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Die zeitliche Entfernung führt zur räumlichen Annäherung, behauptet Peter Szondi in Bezug auf Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert". Auch Peter Henisch kehrt in seinen Wien-Romanen in die Stadt seiner Kindheit zurück, wobei nicht nur die zeitliche Distanz für die räumliche Annäherung eine notwendige Rolle spielt, sondern auch umgekehrt. Es ist der Raum, die Stadt, die die Erinnerung an die Vergangenheit weckt und den Erzähler an die Geschichte der kleinen Frau, seiner Großmutter, heranführt.
Peter Henisch lebt in Wien, aber es scheint, dass für seine Figuren die Flucht aus Wien notwendig ist, um jenen Abstand zu schaffen, der die neuerliche Annäherung an die Heimatstadt ermöglicht. Paul Spielmann, wie schon zuvor Peter Jarosch im Roman "Schwarzer Peter", verlässt also Wien und kehrt nach vielen Jahren aus den Vereinigten Staaten zurück. Wer dieser Paul Spielmann ist, erfährt der Leser im Lauf der Geschichte, die als Prozess der Wiederentdeckung der eigenen Identität durch die Vergangenheit angelegt ist.
Paul Spielmann, ehemaliger Schriftsteller und später Germanistikprofessor an der Universität in Maine, kehrt nach vielen Jahren nach Wien zurück. Hier lösen Gegenstände und Räume die Erinnerung an seine Großmutter, die jüdische Wienerin Marta Prinz, und somit an seine eigene Kindheit und Jugend in dieser Stadt aus. Er entschließt sich einen Roman über sie zu schreiben.Paul Spielmann exploriert Bezirke, durchgeht die Wege seiner Kindheit und liest die Bücher, die seine Oma las. Er lässt sie in der Gegenwart leben und in ihrem Jargon sprechen. In diesem Prozess der Vergegenwärtigung begleitet sie ihren Enkel durch Wien und die Zeit. Wie einst erzählt sie Geschichten aus den Romanen, die sie las. Die Bücher der Großmutter sind notwendig, um Martas Gefühlswelt zu veranschaulichen: "Die Bücher und ihre Inhalte. Die Bücher und ihre Geschichten. Wenn ich einen Roman über mich und die Großmutter schriebe, sollte ich eher damit beginnen", sagt der Erzähler.
Der Leser gerät somit in einen Erzählfluss, der ihn durch die Geschichte und auch die Sozialgeschichte Österreichs im vorigem Jahrhundert führt. Die Heimkehr gewinnt somit eine emblematische Bedeutung; es ist als ob der Erzähler durch die räumliche Annäherung in die Vergangenheit zurückkehrt, so als ob dies notwendig sei, um das Leben in der Gegenwart erträglich zu machen. "War das nun eine Flucht aus der Gegenwart? Möglicherweise. Aber die Gegenwart floss doch aus der Vergangenheit. Wo treiben wir her, wo treiben wir hin - und warum lassen wir uns so treiben? Ich wollte versuchen, wenigstens einen Teil dieser Vergangenheit zu begreifen."
Mit "Eine sehr kleine Frau" setzt Peter Henisch jene Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte und des Nationalsozialismus fort, die er mit "Die kleine Figur meines Vaters" begonnen hat. Eine Auseinandersetzung, die nicht nur den Autor, sondern auch viele andere Österreicher betrifft. Peter Henisch betrachtet die "große Geschichte" durch die Geschichte der "sehr kleinen Frau", noch eine "kleine Figur" deren persönliches Schicksal jenes einer Generation ist, die in einer schwierigen Zeit leben (und überleben!) musste. Auch der Erzähler, Paul Spielmann selbst, gehört viel mehr als seine jüngeren Geschwister zu jener Nachkriegsgeneration, die das schwere Gewicht der Nazizeit tragen soll. Durch die Rückkehr in die Vergangenheit findet eine Art Versöhnung mit der Gegenwart und mit seiner Heimat Österreich statt.
Der Schlüssel in seiner Geschichte scheint ein Klavier zu sein, ein Bösendorfer, den Paul Spielmann im Schaufenster eines Altwarenhändlers sieht und in dem er glaubt, jenes Klavier zu erkennen, das einst überraschend in der Wohnung seiner Oma stand. Ein wertvolles Stück, das sie zu ihrem eigenen Vergnügen gekauft und sehr plötzlich (und genau so unerklärlich) kurz vor ihrem Tod wieder verkauft hatte. Den Grund für den Verkauf erfährt Paul Spielmann erst jetzt, nach so vielen Jahren, durch den Inhalt eines Koffers, der bei seinen Neffen gelandet ist. In diesem Koffer findet er neben Familienfotos und ein one-way Flugticket nach Jerusalem. Offensichtlich hatte Marta den Flügel verkauft, um den Flug nach Israel zu bezahlen. Sie wollte sich am Ende ihres Lebens mit ihrer jüdischen Identität versöhnen, jener Identität, die sie während der Nazizeit, genau wie Walter in "Die kleine Figur meines Vaters", leugnen musste.
Paul Spielmann kehrt nach Wien zurück, und im Gegensatz zu Peter Jarosch in "Schwarzer Peter" scheint er hier wieder leben zu können. Für Peter Jarosch bleibt New Orleans das multikulturelle Paradies in dem "der schwarze Wiener" leben kann. Für Paul Spielmann ist es anders: Nach zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten fühlt er sich plötzlich fremd und unverstanden. Dies nimmt er erst wahr, als er versucht seinen Studenten den Wien-Autor schlechthin, nämlich Heimito von Doderer, zu vermitteln: "Is that german? Indeed? [...] Fuck off Termito von Hoderer!" ist die Reaktion der Studenten.
Es ist berührend, wie Peter Henisch mit der Geschichte der Großmutter sein eigenes Familienalbum weiter öffnet und bearbeitet, ob jedoch wirklich eine Versöhnung mit der Vergangenheit stattfindet, kann man nur ahnen. Bleibt Paul Spielmann, nachdem er alles in den USA verkauft hat, wirklich in Wien?
Abgesehen davon zeigt Peter Henisch mit dem Roman "Eine sehr kleine Frau" erneut, dass der beste Weg Geschichte zu begreifen über die Annäherung an die Geschichte der "kleinen" Menschen führt.
Antonella Cerullo27. August 2007
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