuentdeckung und ein kollektives Lernen. Wer hätte etwa gedacht, dass der aktuelle Wortführer des sozialistischen Realismus in seiner Jugend an einer schöpferischen, nach Pater und Wilde visionierten Ästhetik arbeite-te? Wer dürfte gedacht haben, dass der Bewunderer des Realismus des neunzehnten Jahrhunderts vor 1914 den Kritiker als „Schöpfer” und „Ästheten” definierte, der sich durch seinen ausgewählten Künstler (in diesem Fall: Béla Balázs) wie durch sein „privates” Medium verwirkli-chen will? Zum anderen wurde Lukács, sowohl in seiner Person und sei-nen Werken wie durch seine Paradigmen und Analogien zur Galionfigur auch der neu aufkommenden mittel-europäischen intellectual history der Vorkriegszeit, des damals nicht nur in Ungarn, sondern auf dem Konti-nent zutiefst vergessenen intellektuellen Universums des untergegange-nen Österreich-Ungarn. Es sollte vielleicht nicht eigens unterstrichen werden, welche Vervielfältigung durch diese beiden Ergänzungen Lukács’ Gestalt allein im ungarischen öffentlichen Bewusstsein erfuhr, darüber ganz zu schweigen, dass die einzelnen Bilder oder Facetten unschwer in Widerspruch geraten konnten.
Zur genauen Rekonstruierung von Lukács’ Gesichtern der sechziger Jah-re gehört aber auch das lange Kapitel der Publikations- und der Rezeptionsge-schichte der einzelnen und durchaus gewichtigen philosophischen Werke selbst. Die Präsenz der einzelnen Werke in den einzelnen Ländern und Sprachen erwies sich stets als ein extrem problematischer Faktor im Leben von Georg Lukács. Kaum gab es nämlich Perioden, in denen alle wesentlichen Werke dem interessierten Publikum zur gleichen Zeit und auf denselben Sprachen zugänglich gewesen wären. Einerseits ging es darum, dass der aus der Sowjetunion Sta-lins zurückkehrende, vornehmlich auf deutsch publizierende Philosoph nach einer Emigration von einem Jahrhundertviertel nunmehr in Ungarn lebte. Es war deshalb einfach wenig wahrscheinlich, dass seine wichtigs-ten Werke in einem einheitlich anmutenden Zusammenhang vor dem sowjetischen, dem deutschen, dem ungarischen oder sonst welchem aus-ländischen Lesepublikum erlebbar hätten werden können. Und dann re-deten wir noch nicht von anderen Kriterien, die sich auf Autoren jeden Realsozialismus’ auch intensiv bezogen haben. Die einzelnen philosophi-schen Werke sind nämlich nicht in jeder Periode öffentlich gleich gelobt und dementsprechend auch verbreitet worden. Es war somit praktisch unvermeidlich, dass jeder wichtigere Autor (nicht zu sprechen von denen der Größenordnung eines Georg Lukács) Werke im Schrank hatte, die besser nicht erwähnt werden sollten (in seinem Fall etwa Geschichte und Klassenbewusstsein, von welchem er sich auch öffentlich distanziere musste.
Bei der Rekonstruktion der Gesichter von Georg Lukács in den sechzi-ger Jahren muss man sich demnach vergegenwaertigen, dass die Aesthetik in grossen (vollständigen), aber auch in der kleinen (die wichtigsten Ka-pitel auswählenden) Ausgabe ausreichend zur Verfügung steht und als ein tiefer Erfolg, eigentlich das Paradebeispiel für die Präsenz, sogar für das Flair der grossen systematischen Philosophie in der Stadt gilt. Die neue deutsche Ausgabe der Theorie des Romans (1963) ist in Intellektuel-lenkreisen bekannt (flankiert mit dem damaligen Ruhm des soziologisierenden Strukturalismus von Lucien Goldmann, aber auch von einem neuen Interesse für Romanästhetik generell), woraus die (nicht zum ersten Mal wahrnehmbare) Paradoxie entsteht, dass die immer noch nicht zurückgezogene Realismus-Vorschrift für das literarische Leben von demselben Lukács relativiert werden durfte, mit dessen Namen die vornehmere Version der Realismus-Theorie in deutlicher Offizialität immer noch verbunden ist.
Kaum weniger paradox stand es in Ungarn in den sechziger Jahren mit der Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas. Auch hier gab es keine neue ungarische Ausgabe. Trotzdem existierte dieses Vorkriegswerk Lu-kács’ im intellektuellen Bewusstsein, aus dem Grunde, dass die Ausgabe vor dem Ersten Weltkrieg in den Bibliotheken zugänglich war. So ist die kognitive Dissonanz zwischen einem Ästheten der tragischen Moderne der Jahrhundertwende und dem international anerkannten Vertreter ei-nes „grossen” Realismus wieder unvermeidlich entstanden.
Genau auf diese Weise hatten auch Geschichte und Klassenbewusstsein oder Der junge Hegel ihre konkrete Geschichte, ganz besonders aber Die Zerstö-rung der Vernunft, die zwischen dem Ende der vierziger Jahre und etwa der Mitte der sechziger Jahre das eigentlich kultische Werk von Lukács in Ungarn war. Dieses Werk hatte seine kultischen Züge auch international, und zwar mit gutem Grund. Das Werk bot eine umfassende, kritische und scheinbar kohaerente Interpretation der allergrössten Frage der da-maligen Gegenwart, der Möglichkeit der Hitlerschen Machtübernahme, die dann die apokalyptische Geschichte der spaeterer Jahre ermöglichte. Die Funktion dieses Werkes wurde in Ungarn (und in deutlich begrenz-terem Ausmass in den anderen spaeteren sozialistischen Staaten) dadurch aber auch noch ergaenzt, dass es auf eine sehr sichtbare Weise in die exis-tentielle und politische Entscheidung vor allem der damaligen jungen Genera-tion hineingewirkt hat. Die Überzeugungskraft dieses Werkes in Sachen des Sich-Engagierens für den kommenden Kommunismus oder des Be-wahrens der bürgerlichen Identitaet wurde zum empirisch nachweisbarer Faktor. Die Lukács’sche Konsequenz des Überganges der spaetbürgerli-chen Kultur
in den Nationalsozialismus hat die historisch an die Tagesordnung ge-stellte Wahl des Kommunismus in vielen Faellen erheblich erleichtert.
Die einzelnen konkreten Konstellationen der Publikations- und der Re-zeptionsgeschichte der einzelnen philosophischen Werke liessen sich beinahe beliebig fortsetzen. Jedenfalls geht es hier um eine extreme Viel-schichtigkeit von den ansonsten gut eingefahrenen hermeneutischen und rezeptionstheoretischen Zusammenhaenge. Darin kann man aber auch die sozusagen „natürliche” und „sachliche” Grundlage der gleichzeitigen Vielfalt der Lukács-Bilder identifizieren. Man kann generell sagen, dass für die siebziger Jahre sich die meisten wichtigsten philosophischen Richtungen – auf unterschiedliche, aber auch die gleiche Weise – auf Lu-kács berufen haben. Alle hatten ein anderes Lukács-Bild und – was in einem als konsensfeindlich angesehenem Land eine Besonderheit ist – nie-mand bekaempfte öffentlich das Lukács-Bild der anderen. Nicht so ging es aber in den breiteren intellektuellen Kreisen, bzw. in den anderen Wis-senschaften. Sehr typisch für diese Sphaere war, was in dem Literaturwis-senschaftlichen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften passierte. Die Abteilung für Literaturtheorie wurde ursprünglich von der Intention ins Leben gerufen, dass man gegen den „Revisionismus” Lukács’ eine Barriere errichtet. Hier wurde aber der Realismus gegen diesen „Revisio-nismus” auf jene Weise verteidigt, dass man dort auch die Avantgarde in die Reihe der diskutablen Richtungen „als Abwehr gegen Lukács” auf-nahm.
