Verlag:
Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur, DomL
ISBN:
ISSN:
Publikationsdatum:
11. Juli 2015
Ausgabe:
Vorrätig:
YES
E-Mail:
Land: Czech Republic
Siehe auch: |
Praha * Torst 2014
1
„Na, also dann erzähl mir etwas über euer surrealistisches Atelier.“
Ivan zündet sich eine Zigarette an und beginnt hastig seine Eindrücke von der neuesten Ausgabe der Revue Minotaure mitzuteilen, bei der die meisten von den zoomorphen Kartoffelaugen Brassaîs beeindruckt waren … Aber dann gibt er zu, dass ihm persönlich die Eierschalen auf der Geige des Fany Povolný verständlicher erscheinen.
„Und wie oft trefft ihr euch eigentlich?“ unterbrach Slavek Ivans kurzatmige Auslegung, blieb dabei mit dem Blick irgendwo in der Baumkrone des Kastaniensbaums hängen und glättet dabei die auf seinem Bauch liegende grüne Krawatte, die bisher wie eine leere Schlangenhaut auf dem Tisch lag.
„Jeden Samstag, fast jeden…,“ schafft noch Ivánek zu sagen, bevor der Gastwirt mit seiner Hüfte laut die Tür aufstößt und dabei ein großes Bier mit einer Schaumkrone und einen Krug rubinroten Weines in der Hand hält.
Kurz nachdem er die Getränke auf den Tisch stellt und gehen will, beginnt Nezval zu reden:
„Óh, du wunderbare Melodie der Tage! Surrealistische Samstage sind weiß wie die Totenmaske eines Priesters und ich liebe diese weißen Samstage. Ivánek, ich liebe diese Ballönchen, die du leicht von den grauen, braunen, blumigen, sommersprossigen und den kleinkariert gemusterten Samstagen unterscheiden kannst ! Genauso unterscheidest du den Septembersamstag vom Novembersamstag, der wie ein Straßenrücken ist, auf dem sich Räder mit einem glimmendem Wagenkasten schleppen, ach wo denn, der Samstag ist für mich eine algebraische Zahl, statt der man irgendeine Zahl setzen könnte …“
„Fürchte dich vor dem Tag, Ivánek, vor dem Tag, an dem dich ein Zug nicht mehr bewegt!“ zitiert er ohne Übergang seinen geliebten Apollinaire.
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Crains qu’un jour un train ne t’émeuve plus!
„Die Zone, lieber Ivánek, die musst du gelesen haben, das ist ein Flughafen von dem Breton, Picabia und auch Éluard abheben; es war eben Apollinaire, L’Enchanteur Pourrissant, der schon während des Krieges den Begriff Surrealismus erfand …“
Jetzt aber wurde Nezval von zwei Mädchen eingenommen, die sich auf Deutsch unterhielten und über den Zaun in den Garten blickten. Verschwörerisch drückte er die Hand von Ivánek und schaute sie unverhohlen frech an. Die Mädchen lächeln ihn an und winken ihm sogar zurück, aber dann gehen sie weiter.
„Stell dir vor, dass ich in diesem Augenblick, ja ich fühle es plötzlich ganz und gar, von einer Atmosphäre umgeben bin, die ich schon einmal, bevor der Krieg ausgebrochen ist, erlebt habe.“
Beide trinken, Nezval bekommt feuchte Augen.
Ivánek wurde vom Apollinairschen Zug eingenommen. Er ist wahrscheinlich für den Surrealismus geboren worden, denn der Zug bewegt ihn nach wie vor. Manchmal geht er zu den Obstgärten und zu den Gewächshäusern fürs Gemüse in die südliche Vorstadt, wo der Fluss Svitava der Regulierung entgleitet und fast jeden Frühling die weiten Wiesen überschwemmt; er fließt dann entlang der Gleise, die die Züge nach Břeclav und Wien bringen. Kann etwas nostalgischer sein als pfeifende Züge, die die Menschen in die unabsehbare Ferne dem besseren Leben entgegen bringen? Und gibt es etwas Schöneres als einen wehenden Rauchschweif, aus dem der Wind die Funken herauskämmt!
Nach sechs Achteln Wein verschwindet alles in der Ferne…
2 (Seite 41)
Im April 1935 kommt André Breton mit dem Prager Schnellzug nach Brünn…
Für den Surrealismus eigentlich kein bedeutsames Ereignis, aber ein außerordentlicher Moment für die Burschen aus der Plankengasse. Nezval führt seinen Gast rasch ins Zentrum, um ihm vor dem hiesigen Rathaus aus auf „das zufällige Zusammentreffen von Rathaus, Krokodil und Rad“ aufmerksam zu machen; dann beeilt er sich, ihn mit der „Brünner Gisèle Prassinos“ also mit Katy King, der Tochter des surrealistischen Verlegers Jícha, bekannt zu machen.
