Überlebensübungen eines Europäers
Jorge Semprún y Maura erhielt am Sonntag den österreichischen Staats preis für europäische Literatur: Der KZ-Über lebende im STANDARD-Interview - Mit Semprúns Dankesrede
Mit Sebastian Fasthuber spricht der KZ-Überlebende über Europa, Marxismus und letzte Erinnerungen an Buchenwald.
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STANDARD: Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Semprún: Viel, weil es explizit ein Preis für europäische Literatur ist. Es ist auch schön, wieder in Salzburg zu sein. Hier habe ich 1964 einen meiner ersten Preise bekommen, den Prix Formentor für Le grand voyage.
STANDARD: Sie haben einen spanischen Pass, leben seit Jahrzehnten in Paris, haben aber auch viel Zeit mit deutschen Philosophen verbracht. Wo sind Sie zu Hause?
Semprún: Bin ich Spanier? Bin ich Franzose? Bin ich deutschsprachiger Intellektueller? Das weiß man nicht. Das weiß ich selber nicht immer. Natürlich, wenn ich zur Kindheit und zu den ersten Erfahrungen zurückkomme, bin ich Spanier. Europa war für uns wichtig als "geistige Gestalt", wie Husserl sagte, und Europa hat der spanischen Demokratie sehr geholfen. Wahrscheinlich bin ich erstens Europäer, zweitens Spanier. Ich glaube an die Zukunft von Europa. Aber ich bin nicht blöd optimistisch.
STANDARD: Ihr jüngstes Buch heißt: "Was bedeutet es, Europäer zu sein?" Liegt nicht ein Problem Europas schon darin, dass sich viele ihres Europäer-Seins gar nicht bewusst sind?
Semprún: Das ist eines der Probleme. Europa kann nicht nur ein Markt, eine ökonomische Gemeinschaft sein. Europa muss eine gemeinsame Vision der Welt haben. Dafür muss Europa die verschiedenen nationalistischen Triebe in diesem oder jenem Land bewältigen. Es ist andererseits leicht zu verstehen, dass es in Osteuropa nach der langen Periode der sowjetischen Gewalt mitunter eine nationalistische Reaktion gibt.
STANDARD: Momentan wird wieder einmal um die Führung Europas gerungen.
Semprún: Dass die Führung Europa traditionell eine französisch-deutsche ist, kann man aufgrund der Vorgeschichte der beiden Nationen, die so lang miteinander Krieg getrieben haben, verstehen. Heute muss man dieses Ehepaar aber erweitern. Europa braucht die Ostländer und die Südländer. Es braucht nicht mehr König und Kaiser, es braucht eine kollektive Führung. Natürlich ist das schwierig. Sie sehen, Europa hat lauter Probleme, aber ich mag es.
STANDARD: Wie weit sollte die Erweiterung gehen?
Semprún: Sicher bis zur Türkei. Heute sagt man, die Osterweiterung sei zu schnell gegangen. Weil wir schon verspätet waren. Die Integration der osteuropäischen Staaten hätte bereits 1989 anfangen müssen.
STANDARD: Sie kommen in Ihren Texten immer wieder auf den Austromarxismus zu sprechen. Wie sind Sie darauf gestoßen?
Semprún: Durch einen glücklichen Zufall. Ich hatte als 18-jähriger Philosophiestudent in Frankreich einige Bekannte, die aus Österreich emigriert waren. Jüdische Marxisten, die eine marxistische Bibliothek in deutscher Sprache mitgebracht hatten. Davon habe ich viel gelesen. Besonders wichtig war für mich Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács, in der ersten Ausgabe vom Malik Verlag.
STANDARD: Sie haben in Ihrer Zeit in der spanischen KP einige politische Enttäuschungen erlebt. Den Marxismus verteidigen Sie bis heute.
Semprún: Ich bin davon überzeugt, dass, wenn man auf die wichtigen Thesen von Marx zurückkommt, sie immer noch gültig sind. Natürlich sind die Sachen, die er sagt, strategisch und politisch nicht leicht zu verwenden. Aber theoretisch sind seine Analysen heute fast noch wichtiger als zu der Zeit, als er sie geschrieben hat. 1858 waren seine Behauptungen eine These, heute sind sie eine Realität. Der globalisierte Kapitalismus ist so, wie Marx sagte. Darum sollte man ihn lesen.
STANDARD: Sie haben das KZ Buchenwald überlebt, gegen Franco Widerstand geleistet, waren später spanischer Kulturminister, verfügen über eine unglaublich reiche Biografie. Ein exemplarischer Lebenslauf des 20. Jahrhunderts?
Semprún: Selber empfindet man das nicht so. Ich konnte mir nicht aussuchen, in Spanien geboren zu werden, als 13-Jähriger den Bürgerkrieg zu erleben, als 16-Jähriger den Weltkrieg und als 20-Jähriger das KZ. Aber ich konnte versuchen, das Erlebte später literarisch zu verarbeiten und so für mich aufzuarbeiten.
STANDARD: Es ist Ihnen gelungen, die Schrecken des 20. Jahrhunderts zu überleben und nicht daran zu verzweifeln.
Semprún: Ja, vielleicht ist das meine größte Leistung. Kann ich sagen, dass ich ein heiterer Mensch bin? Vielleicht. Hoffentlich. Aber bald schon wird es keine Erinnerungen an Buchenwald mehr aus erster Hand geben. Die letzte Erinnerung an das Lager wird eine jüdische sein, weil es jüdische Kinder dort gab. Später wird Vermittlung der Geschichte eine andere sein. Heute spreche ich zehnmal im Jahr mit französischen Schülern und Studenten über meine Erfahrungen in Buchenwald. Mit wem werden sie sprechen, wenn ich nicht mehr da bin?
STANDARD: 1992 haben Sie Buchenwald noch einmal besucht und gesagt, Sie wüssten bisweilen nicht, "ob das Leben seit Buchenwald ein Traum ist und nur Buchenwald die Realität ist, oder umgekehrt". Wie ist das heute?
Semprún: Heute ist das nicht mehr so. Die Erinnerung ist viel bequemer zu ertragen. Von Zeit zu Zeit habe ich Albträume, aber ich weiß genau, was Buchenwald und was das Leben vor und nach Buchenwald war. Ich schreibe gerade ein Buch, das Exercices de survie heißt - Übungen zum Überleben. Es ist ein Versuch, noch einmal systematisch auf einige Probleme meiner Biografie zurückzukommen. So etwas wie ein posthumes Buch zu Lebzeiten.
STANDARD: Ein anderes Buch trägt den Titel "Schreiben oder Leben".
Semprún: Früher habe ich im Gedächtnis des Todes geschrieben. Heute muss ich nicht mehr wählen, heute kann ich "Schreiben und Leben" sagen. (Interview: Sebastian Fasthuber / DER STANDARD, Printausgabe, 30.07.2007)
Dankesrede von Jorge Semprún in Salzburg
Wiedergeburt eines Dichters in Salzburg
Zur Person
Jorge Semprún y Maura wurde 1923 in eine großbürgerlich-linksliberale Familie geboren, die vor dem Spanischen Bürgerkrieg nach Frankreich floh. Als kommunistischer Partisan wurde Semprún von der Gestapo ins KZ Buchenwald deportiert. Nach seiner Befreiung war er politisch tätig, kämpfte unter dem Decknamen Federico Sánchez gegen das Franco-Regime. Seit den Sechzigerjahren thematisierte er sein Überleben in Romanen wie "Die Ohmacht" oder "Der Tote mit meinem Namen". Seine Werke hat er, bis auf wenige Ausnahmen, in französischer Sprache verfasst.
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