Es ist sinnvoll, kurz auch Lukács’ Relation zur ungarischen Philosophie und etwas allgemeiner, auch zur ungarischen Kultur zu thematisieren. Mit sehr starker Verallgemeinerung kann man sagen, dass der junge Lu-kács die ungarische philosophische Kultur allgemein als provinziell an-schaute. Es zeigt sich deutlich an seiner Einschaetzung von Imre Madách’ philosophisches Schaustück Die Tragödie des Menschen. Obwohl er in den sechziger Jahren an ungarischen kulturellen Prozessen einiger-massen teilnahm, aenderte sich diese Attitüde wenig. Es hiess, dass er einige wichtige Züge der ungarischen Philosophie nicht erkannte (vor allem die gemeinsame Fixierung an den Problemen „Rationalitaet” und „Emanzipation” ), es hiess aber auch, dass er als Philosoph zwar mit dem System kritisch und eng zusammen, von der Gesellschaft im allgemei-nen jedoch in einer deutlichen Distanz lebte (was die Einzelheiten seiner soziologischen Position durchaus bestimmen konnte). Von Anfang an war jedoch seine Relation zur ungarischen künstlerischen Moderne (vor allem zu Endre Ady und Béla Bartók) viel enthusiastischer. Ende der sechziger Jahre, auf dem Höhepunkt auch seines internationalen Ruhmes kam die Zeit der grossen Interviews. In diesen Gespraechen sprach er oft sehr ausführlich und sehr persönlich und warm zu seiner Relation zu dieser Sparte der ungarischen Kultur.
In den sechziger Jahren erscheint Lukács in der ungarischen philosophi-schen Öffentlichkeit, er wird von vielen Werken und schöpferischen Pe-rioden, aber auch von mehreren philosophie- und literaturpolitischen At-titűden vertreten. Wie wir gesehen haben, für die einen ist er der Rebell, für die anderen die Unterdrücker. Wir haben gesehen, das Arbeitspapier der Arbeitsgemeinschaft (neben dem Zentralkommittee der SAP, der Sozia-listischen Arbeiterpartei Ungarns) hatte es versucht, die beiden Revisio-nisten „Gruppen” (Garaudy-Fischer und Lukács) aufgrund einer leninis-tischen Warte gemeinsam zu attackieren. Für Lukács gesagt: leider hatte die Arbeitsgemeinschaft nicht recht. Die grosse Befreiung des literarischen Le-bens, der erste wirkliche Sieg über dem geschlossenene System des Post-stalinismus hatte nicht Lukács, sondern die Kafka-Konferenz in Liblice ausgekaempft. Es war und blieb eine historische Tatsache. Lukács gehör-te somit nicht zu den Befreiern der Literatur, höchstens nur indirekt, durch die adaequate Interpretationen seiner Philosophie. Seine Realis-mustheorie fiel dem Bauwerk sozialistischen Realismus zum Opfer, auch wenn man diese Verwandtschaft von der offiziellen Seite überhaupt nicht gewünscht haben.
Franz Kafkas Werk erwies sich also als geeignet, die Welt des realen So-zialismus zu deuten und sie zu erkennen. Seine Sprache, Szenen und Atmosphaere befaehigten den Leser, das Sichtbare und Erlebbare so-wohl gleich zu identifizieren als auch ebenso gleich zu „wiedererken-nen”. Kafkas Sieg über Josef St.hat eine Dimension, die zutiefst mit der Problematik der einander bedingenden Kategorien der Rationalitaet und der Eman-zipation verwachsen war. Dieser Bezug bestand darin, dass der real existie-rende Sozialismus in seinem Selbstbild schon die perfekte und gemein-same Verwirklichung der vollkommensten Rationalitaet und der eben-falls vollkommensten Emanzipation war. Die von Kafka ausgehende e-xistentielle Hermeneutik war geradezu auf eine Welt hin konzipiert, de-ren reale Funktionsweisen deshalb als Geheimnisse vorkommen sollten, weil diese Welt sich als die Realisierung der vollkommensten Rationali-taet und der ebenfalls vollkommensten Emanzipation definierte. Das waere an sich sicherlich noch kein Geheimnis gewesen, zum Geheimnis wurde die reale Daseinsweise der Systeme (wenn sie doch nicht mit der Realisierung der vollkommensten Rationalitaet und der ebenfalls voll-kommensten Emanzipation identisch gesetzt werden dürften). Darin lag Kafkas unbesiegbare Staerke, dass er die Suggestion des Geheimnisses ausstrahlen konnte, ohne je ein positives Urteil über den realen Sozialis-mus ausgesagt zu haben.
Waehrend im marxistischen Kontext die Aufgabe der sechziger Jahre und dadurch auch die von Lukács darin bestanden haben sollte, den Marxismus nach dem Stalinismus zu erneuern, ergab sich aus dem gesamt-gesellschaftlichen (d.h. dem nicht-marxistischen) Kontext die Aufgabe, die Glaubwürdigkeit der Philosophie generell zurückzugeben. Es geht hier um eine nur selten wahrgenommene Seite der Philosophie in Diktaturen.
Denn die Tatsache, dass ein ganzes philosophischen Leben auf ein wohl-strukturiertes System von Befehlen hin durchstrukturiert wird, laesst eine beispiel- und präzedenzlose Situation erstehen. Die ganze Philosophie ist wahr, aber auch die ganze Philosophie ist ganzheitlich falsch. Wahrheits-findung, Diskussion sind weitgehend ausgeschaltet, verschiedene philo-sophisch vertretene Meinungen werden direkt für feindlich und strafbar deklariert. Die Tatsache, dass eine Philosophie generell akzeptiert werden muss, bedeutet keine wahre Plausibilitaet für diese Philosophie. Gerade weil die Diskussion ausgeschaltet ist, können alle bei ihren Überzeugungen bleiben und denken, dass das Verbot der Diskussion gerade deshalb ge-schieht, weil seine Überzeugung wahr ist. Während der Sowjetmarxismus alle anderen Überzeugungen beseitigt, lässt er in dem gleichen Zug wie durch seine eigene Legitimierung alle andere Überzeugungen gelten. Dieser Mechanismus wird all-gemein. Die Wahrheit ist das Verbotene. Das offiziell Vertretene muss falsch sein. Was die eigene Nachrichtenagentur sagt, muss inkorrekt sein. Was der Andere sagt, muss korrekt sein. Die im Sinne der Kulturindust-rie genommene „Manipulation“ fängt in Ungarn in dem Augenblick an, als diese Kode nicht mehr funktioniert. Charakteristischerweise änderte sich die Einsicht nicht in der Richtung, dass man gedacht hätte, was un-sere Organe sagen, ist wahr. Die wirkliche Aenderung lässt sich in der Formel eher zusammenfassen, dass nunmehr nicht einmal das Gegenteil dessen wahr ist, was man öffentlich aus Machtposition sagt.
Auch Georg Lukács’ ganze Philosophie gehörte zum Material des ganzheitlich ak-zeptierten und gerade deshalb auch nicht plausiblen Philosophien. Von dieser Si-tuation musste sie sich in den sechziger Jahren herauskaempfen. Dieser Grundmechanismus stand auch hinter der Problematik der philosophi-schen Wahrheitsfindung. Zur Zeit der Stalinismus galt der nun mehr auf ungarisch herausgebrachte Sowjetmarxismus als ganz wahr und ganz falsch zugleich, während es im späteren für alle andere Philosophien „ei-gentlich“ galt, sie seien alle wahr (wenn nicht stalinistisch).
Für unseren Gegenstand ist es von grosser Relevanz, dass nach der Nie-derlage der Revolution 1956 die späteren Koordinaten der ungarischen Philosophie neulich festgestellt worden sind. Die Macht der Ideologie durfte nicht direkt in Frage gezogen werden, die deutliche Linie nach pragmatischer Pluralisierung hat aber ihren Beginn genommen. Die Mo-tive dieser Pluralisierung waren auch von heterogener Natur, so zum Beispiel spielte eine gewisse Wiedergutmachung ebenso eine Rolle, wie die neuen Bedürfnisse des neuen Establishments oder die bestimmende Absicht Kádárs, sich von der vorsechsundfünfzigen Periode entschlos-sen abzugrenzen und der Gesellschaft „mehr Freiheit” zu gönnen. Es ist aber nicht zu verkennen, dass die Philosophie in dieser Konstruktion auch den Kürzeren gezogen hat. Poststalinismus als Ideologie durfte also nicht in Zweifel gezogen werden (das waere aber allein durch die Logik des „sozialistischen Lagers” nicht möglich, hatte aber auch einen heimi-schen Hintergrund). Alles also, was pragmatisch und pluralistisch wurde, dürfte im genuin Kantschen Sinne als „un-mündig”, d.h. ohne eigene Sprache und Öffentlichkeit, d.h. also keineswegs als eine „Konsequenz” einer richtigen interpretierten Ideologie geschehen. Die Gesellschaft durfte freier sein, aber womöglich ohne Ideologie.