Die echte Gisèle aus dem Städtchen Nanterre konnte mit vierzehn Jahren mit Hilfe der Methode des automatischen Schreibens „ungewöhnliche und erstaunlichste Bilder“ schaffen, so, dass sie „die Surrealisten mit der Kraft ihrer Imagination“ überwältigte und ihr Entdecker Breton schwor, dass alle Dichter auf sie eifersüchtig sind.
Libuška Jíchová verhalf ihr zu ihrer Position der führenden tschechischen Surrealistin, Tatsache ist, dass sie sich kurz nach der Matura vom ungestümen Slávek verführen ließ.....Und die interessantesten surrealistischen Gedichte, die sie je geschrieben hat, waren Briefausschnitte, die die Praxis im Seziersaal beschrieben.
Aber Breton hat ein volles Programm; gleich am Abend hat er einen Vortrag in der Hussiten- Kirche beim Botanischen Garten … aber auch hier gibt Nezval alles:
„Die hier, Meister sind die hiesigen jungen Surrealisten, les jeunes surréalistes locaux, sehr talentierte Jungs …“
Ivan Blatný und Jan Tomeš ziehen gemeinsam die frischgedruckten Ausgaben der Zeitschrift „Kommunizierende Röhren“ aus ihren Taschen.
Bevor er sie signiert, bleibt Bretons Blick an dem interessanten Umschlag haften. Seine Gestalterin ist Toyen. Breton sah dieses zierliche feste Mädchen mit burschikoser Ausstrahlung vorgestern das erste Mal, von nun an bleiben sie Freunde bis zu ihrem Tod. Der Künstlerin ist das gelungen, wovon Nezval jahrelang vergeblich geträumt hatte: nämlich durch den Austausch spontaner Liebe, und Ergebenheit zumindest, Bretons volle Gunst und Zuneigung zu erlangen …
„Hunderte Male durfte ich meinen Augen gestatten, immer wieder zu den glühenden Sternen von Bretons Augen aufzublicken!“ rief Nezval ein Jahr später in seinem Pariser Evangelium Rue Gît-le-Coeur aus. Er verlässt gerade Paris, er beugt sich aus dem Fenster — und gerade in diesem Moment explodiert in seinem Coupé unvermittelt eine Flasche Champagner.
Gerne würde er ein hundertunderstes Mal in Bretons Augen blicken, statt dessen muss er mit einem Tüchlein den Rock einer älteren Dame vom Champagner befreien. Zwischen den Entschuldigungen stürzte er zurück zum Fenster, er überließ die Dame ihrem Schicksal, — und der Zug setzt sich am Gare de l’Est unerbittlich in Bewegung. Mit dem vom Champagner verklebten Tüchlein winkt er und winkt er, der kleine Benjamin Péret steht auf dem Bahnsteig, wird immer kleiner und kleiner, bis er zu dem kleinsten surrealistischen Dichter auf der Welt wird, und Nezval sinkt erschöpft in seinen Sitz. Die Dame verschwand irgendwohin, hinter den Fenstern sausen Häuser vorbei; im Zirkuszelt Sláveks erhitzten Kopfes sprudeln Luftbläschen dieser Tagen, die ihm in diesem Augenblick und für alle Zukunft schon unumkehrbar der Vergangenheit angehören. Wie traurig es ist, sich von den Sterblichen zu verabschieden, denkt er sich, vor allem, wenn man selbst dem Tod geweiht ist. Welche Lappalie doch bewirkt, dass sie sich nie wieder treffen.
Die Madame kehrt ins Coupé zurück und überschüttet den Dichter auf Französisch mit vulgären Worten …
3 (S. 279)
Am Freitag, den 3. Mai 1948 sitzt im Brünner Café Flora eine Gruppe junger Autoren mit ihrem Patron František Halas zusammen. Der vorgestrige Tag der Arbeit hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, so wie auch alles andere in der letzten Zeit. Die Kommunisten bemühten sich – im Hinblick auf die sich nähernden Wahlen – Märsche im Geiste der vergangenen Volksfeste zu organisieren, allerdings war fast niemandem zum Lachen zumute. Auf großen Fotografien kamen ein letztes Mal, Seite an Seite, Stalin, Beneš und Gottwald zusammen.
Auch hier, im Café Flora, sitzen jene Burschen an einem Tisch, die bald die Schicksalsstürme in ganz entgegengesetzte Himmelsrichtungen auseinander wehen; sie führen staatsfeindliche Reden, der betrunkene Halas schlief mit der Stirn auf dem Tisch ein.