Der Komplex des poststalinistischen Neomarxismus ist mit der Gesamtproblematik der zweiten Periode des sogenannten ost-mitteleuropäischen Realsozialismus identisch. Schon darüber lässt sich streiten, ob dieser durch Kriegsereignisse und Bürgerkriege vermittelte Realsozialismus einen utopischen Charakter hät-te oder nicht. Würde man zur negativen Antwort neigen, so wäre dieser Komplex des Neomarxismus von Anfang an so gut wie gegenstandslos. Geht man aber anstatt dessen davon aus, dass man diesen Realsozialis-mus als authentisches Sozialsystem anschaut, so wird Neomarxismus, als Vehikel der Entstalinisierung und der eventuellen Erneuerung und Libe-ralisierung des Kommunismus zum Problem von welthistorischem Massstab. Es heisst, dass dem Neomarxismus als Ganzem eine welthistorische Rolle zufiel, sein Erfolg würde geheissen haben, dass dieser Realsozialismus reformierbar, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz möglich ist .
Lukács schaltet sich in die Aktivitaeten des kommenden oder schon des reifen Neomarxismus mit erstaunlichem Schwung ein, zumal wenn wir bedenken, dass in seinem Leben zwischen 1956 und der Wende der sechziger Jahre auch die rumaenische Interniereung eine Zaesur hinein-gravierte. In dieser Beleuchtung erscheint etwa der strategische Ansatz eines Textes wie „Probleme der kulturellen Koexistenz“ (1964) sicher-lich von einem erstaunlich klaren Urteil. Denn der Neomarxismus der sechziger Jahre und des Jahres 1968 war nicht nur eine sehr breite Palette philosophischer Ansaetze, er vertrat aus einer historischen Logik heraus auch ein Neben- und Miteinander von “ungleichzeitigen“ Ansaetzen.
Ein die spaeteren Phaenomene antizipierendes Moment von Lukács’ Beitrag des spezifischen Neomarxismus ist ohne Zweifel seine starke Aufmerksamkeit für die Problematik der Manipulation. Der Begriff selbst umfasste damals einen breiteren Kreis der Phaenomene als es heute der Fall ist. Heute würde man die weitgehende Vernetzung von Informati-onskanaelen, die Medienindustrie, die Welt der Promotion und der Wer-bung, gewisse Erscheinungen der funktionalen Wirkung, die neuen Ver-flechtungen des „Zivilisatums“ (B. Pethő) vielleicht nicht mehr direkt Manipulation nennen. Lukács verstand es aber so. Es ist nicht zu leug-nen, dass er damals mit diesem seiner Interessen eine bedeutende heuris-tische Leistung ausführte. Es ist zwar nicht ohne Interesse, dass er das grobe Manipulieren des Stalinismus mit dem feinen der zeitgenössischen Kapitalismus kontrastierte , die Bedeutung seiner Einsicht in diese neue Welt der Phaenomene geht weit über diese Konfrontation hinaus.
Von da an spielt die Manipulation nicht nur in der Kapitalismus-Kritik nach dem Kalten Krieg eine bedeutende Rolle, sie wird auch ein emi-nenter Bestandteil der Gegenwart, an dem die beiden Systeme sich qua-lifizieren, mehr noch, sich messen können. Die annehmbare Überlegen-heit eines nicht-manipulativen Sozialismus (wobei bei Lukács im voraus angenommen wird, dass die Spuren von Stalins „brutaler Manipulation“ vom gegenwaertigen Sozialismus „ausgestossen“ werden) weist auf eine Zukunft, in welcher die humanistischen und emanzipativen Potenzen des Sozialismus die bereits bestehende virtuelle Überlegenheit in eine wirkliche Überlegenheit und Anziehungskraft verwandeln werden. Das ist der von Lukács (selbstverstaendlich in mehreren alternativen Formu-lierungen) früh anvisierte und thematisierte Wettbewerb zwischen den Syste-men. Über diese neue Thematisierung der gesamten sechziger Jahre wird schon in unserem Versuch die Rede sein.
An dieser Stelle sei noch (wieder) an die tiefe strukturelle Widersprüche erin-nert, die sich aus der Ungleichzeitigkeit von bestimmenden Elementen des aufkommenden Neomarxismus und ihren direkten Konsequenzen bestehen. Die von Lukács in der Tiefe herausgelesene und rekonstruierte Manipulation (auch David Riesmans Einsame Masse wird bei ihm heran-gezogen) wirkte in der realsozialistischen Gesellschaft vollkommen anders als es von Lukács antizipiert war. Zum einen entdeckten auch die herr-schenden Eliten gerade die von Lukács auch „fein“ oder „feiner“ ge-nannte Manipulation und wandten sie fast zeitgleich in ihre „Politics“ an. Zum anderen gab diese Einsicht einen schwungvollen Auftrieb des Aus-baus von empirischen soziologischen Forschungen in Ungarn. Zum dritten strahlte ein neues Bewusstsein, fast eine neue unterhaltende Intimitaet in der Wahrnehmung der ungarischen Gesellschaft in der Richtung von westlicher und nicht nur westlicher Mediatisierung, Werbungskultur, Massenkommunikation und Inszenierung der Politik. Unerwarteterweise vielleicht erlebte die Gesellschaft diese Ausdehnung der Wahrnehmungsper-spektive nicht als eine Gefaehrdung für Emanzipation und menschliche Werte, son-dern als ein Interessanter- und Bunterwerden des grauen Alltagslebens. Die wach-sende Einsicht in die Manipulation unter realsozialistischen Umstaenden erzog nicht emanzipierte Arbeiter, sondern wohl informierte Kleinbür-ger, die als Zuschauer der Welt manchmal auch selbstaendiger Urteile (über Manipulation) faehig geworden sind.
Jedenfalls berührt sich die Problematik der Manipulation wieder mit der Setzung der wesentlichsten Bestimmungen der Systemkonkurrenz. In die-sem Zusammenhang formuliert Lukács – wieder im Zeichen seiner in der Ontologie sich manifestierenden Wendung zur Wirklichkeit – Saetze, die im Parteimarxismus sicherlich als höchst ketzerisch gelten sollten: „...braechte die technisch-ökonomische Überlegenheit in diesem Agon der sozialen Systeme allein die Entscheidung, so waere die Überlegenheit des kapitalistischen Systems nie gefaehrdet gewesen und seine Hegemonie waere heute noch unbestritten...“ Gegen die feine und moderne Mani-pulation des gegenwaertigen Kapitalismus wird so der kulturelle Wettber-werb und die Musse als das Reich der Freiheit aufgewertet. An dieser Stelle – wie kaum anders erwartet – erscheint wieder ein tiefer struktureller Wider-spruch in den von Lukács im einzelnen legitim vertretenen Positionen. Waehrend Lukács naemlich in diesem Augenblick die „Musse“, die un-manipulierte Alltagsexistenz, die Chance der Bildung, die einer demokra-tischen und /oder plebejischen Massenkultur (in deren Vorbereitung die linke Weimarer Kultur so bedeutende Vorarbeiten geleistet hat) als voll-wertige Alternative in den Raum stellt, sagt er in derselben Arbeit aber auch: „Was im Wettbewerb verglichen wird, ist die wirkliche Höhe des Lebensniveaus der Bevölkerung, nicht die propagandistische Verkündi-gung.“ Bei der Aufreihung der Widersprüche nennt Lukács einen an dieser Stelle auch nicht. Die „wirkliche Höhe des Lebensniveaus“ ist si-cherlich ein „realistisches“ (wenn man im Kontext dieser Arbeit will, ein „ontologisierendes“) Argument gegen die voluntaristische Propaganda. Dass sie aber auch ein Argument gegen die Chancen der „Musse“ und des „Reichs der Freiheit“ ist, thematisiert er nicht.
Gerade der Neomarxismus scheint die Logik der Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung der stalinistischen Zeit besiegt zu haben. Er war nicht mehr durch Befehle inauguriert. Zum Teil deshalb, weil gerade dieser Neomarxismus von dem ideologischen Gebäude des Sowjetmarxismus instinktiv abgelehnt war, man könnte also überhaupt nicht darüber spre-chen, dass das sowjetische Zentrum des Weltkommunismus diesen Komplex des Neomarxismus anderen philosophischen Kulturen auf-zwingen wollte. Der Grund seiner Ablehnung wahr auch politisch. Denn das Zentrum wurde zum Gefangenen der politischen Strukturen des sowjetischen Realsozialismus, in dessen Geschichte relevantere ideologi-sche Veränderungen jederzeit als untrügliche Zeichen von bevorstehen-den politischen Aenderungen auf den Plan traten. Ein potentieller Sieg des Neomarxismus würde den zehn- wenn nicht hunderttausenden Ver-tretern des philosophischen Stalinismus als der erste (in)direkte Hinweis ihrer Entmachtung vorgekommen sein. In der ursprünglichen sowjeti-schen Situation erwies sich also dieser mögliche Wechsel in der Philoso-phie als eine rein politische, ja noch mehr, als eine reine Machtfrage (ü-ber die sehr prosaisch klingende existentielle Dimension ganz zu schwei-gen)! Es gehört auf einen anderen Blatt, dass dann in den 70er Jahren immer wieder vorsichtige Versuche geschahen, einzelne Momente des westlichen Neomarxismus, kritisch, ins poststalinistische Gebäude auf-zunehmen. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass für diese Zeit der immer arg-wöhnisch betrachtete Neomarxismus im Westen bereits tot war.
Betrachtet man etwa den Ungarischen Neomarxismus, so bezieht sich auch auf ihn diese veränderte Lage in der Possibilität. Er war nicht mehr im alten Sinne von oben dirigiert, auch wenn (etwas stärker als es in der Sowjetunion selbst der Fall war) in Osteuropa die reformwilligen Kräfte der Macht sich viel direkter sowohl mit dem Neomarxismus, wie auch mit den führenden Repraesentanten desselben auseinandergesetzt haben.
Die zweite Haelfte der sechziger und die erste der siebziger Jahre zeigt im Kontext unserer Auseinandersetzungen ein sehr widersprüchliches Bild. Die realsozialistischen Gesellschaften standen bis 1968 auch vor ihren wichtigsten Reformen. Auf der anderen Seite erlitt die westliche neue Linke nach 1968 eine schicksalhafte Niederlage. Waehrend also im Realsozialismus Kafka den Ausweg aus dem offiziellen Sowjetmarxismus bedeutete, erlebte der Marxismus im Westen einen kurzen Höhenflug und einen tiefen Sturz, die beiden, auch an sich sehr komplexen Prozesse waren jedoch in keiner Hinsicht aufeinander abgestimmt.
Der Höhepunkt der neomarxistischen Denkweise erstand jedoch auf un-terschiedlichen historischen und intellektuellen Motiven. Der Neuanfang in dieser Periode bedeutete für Lukács einerseits einen Neubeginn nach dem Stalinismus-Poststalinismus und andererseits schon auch einen nach bereits existierenden und wichtigen Tendenzen der neomarxistischen philosophischen Substanz selbst. Hier vertieft Lukács diesen Gedanken sehr, auch wenn die einzelnen Elemente nur selten geeinigt auftreten. Einerseits geht es so weit, den realen Sozialismus nicht als einen klassischen anzu-sehen. Wie auch an anderen Stellen darüber noch die Rede sein wird, zieht er die Legitimation von Lenins Revolution zwar nicht zurück, bekaempft er jedoch das klassische Attribut, womit er, wie auf einen Schlag, den Raum für einen Neuanfang klar macht. Andererseits diagnostiziert er eine ganz neue Phase auch in der Geschichte des Kapitalismus (die des relati-ven Mehrwertes). Dies auch ein Grund zum Neuanfang. Drittens definiert er den neuen Antagonismus auch (eine Welt der Manipulation gegen eine der Musse und der neuen Emanzipation). Diese drei Momente (auch wenn nur selten in der direkten Naehe zueinander) geben die Lu-kács’sche Variante des Neomarxismus und des Jahres 1968 aus. Es gibt eine Reihe von Momenten, die mit denen des Mainstreams der Neuen Linke von 1968 übereinstimmen, es gibt aber ebenso eine ganze Reihe von Momenten, bei denen es nicht der Fall ist. Philosophisch gesehen kann man es aussagen, dass es bei Lukács um eine Neuformulierung des klassischen Marxschen Paradigma geht (ein Beispiel dafür ist seine Si-chabgrenzung der Favorisierung des jungen Marx gegen eine Gesamtheit des Marxismus).
Der Neuanfang macht einige grundsaetzliche Aenderungen sowohl im Denken Lukács’, wie auch in dem des Marxismus. Es geht vor allem um eine ontologisierende Denkweise, die vor und neben den begrifflichen Strukturen eine allgemeine Wirklichkeitsdimension aufbauen will. Das zumindest philosophisch folgenschwerste Problem war, dass Lukács die-se neue Denkweise nicht durchsetzen konnte. Wir können diese ontolo-gisierende Tendenz zwar bestaetigen, vielleicht sogar auch verstehen o-der bejahen, wir können sie aber nicht methodologisch akzeptieren. Sie markiert philosophisch das Ende des Zeitalters des totalitaeren Anspruchs der Philo-sophie. Eindeutig zeigt sich das in dem Ansatz, eine Philosophie auf die Beine zu stellen, aus der keine machtpolitisch instrumentalisierbaren i-deologischen Konsequenzen abgeleitet werden können.
Das ist ein Ende auch der spezifisch totalitaeren Relation zwischen Politik und Aesthetik. Waehrend der rechte Totalitarismus die Politik - mit Walter Benjamin zu reden - aesthetisiert, der linke Totalitarismus die Aesthetik politisiert. In der Dualitaet der Politisierung der Aesthetik (linker Totalita-rismus), sowie der Aesthetisieung der Politik (rechter Totalitarismus) artiku-liert sich der tiefere Unterschied der beiden Totalitarismen auf eine aus-gezeichnete Weise. Der Totalitarismus war auch in dem Sinne ein gesam-teuropaeisches Phaenomen, dass in Laendern, wo eine totalitaere Ordnung überhaupt nicht oder nur für kürzere Zeit vorherrschte, dieses Phaeno-men ebenfalls ein vieldiskutiertes und zentrales Objekt des geistigen In-teresses war.
Das Ende des engeren Sinne genommenen Totalitarismus (auch in dem realsozialistischen Ungarn) schenkte der ungarischen wieder die grosse Möglichkeit, Rationalitaet und Emanzipation, im besten Fall eine Einheit von derselben neu zu formulieren. Diese Aufgabe hat die ungarische Philosophie nach ihren Kraeften wahrgenommen. Kaum war jedoch das Gespenst des stalinistischen Totalitarismus verschwunden, musste sich die ungarische Philosophie mit den unter realsozialistischen Umstaenden besonders irrationalen Problematik der Konsumgesellschaft auseinanderset-zen. Waehrend das Zeitalter des Totalitarismus die Hegemonie der Poli-tik über die Aesthetik mit sich brachte, entstand in der Konsumgesell-schaft (nach Lukács’ Ontologie eine neue Welt des relativen Mehrwertes und der Manipulation) eine neue Situation. Die industrielle Konsumge-sellschaft ordnet sich sowohl die Politik wie auch die Geschichte unter. Das Aufkommen der Konsumgesellschaft baute eine tiefgehende Kluft zwischen Ost und West. Einerseits in dem Sinne, dass waehrend im Westen das Zeital-ter der Konsumgesellschaft ausbricht, im Osten der Totalitarismus sich noch erhalten kann. Andererseits definieren sich diese beiden gesell-schaftlichen Varianten darüber hinaus auch noch als Gegenwelten, die ihre eigene Identitaet im wesentlichen aus ihrer reflexiven Feindschaftsrelati-on gegen einander beziehen. Die Konsumgesellschaft ist sowohl eine Negation als auch eine Konsequenz des Totalitarismus, sie ist aber auch eine Negation jener Gattungswerte, die im Realsozialismus den intellek-tuellen Rückgrat der wertorientierten Lebensführung ausmachten und deren Kraft der Realsozialismus nie ganz brechen konnte. Für die unga-rische Philosphie bedeutete diese Entwicklung, dass sie auf dem Boden einer Gesellschaft agieren musste, die damals sicherlich singulaer, realso-zialistische Diktatur und Konsumdemokratie miteinander vereinen wollte. Zu einer neuen Synthese von Rationalitaet und Emanzipation dürfte aber der „Gulasch” im ungarischen Kommunismus nicht unbedingt relevant bei-getragen haben.
Man sieht: inhaltlich erweisen sich wichtige Momente der Ontologie nicht nur als haltbar, sondern auch noch aktuell oder sogar zukunftsweisend. Man kann jedoch den Grund des Scheiterns auch schnell angeben, auch wenn man ihn lange noch nicht ganz verstehen, bzw. rekonstruieren kann. Der Grund des Scheiterns erscheint bereits in einer der Kritiken dieses Werkes.
Wilhelm Raimund Beyer zeigt den Schwachpunkt dieser neuen Konzepti-on des spaeten Lukács bereits 1970 in aller Deutlichkeit auf, was um so grössere Leistung ist, dass Beyer das ganze Werk noch nicht kennen konnte. Sein wesentlichster Einwand gegen die Ontologie ist deren Ein-stellung der “Erkenntnistheorie” gegenüber. Die explizit antipositivisti-sche Dimension dieser Konzeption mochte ihm aufgrund der ihm be-kannten Texte noch gewiss nicht klar gewesen sein, so dass der daraus entwachsende gleichzeitige Kampf Lukács' gegen Positivismus und He-gelianismus Beyer ebenfalls noch nicht ganz klar werden mochte. Eben-falls nicht ganz einleuchtend ist ihm die Richtung der “Ontologie” gegen den Schul- und Katheder Histo- und Diamat geworden.
Was ausgesperrt wird, ist das Hegelsche Paradigma der philosophischen Kohaerenz. Zusammen mit den anderen strategischen Entscheidungen von Lukács führt dieser Schritt zu einem neuen Begriff des Philosophi-schen. Die Identifizierung dieses Destruktionswillens wirkt erstaunlich, die Wahrnehmung dieser gewaltigen Wende gibt zu denken. Letzten En-des stand eben Hegel (in der Form der mit ihm konformen Interpretati-on der Marxschen Textur) im Mittelpunkt des bis dahin paradigmati-schen Neomarxismus. So gesehen, dürfte also sowohl Lukács' Ansatz als ein Bruch innerhalb des kommenden Neomarxismus gelten. Dass der reife Lu-kács im Zeichen einer mehr oder weniger Hegelschen philosophischen Sichtweise verhaftet blieb, ist ebenso allgemein bekannt, wie die Tatsa-che, dass die zentrale Denkschule des westlichen Marxismus der sechzi-ger Jahre, die Frankfurter Schule, in ihrer Negativen Dialektik seinen Kampf gegen den Positivismus auch aufgrund dieser Positionen ausficht. Aus Lukács’ Bemerkungen geht dann hervor, dass seine praeparadigma-tische Ontologisierung ist es, die gegen Hegels Methodologie auflehnt.
Wenn die etwas uferlose Ontologisierung der philosophische Sichtweise gegen Hegel sich auflehnt, so ist es auf der Grundlage der unterschiedli-chen Ansaetze sehr allgemein noch zu verstehen. Gerade auf der Grund-lage dieser Ontologisierung ist jedoch die Auflehnung des Neopositivis-mus schon weniger verstaendlich! Hier sehen wir uns wieder mit einem tiefliegenden und strukturellen Widerspruch konfrontiert.
Lukács’ antiszientistische Einstellung ist sehr vielschichtig. Ihre Facetten lassen sich wohl nicht alle herausfinden, in seiner „Uferlosigkeit” dürfte man sogar von „Ontologisierung” der philosophischen Anschauung re-den müssen.
Denn waehrend Lukács die neue Form des Positivismus so fulminant angreift (vielleicht die Redakteure des Textes waren es, die dieses Prob-lem übersprangen), plaediert er gleichzeitig oft für einen „Objektivismus”, d.h. für einen höheren Respekt für Tatsachen und für die Realitaet über-haupt. Eine dieser Formulierungen lautet beispielsweise so: „Als ich En-de der vierziger Jahre eine scharfe Kritik des französischen Existentialis-mus veröffentlichte, habe ich einige nicht unwichtige Seiten dieser Philo-sophie aus der ideologischen Lage der ’Résistance’ abzuleiten versucht. Darin sah Fadejew ’Objektivismus’, denn das sei eine Entschuldigung für idealistische Denker, für Agenten der Bourgeoisie.”
Die Dualitaet der Sehnsucht nach einer neuen Achtung für die Tatsachen, nach ei-nem „Objektivismus” neuer Art, die ja hinter dem ganzen ontologischen Ansatz steht, sowie der feurigen Bekaempfung des Szientismus, Neopositivismus und der Erkenntnistheorie soll somit in die immer laenger werdende Liste der tiefliegenden Widersprüche auch aufgenommen werden, die die Gleich-zeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten des Marxismus der sechziger Jahre in der Person und im Werk des Georg Lukács zusammenfassend prae-sentieren kann.
Mit einer eventuell auch relevanten Erfahrung der wissenschaftlich-methodischen Zurückgebliebenheit und des an der Unmöglichkeit gren-zenden Ausmasses nicht-durchgeführter philosophischer Vorarbeiten sollte die Grundentscheidung Lukács' motiviert haben, ohne sichtbaren Widerstand von jenem Paradigma Abschied zu nehmen, welches in nicht geringem (vielmehr sogar in „historischem”) Masse von ihm persönlich inauguriert worden ist.
Die Ablehnung des durch Hegel dominierten Marxschen Paradigmas ist aber nicht die einzige strategische Entscheidung Lukács' bei der Begrün-dung seiner Ontologie. Sein zweiter folgenschwerer strategischer Ent-schluss besteht darin, unter den gegebenen neuen Umstaenden weder den klassischen Positivismus, noch den Neopositivismus als ernstzu-nehmende Alternative zur überwundenen und abgelehnten Hegelschen Denkweise ins Auge fassen zu wollen. Dadurch kaempft die Ontologie an zwei Fronten.
1947 noch sieht er die Ontologie ganz anders. In seiner Arbeit „Über Lenins Erkenntnistheorie” bekaempft er den ontologischen Ansatz in der Philo-sophie mit Argumenten, die er – natürlich mutatis mutandis – gerade in der Fundierung seines Spaetwerkes haette auch beherzigen können. Die neue Ontologie, so Lukács 1947, dichtet „im besten Fall” allgemeine Denk-formen in Wirklichkeit um, sie identifiziert die Gegenstaendlichkeit mit der Objektivitaet auf dogmatische Art. Er greift sogar Heidegger an, weil der letztere die erkenntnistheoretische Begründung der Grundkategorien des gesellschaftlichen Seins nicht anzugeben vermag.
Das Schicksal der Ontologie haengt also davon ab, ob der von Lukács a-postrophierte Neopositivismus tatsaechlich eine ontologische Alternatíve einer ontologischen Anschauungsweise ist, welche zwischen dem Hegel-Marxschen und der allgemein-positivistischen Paradigma sich die neue, dritte (!) ontolo-gische Sichtweise als legitimer dritter Weg profilieren kann. Erwiese sich bei-spielsweise die Gegenüberstellung (Neo)Positivismus-Ontologie als nicht tragfaehig genug, so waere Lukács gleich gezwungen gewesen, seine Vor-stellung von der Ontologie mit den einzelnen Varianten der positivisti-schen Theoriebildung zu konfrontieren.
Man könnte vorausahnen, dass der Neopositivismus auch zur Manipulati-on dienen kann. In dem Sinne würde Lukács seine These von dem mani-pulierenden Neukapitalismus sinnvoll fortsetzen. Lukács aber formuliert nicht so. Er ernennt den Neopositivismus zur Manipulation. So entsteht ein „Phantom-Neopositivismus”. Es geht dabei um jenen Carnap, der alles Nicht-Szientistische für Metaphysik erklaert und nicht um den Ver-fasser des Der geistige Aufbau der Welt, aus dem paradoxerweise der Lukács der Ontologie vieles schöpfen könnte. Lukács' schwerwiegendstes Argu-ment und somit grösster Angriff auf den soeben angeführten Neopositi-vismus ist, dass er die „sichtbare” Welt, das „Konkrete”, das „Ge-genstaendliche”, d.h. die Ontologie manipulativ vernichtet. Lukács nimmt nicht wahr, dass seine Position durch seine vehemente Ausschal-tung der Verifikations- und Legitimationsseite kritisch geschwaecht wird. Die manipulative Potenz des Neopositivismus kann nicht vor der Verifi-zierung erfolgen. Diese verfehlte Einstellung des Anti-(Neo)Positivismus weitet sich bei Lukács, wie bereits angeführt, zu einer generellen Attitüde aus, die sich gegen die Erkenntnistheorie richtet.
Nun würde es Lukács durchaus schwer gefallen sein, auch für die ganze Geschichte der philosophischen Disziplin der Erkenntnistheorie geltend zu machen, dass sie manipulativ ontologische Fundamente eliminiert. Andererseits - und dies ist vielleicht noch schwerwiegender - ignoriert Lukács durch diesen Verdacht wieder einmal die Thematisierung der phi-losophischen Begründungsproblematik. Viel ist von der ”ideologischen Funktionen” der Erkenntnistheorie die Rede, wie als ob die Erkenntnis-theorie primaer nur unter solchen Koordinaten untersucht werden dürfte und nicht eher einer sachbezogenen immanenten Untersuchung unter-zogen werden müsste. Methodisch gesehen begeht er auch den Fehler, dass er die Attribute einer ideologiekritisch durchgeleuchteten Erkennt-nistheorie auf so nicht erschlossene Erkenntnistheorien generalisiert. Somit schneidet er sich selber vor der Artikulierung seiner grossen Intui-tion weg. Denn selbst der makelloseste Neopositivismus kann als In-strument der Manipulation dienen. In diesem Fall haette aber Lukács nicht den Namen Carnap, sondern den von Popper genannt haben müs-sen.
Der gleichzeitige Kampf Lukács' gegen die beiden Richtungen und führt ihn - und damit nehmen wir eine unserer Thesen vorweg - auf ein metho-disches Niemandsland und zur Unmöglichkeit, seine kreative neue ontologi-sche Orientierung durchsetzen zu können! Wir wollen nicht apodiktisch sagen, dass das Ontologisieren des sozialen Seins nach der Auflösung der „Metaphysik” im Hegel-Marxschen Paradigma unbedingt zu einem Posi-tivismus führen muss. Anstatt dessen möchten wir hervorheben, dass diese Ablehnung, welche mit derselben jedweder Abarten des Positivis-mus gleichbedeutend ist, dazu führt, dass Lukács die Grundannahmen seiner Ontologie nicht begründen kann.
Lukács' Blindheit für die Begründungsproblematik laesst sich kaum erklaeren. Nicht selten weist er zum Beispiel auf Husserl, Scheler oder Heidegger hin, die Philosophien von ontologischem Anspruch inaugu-rierten und akzentuiert dabei nicht, dass die erwaehnten Denker die Be-gründungsproblematik auf ihre Art durchaus lösen wollten. Gerade das Spezifische, das von Kriterien Abhaengige in der Eigenart des Philoso-phischen geht Lukács in diesem spaeten magnum opus ab. Mit dem Abbau des Hegel-Marxschen Paradigmas landet Lukács in einer philosophischen Diesseitigkeit, in der er das Alltagsbewusstsein durch die Systematisierung der Hartmannschen Ontologie in die entscheidende Position stellt, ob-wohl seine Motive zu einer sozialen Ontologie durchaus relevant und noch dazu viel weniger rein akademisch motiviert waren als es bei Hartmann der Fall gewesen ist. Es kommt aber auch vor, dass er - indem er sich auf ein Zitat von En-gels stützt - eine „ganz neue Ontologie” umreisst, welche laut seiner ei-genen Darstellung mit einer Anschauungsweise der positivistischen Ge-nealogie zusammenfaellt. Die durchaus unbestimmte „konkrete Entfal-tung der wahren Realitaet” als „Ontologie”erscheint ihm also anstatt der klaren Umrisse einer positivistischen Genealogie.
Das wissenschaftstheoretisch wie philosophisch wohl wichtigste Beispiel für die Lukács'sche Blindheit für die Differenz von Alltagsbewusstsein und Wissenschaft ist die Interpretation von Darwins Theorie bei Nicolai Hartmann. Hier stellt Lukács mit grosser Freude fest, wie Darwins Theo-rie der natürlichen Auslese ohne „spekulative” Setzungen zu einer Teleo-logie kommt, die eigentlich keine klassische Naturtheologie ist, d.h. die Arten entstanden nicht aufgrund einer inneren natürlichen Teleologie, sondern aufgrund an sich a-teleologischer Momente. Lukács sieht Dar-wins Theoriebildung als einen Konstrukt an, der nicht als etwas metho-disch Wissenschaftliches, sondern als ein Produkt des Alltagsbewusst-seins ist. Nun ist es auch nicht schwierig, an dieser sowohl wissenschafts-logisch wie auch wissenschaftsgeschichtlich so berühmten Stelle nach-zuweisen, dass Darwins Vorstellung über die natürliche Auslese alles an-dere als Verlaengerung des Alltagsbewusstseins ist, sie ist ein klassischer Fall der positivistischen Theoriebildung der Realkausalitaet als Interpretation. Darwin erwaegt zunaechst jede einzelne Realkausalitaet, die zur Entste-hung der Arten je beigetragen haben. Schon deshalb geht seine Taetig-keit weit über die Sphaere des unreflektierten Alltagsbewusstseins hinaus. Als Fortsetzung dieser Reflexionsarbeit kommt er am Ende zum Prinzip der „natürlichen Auslese”, das er dann in unbeschreiblich klarer Konse-quenz „Theorie” nennt. Was dann bei ihm den Unterschied zwischen dem mit dem Status der Theorie versehenen Prinzip der „natürlichen Auslese” und den einzelnen Realkausalitaeten ausmacht, können wir in dieser Arbeit nicht aufzeigen. Das Wesentliche ist, dass seine Reflexion auf die einzelnen konkreten Arten der Realkausalitaet, die eben das um-fassende Moment in der Genealogie der Lebewesen ist, nicht nur nicht aus einfachen Beobachtungen des Alltagsbewusstseins entstand, sondern aufgrund eines durchaus komplizierten Interpretationsprozesses, dem Lukács nicht gerecht wird. Er sagt es in aller Deutlichkeit aus, dass in seiner Auffassung die natürliche Auslese ein Produkt der natürlichen Beo-bachtungstaetigkeit des Alltagsbewusstseins ist, welches seinerseits sich „auf die Wissenschaft stützt”. Damit bezeugt er, dass er die vielfachen positi-vistischen Merkmale dieses Prozesses nicht identifizieren kann und aus dem einem durch und durch sophistizierten Positivismus einen Beweis zu einer funktionierenden Einstellung des Alltagsbewusstseins macht.
Die vorhin angeführten wichtigsten Eigenschaften der Ontologie erklaeren die einzelnen Züge der Hegel-Kritik des Werkes. Es geht um eine Hegel-Kritik, die von dem Gesamtentwurf des Werkes vollkommen vor-gepraegt ist. Gelobt wird Hegel (vor allem im Vergleich zum Erkennt-niskritiker Kant), weil die historische, prozessartige Natur des Seins phi-losophisch thematisiert. Ebenso klar umrissen ist die Motivgruppe der Ablehnung Hegels: Es geht um die stete Logisierung von ontologischen Konstellationen. Letztlich wiederholt Lukács in seinem ganzen Werk diese zweifache Hegel-Deutung. Einerseits verstaerkt die anti-erkenntnistheoretische Haltung Hegels seine diesbezüglich relevante Po-sition, andererseits aber lehnt er ihn, wie erwaehnt, wegen seiner Logisie-rung der Ontologie ab (mit der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schon etwas merkwürdig vorkommenden These: „die Theorie des identi-schen Subjekt-Objektes ist ein philosophischer Mythos”).
Die bei der Erschliessung der Ontologie rekonstruierten Eigenschaften des spaeten Lukács kommen - wie uns scheint - auch in seinen Auf-zeichnungen, betitelt Demokratisierung heute und morgen (geschrieben 1968) wieder.
Waehrend die ursprüngliche deutsche Fassung 1985 in Ungarn in der O-riginalsprache bereits erschien, publizierte man die ungarische Überset-zung des Textes 1988, so dass – als aktuelles Beispiel für die Relevanz der Publikations- und Rezeptionsgeschichte in jeder Interpretationsfrage der Lukács’schen Philosophie - diese Aufzeichnungen des damals schon sehr alten Philoso-phen etwa zwanzig Jahre auf ihre Veröffentlichung warten mussten. Dies bedeutet aber keineswegs, dass der Inhalt dieser Aufzeichnungen der un-garischen oder der internationalen philosophischen Öffentlichkeit gaenz-lich unbekannt geblieben waere. Manche Impulse dieser Aufzeichnungen wurden schon in den „Gedankenverkehr” der siebziger und der frühen achtziger Jahre einbezogen. Man gewinnt sogar nicht selten den Ein-druck, dass einige Ansaetze dieses Werkes auch noch die geistigen Fun-damente der Perestroika beeinflussten.
Der alte Lukács bezieht einen anti-stalinistischen Standpunkt, in welcher Kritik die Stalinsche Praefaerenz der politischen Taktik gegenüber der Strategie und der Theorie als Leitgedanke auftritt. Sein Anti-Stalinismus wird, wenn auch nicht prinzipiell, so doch praktisch durch jene Einsicht relativiert, dass er Stalins Rolle in der Entfaltung einer sowohl wirtschaft-lich wie auch militaerisch starken Sowjetunion, sowie Stalins taktische Faehigkeiten an zahlreichen Stellen hervorhebt. Die Differenzen zwi-schen Lenin und Stalin werden von Lukács sorgfaeltig herausgearbeitet, waehrend er fast überhaupt nicht auf die vielschichtige und kathartische Problematik des Stalinschen Terrors (und der damit zusammenhaengen-den möglichen „Dialektik des Leninismus” und der dahinter möglicher-weise stehenden „potenzierten Dialektik des Marxismus”) eingeht.
Zur Begründung der im Mittelpunkt stehenden „Demokratisierung” lehnt Lukács jegliche Aehnlichkeit mit der bürgerlichen Demokratie ab. Um so auffallender ist, dass er gleichzeitig und im Zusammenhang mit dem Sozialismus eine deutliche Anti-Citoyen-Haltung artikuliert. Aus sei-nen konkreten Optionen soll an dieser Stelle jenes neue Bild der Öffent-lichkeit in den Mittelpunkt gestellt werden, das dem glasnost sehr aehnlich konstruiert ist.
Nach dem Lesen der Demokratisierung heute und morgen stellt sich die fol-gende Frage: Welche Anregungen können diese, der Öffentlichkeit zu-gaenglich gemachten Aufzeichnungen für das Reformwerk der sozialisti-schen Gesellschaften Ende der achtziger Jahre gegeben haben? Es gilt zwar unveraendert, dass viele Impulse dieser Aufzeichnungen schon frü-her in die theoretische Diskussion eingeflossen sind. Sieht man von die-sen ab, so scheint das grösste Problem darin zu liegen, dass die Sprache der „Demokratisierung” von einem realen, aber prinzipiell gedachten So-zialismus-Bild ausgeht, welches sich den Sozialismus letztlich als real, a-ber nicht in den dringenden politischen und ökonomischen Alltagsprob-lemen der siebziger und achtziger Jahr vergegenwaertigt. Die Zeitroulette der Publikations- und Rezeptionsgeschichte ist hier auch im Spiel. Der Verfasser der Demokratisierung-Schrift konnte die wirtschaftliche Krise von Polen und Jugoslawien, die eingefrorene Breschnew-Periode oder den linkstotalitaeren Bonapartismus eines Ceausescu keinesfalls voraus-sehen. So eröffnen sich in der „Sprache” des Werkes kaum konkrete, pragmatische, analytisch herausgearbeitete politologische Horizonte, die zur Umgestaltung dieses oder jenes sozialen Bereiches Ende der achtzi-ger Jahre in Anspruch genommen werden könnten. Auf diese Weise er-öffnet sich eine sichtbare und vor allem neuartige Kluft zwischen Theorie und Praxis.
Die im historisch-idealtypischen Sinne verwendeten Begriffe vom Sozia-lismus und Kapitalismus waeren sicherlich in der Demokratisierungsschrift keineswegs fehl am Platze. Es fehlen aber Momente in dieser Analyse, die in der Sprache des Lukács der sechziger Jahre zwar noch sehr vor-sichtig über die neuen funktionalen Verflechtungen des modernen Kapi-talismus (die bereits erörterte Problematik der Manipulation und der Vernetzung) ausgesprochen werden.
Redet er konkret über die Demokratisierung des Sozialismus, so faellt es auf, dass er den ganzen Prozess holistisch mit einer „Wiederherstellung der Marxschen Methode” identifiziert und denselben letztlich als ein „von oben” und „zentral” gelenkten Prozess sich vorstellt. Schon in die-ser Attitűde laesst sich ein weiterer tiefer struktureller Widerspruch sorgfaeltig studieren. Denn nehmen wir an, dass diese Lenkungsweise pragmatisch auf realistischen Einschaetzungen ruht, so es muss doch gleich ins Auge springen, dass eine von oben und zentral gelenkte „Demokratisierung” auf diese Route nicht sehr weit voranschreiten kann. Denn so stichhaltig es pragmatisch an sich auch sein mag, die Verstaerkung der inneren Par-teidemokratie und die Öffnung der innerparteilichen Kommunikation und Diskussionskultur, die deutliche Trannung von Partei und Staat, die Vermeidung einer Allusion auf ein mögliches Mehrparteiensystem (zwölf Jahre nach 1956 und zur Zeit des Prager Frühlings!) tragen diesen Grundwiderspruch mit sich immer weiter fort. Die Herausforderung der Demokratisierung wird ernst genommen, auch auf dem Wege einer Er-neuerung des Marxismus, bzw. eines Rückgangs auf dessen wirkliche Fundamente. Die vorstellbaren Konkretisierungen dieses Vorhabens verbleiben jedoch im Raume des sog. „demokratischen Zentralismus”, der als eine etwas populaer verstaendlichere Version des real existierenden Le-ninismus gelten dürfte. Im Text selber spannt sich also ein weiter Bogen zwischen dem Ernst der historischen Stunde (die Notwendigkeit und der fundamentale Charakter der Reformen) und der Vorsichtigkeit in der praktischen Konkretisierung der Voschlaege.
Lukács will hier die wirklichen und für jeden namenlosen Staatsbürger entscheidenden heissen Probleme der Macht, der Machtausübung und der sonstigen Tabus des realen Sozialismus wenn auch nicht gaenzlich vermeiden, so doch sie nur auf „Blumensprache” von Insidern anrühren (was unter anderen auch zur Konsequenz führt, dass man zur selben Zeit die verschiedensten Interpretation machen kann, indem man den einzel-nen erkannten oder unerkannten Momenten je verschiedene Bedeutun-gen zumisst).
Mit dieser Einstellung haengt zusammen, dass Lukács nicht so sehr die umfassenden und grossen Dimensionen unmittelbar anpackt (was an sich schon ein wahrnehmbarer Stilbruch im Kontext der politischen Rhe-torik des Realsozialismus ist), sondern die manchmal sogar spontanen Ergebniss der endogenen Entwicklung (so wird der sog. „Gewöhnung” der Gesellschaft im realsozialistischen Raum eine erhebliche und überra-schende Bedeutung zugeschrieben , was allein schon deshalb erwaeh-nenswert ist, weil „gewöhnlich” die bewusst durchgeführten Schritte der zentralen Macht und nicht die spontaten sozialen Prozesse zu histori-schen Aenderungen führen mögen). Dieser endogene Ausgang wird an einer Stelle so formuliert: „…wir müssen vielmehr bestrebt sein, zu alle-rerst die gegenwaertig reale Seinsweise des Socialismus, sein heutiges Ge-radesosein gesellschaftlich-geschichtlich zu erfassen, um von dort ausge-hend die Probleme der Demokratisierung zu formulieren versuchen.” Diese Strategie zeigt isomorphe Züge mit dem neuen ontologischen Ausgang der gan-zen Philosophie. Neben dem grossen Wechsel in dieser Strategie im Verhaeltnis der rituell gewordenen galaktischen Dimensionen der Welt-geschichte und des Klassenkampfes muss aber auch auffallen, dass an diesem Punkt auch wohl die tiefste Wurzel der Lukács’schen Philosophie anders wird. Es geht um jenen Grundzug, den auch der Lukács der sech-ziger Jahre unaufhörlich als das eigentliche Spezifikum seines Philoso-phierens hervorhebt: Es geht um das Moment der Versöhnung oder der Nichtversöhnung mit der Wirklichkeit.
Der Lukács der Demokratisierungsschrift wie auch der der Ontologie
will die Wirklichkeit erkennen, wie es ist und sie erst dann veraendern.
Uns scheint, dass es eine der grössten Veraenderungen der sechziger Jah-re bei Lukács ist. Wissenssoziologisch bewahrheitet sich an dieser Ve-raenderung die klassische Mannheimsche These. Denn Lukács’ Versöh-nungskurs ist nicht allgemein philosophisch, auch nicht anti-kapitalistisch, er ist von dem Standpunkt des real existierenden Sozialismus aus gesagt.
Die Problematik der „Gewöhnung” (megszokás) beschaeftigte den alten Lukács, wie ersichtlich, also kontinuierlich. Er beruft sich ausdrücklich zu dieser Zeit auf eine „Theorie der Gewöhnung” bei Lenin, in deren Zeichen er (Lenin) bereits zur Zeit des Kriegskommunismus jede soziale Bewegung aufmerksam verfolgte und unterstützte, in denen er den Keim einer Zukunft erblicken konnte, welche Zukunft „die Herrschaft der Gegenwart über der Zukunft zu verwirklichen” half.
In dieser strukturellen Position ersteht ein neuer Raum für par excellence sozialistische Lebens- und Bewusstseinsformen . Der Kontext ist klar: Der Sozialismus muss reformiert werden. Seine Chance besteht nach Lukács nicht mehr in der direkten Auseinandersetzung mit dem Gegner, son-dern in den Früchten eines endogenen Entwicklungsprozesses. Die anvi-sierten genuin sozialistische Lebens- und Bewusstseinsformen sollten von positiver Natur sein, in Wirklichkeit erwiesen sie sich stets als Antipo-den einer relativ treffend beschriebenen westlichen Manipulationskultur. Dieser Ansatz wird in Ungarn in der Kulturpolitik, vor allem in György Aczél’s Kulturpolitik der „közműveltség” (etwa: „Gemeinbildung”) auch Wirklichkeit, die zwischen der alten Popularisierung von Kultur und Kunst und den professionellen Wissensformen eine gemeingesellschaftli-che, sozialistisch gefaerbte und nicht manipulierte Kultur auf den Plan rufen wollte. Hier treffen wieder einen (nicht den ersten!) genuinen und neuen Widerspruch dieses historischen Zeitalters, der mit dem Lukács der sechziger und siebziger Jahre (im letzteren Fall geht es eher natürlich um die Wirkungsgeschichte). Für die Gesellschaft waere eine weiter nicht mehr bestimmte Freiheit mit einem Begriff der Demokratisierung ver-einbar. Ohne sie hatte ein kulturelles Universum, in welchem eine Alter-native zu einer neuen manipulativen westlichen Kultur haette aufgestellt werden müssen, wenig Chance auch selbst zum puren Verstaendnis die-ses Ansatzes.
Verwandt ist die Demokratisierungsschrift mit der Ontologie in jener wieder-um explizit nicht ausgesagten Annahme, dass der Realsozialismus kein Produkt eines „klassischen” Entwicklung ist, so dass seine aktuellen Probleme ebenfalls nicht als konsequente und notwendige Schwierigkeiten des Sozi-alismus angesehen werden dürften. Es schliesst nicht aus (im Gegenteil, es unterstreicht um so staerker), dass Lenins Machtübernahme eine legi-time war. Gerade in ihrem legitimen Geradesosein liegt der Grund für den nicht-klassischen Charakter! Dass wir es wieder mit einem zutiefst strukturellen Widerspruch dieser Phase des Umdenkens zu tun haben, versteht sich von selber!
Im wesentlichen beherrscht die Idee des faktisch nicht-klassischen Cha-rakters der realsozialistischen Entwicklung den spaeten Lukács. Wieder-um ketzerisch sagt er dazu aus, so eine Entwicklung hat keine Theorie, niemand, selbst Lenin nicht, formulierte eine solche Theorie! Daher die uferlose neue Freiheit im Prinzip und die gleich darauf folgende Idee, dass es überhaupt keinen Politiker in der Sicht ist, von dem er annehmen könnte, dass er diese Situation versteht. Das Vorherrschendwerden der These des nicht-klassischen Types der realsozialistischen Entwicklung ist eine scharfe Kritik an der Vergangenheit und eine Einsicht, die auch noch für die Gegenwart nur sehr vermittelt kommuniziert werden kann. Diese Momente bilden wieder einen tiefliegenden strukturellen Widerspruch, wenn man sie mit jenen Chancen konfrontiert, die nach Lukács philoso-phisch in dieser Situation auch enthalten sind.
Eine wahre Ironie des Schicksals (die mutatis mutandis auch für die Deu-tung der ganzen bisherigen Rezeptionsgeschichte von Lukács von weit-reichender Bedeutung ist) ist, dass etwa dieselbe Zeitspanne die Entwer-fung und die Publikation der Demokratisierungsarbeit wie die beiden Kul-minationspunkte der europaeischen Intellektuellengeschichte verbindet. 1968 konzipierte Lukács diese Arbeit (zur Zeit des Höhepunktes der Neuen Linke). 1988 erschien sie, zur Zeit des Höhepunktes des anti-kommunistischen Neoliberalismus. Beide Höhepunkte waren komplexe Krystallisationspunkte der neuzeitlichen Intellektuellengeschichte. Der Weg der Intellektuellen zwischen Neomarxismus und Neoliberalismus markieren diese Zeitspanne, kein Wunder, dass ein und derselbe Konzept über die Demokratisierung des Realsozialismus so überaus unterschiedlich Aufnahme zei-tigt.
Sowohl 1968 als auch 1989 laesst sich (wenn auch nicht ausschliesslich) als das Werk der modernen Intelligenz bezeichnen. Sie, als eine wahre neue Klasse, erschien in beiden Situationen als ein markantes soziologi-sches Gebilde auf dem Plan. Der grosse Unterschied zwischen den bei-den umfassenden Wendepunkten war aber, dass die neue Klasse der In-tellektuellen 1968 ihren (soziologisch wie intellektuell) eigenen Konzept zu verwirklichen suchte, waehrend es 1989 eher um die Ausführung (der vollkommen legitimen) soziologischen Ersatzfunktion ging. Die neo-marxistische intellektuelle Klasse war die Traegerschicht von 1968 (und nicht zuletzt von Lukács’ weitem Ruhm), die neoliberal gewordene intel-lektuelle Klasse war die Traegerschicht von 1989 (und die Überwinder, wenn nicht eben die grösste Feindin des Marxismus und nicht zuletzt auch von Lukács). In dieser Hinsicht war 1989 ein merkwürdiger play back von 1968.
So laesst sich zeigen, dass die simple Frage der möglichen Wirkungsge-schichte der Demokratisierungsarbeit jenen ganzen Horizont heraufbe-schwört, der für die Nachwelt der Lukács’schen Philosophie so bestim-mend war. In diesem Zusammenhang muss man sagen, dass im konsoli-dierten Realsozialismus jener Jahre eine neue Klasse der Intellektuellen (und sei es der linken oder rosaroten) eine vielfache Herausforderung bedeutete. Zunaechst entwickelte sich eine neue intellektuelle Klasse im Schosse des Realsozialismus. Von der Logik der Ereignisse diktiert, wa-ren die ersten Wellen und Generationen der neuen intellektuellen Klasse mehrheitlich links eingestellt (das passte den Prozessen der sechziger Jahre auch weitgehend). Es war aber nur die Frage der Zeit, dass auf der Basis dieser neuen Klasse auch Intellektuelle anderer Provenienz auftre-ten und die gleichen intellektuellen und medialen Freiheiten fordern, die die vom System beförderten oder zumindest tolerierten linken Intellek-tuellen erhalten haben. Der neue Problemkreis der Entstehung der neuen Klasse der Intellektuellen war dadurch auch noch relevanter, dass diese neue Klasse in einer erstaunlich kurzen Zeit zum Sozialisierungs-vorbild für die damalige Jugend im Westen und im Osten wurde. Dieses neuen Phaenomen war mit der strukturellen Simplizitaet eines poststali-nistischen Realsozialismus kaum ohne Probleme in Übereinstimmung zu bringen.
Die Herausforderung der neuen Klasse der Intellektuellen geht aber mit diesen Konflikten noch nicht zu Ende. Denn die neue Klasse haette ihre opti-male Stellung im damaligen Realsozialismus auch aus anderen, tieferen und strukturellen Gründen nicht finden können. Denn das realsozialisti-sche System stand vor der permanenten Herausforderung von weitge-henden Reformen. In dieser Hinsicht waere eine neue Klasse der Intel-lektuellen für das System geradezu ideal gewesen. Auf der anderen Seite waere eine strukturelle Integration dieser neuen grossen Gruppe wegen der vollkommen entwickelten Machtstruktur eine unvorstellbare Un-möglichkeit. Die realen Prozesse geben ein treues Bild von diesem neu-artigen Konflikt. Da das System die staendige intellektuelle Innovation brauchte, eine Klasse der Intellektuellen in keiner konkreten Form aber akzeptieren konnte, hatte man versucht, selektiv zu verfahren. Auf der einen Seite steigerte man die Kontrolle der Intellektuellen, auf der ande-ren Seite versuchte man, mit ihnen selektiv zu kooperieren und sie zum Teil auch zu privilegieren (was in problemlos nachweisbarer Weise im Bewusstsein der anderen sozialen Gruppen schnell zur Evidenz wurde).
Selbst aber diese selektive Politik den Intellektuellen gegenüber enthaelt noch nicht das Moment der wahren Dialektik der Intellektuellen im Realso-zialismus. Waehrend naemlich auf der einen Seite der selektive Dialog mit den Intellektuellen seinen Anfang nahm, startete auch die gewalt
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