Das Getöse der Propagandakanonen dringt Tag für Tag von den Straßen in die menschlichen Behausungen und Gasthäuser. Man zweifelt nicht, dass ein neuer Kampf enbrannt ist, der seine Opfer fordern wird. Aus dem Blickwinkel der Strategen und Planer der besseren Zukunft bedeutet das gewöhnliche Fußvolk nichts; in ihren Händen verwandeln sich Tausende und Millionen von einzelner Menschen schnell in eine große Kugel Plastelin: sie ist das Volk.
Jemand zieht die erste Maiausgabe der Zeitschrift „Gleichheit“ hervor, in der die kryptische Geschichte über Ivan Blatný herausgegeben wurde:
„Das hier, Burschen, zahlt sich aus zu lesen; habt ihr es schon gelesen?“
Bohumír Polách, der Sohn eines Armeeoffiziers, der sich schon den Fünfzigern nähert, entschloss sich, den Kommunisten zu beweisen, dass sie sich auf ihn verlassen werden können. Er ist der Autor einer Reihe ziemlich erfolgreicher Operettenlibretti – die Operette ist doch das Genre für jede Epoche. Sie störte die Nazis nicht, also warum sollte sie von den Kommunisten verboten werden. Das einzig Wichtige an sich ist, gesehen zu werden …
„Ich habe es gar nicht gewusst, dass Blatný ihn gekannt hat.“
Die peinliche Stille am Tisch unterbricht ein Knall; irgendjemand am Nebentisch hat ein leeres Krügel auf den Boden geworfen.
Halas hebt schlagartig seinen Kopf und blinzelt vor sich hin…
„Wo ist Skácel?!“ platzt er im plötzlichen Erschrecken heraus.
„Er ist auf die Toillettte gegangen…“ sagt Jarda Dresler.
„Dann ist es gut…“ beruhigt sich Halas und fügt noch leise hinzu:
„Ich glaubte, dass er uns denunzieren ging.“
Dann trinkt er ein Schluck Wein aus einem Glas, es stört ihn nicht, dass es nicht seines ist. Kainar, dem das Glas gehört, will wissen, ob er František Polách gut kennt, ob er weiß, was er für einer er ist. Natürlich, sicher, schnaubt der einst noble Halas und zitiert voller Ironie in der Stimme die lobende Kritik von irgendjemand, nach der sich Poláchs Libretti „durch innovative Frische und mutigen Humor auszeichnen“.
„So hört ihn euch an, den mutigen Humor! Ivan hätte es sicherlich vor Lachen zerrissen.“
4 (Seitenzahl?)
Dreißig Jahre war Blatný auf Unterstützung angewiesen, die ihm der Staat gewährte.
In der Zeit, in der er in Hope House lebte, macht diese Beihilfe 15,30 Pfund pro Woche aus. Zwölf Pfund kostete die Wohnung und Essen. Keine dreieinhalb Pfund blieben Blatný für kleinere Ausgaben. Und jetzt sind mehr als 760 Dollar aus Kanada auf dem Weg!
„Den Scheck lege ich dem Brief bei,“ schreibt Josef Škvorecký drei Tage vor Heiligabend. „Diese Summe beinhaltet Ivans Honorar für die ganze Auflage plus 500 Dollar, die ein älterer Verehrer der tschechischen Poesie dem Verlag aus Toronto zukommen ließ. Er war von Ivans neuem Buch so begeistert, dass er nicht zögerte diesen großzügigen Scheck zu schicken.“
Das Geld kommt auf das Konto der Suffolk Area Health Authority Bank— und Blatný fordert, dass ihm das ganze Geld bis zum letzten Cent ausbezahlt werden soll. Auf die Frage, was er mit soviel Geld machen wird, antwortet er ohne zu zögern: er kauft sich um das Geld Zigaretten und Schokolade.
In diesem Augenblick fällt Frances wie ein Flugzeug im Sinkflug in diese Idylle ein und bestimmt kompromisslos, dass man Ivan maximal nur ein Pfund pro Woche auszahlen soll. …
Als zwei Jahre später ein unbekannter „Gönner und Verehrer“ auf Blatnýs Krankenhauskonto 455 Pfund ...einzahlt..., wiederholt sich die Situation punktgenau.
Frances, die sich sorgfältig darum gekümmert hat, dass Blatný das ganze Geld nicht für Blödsinn ausgibt, erzählt noch eine reizende Geschichte darüber, wie Blatný am Geldverdienen Gefallen gefunden hat.
„Es ist mir gelungen, dass er im Rahmen eine Arbeitstherapie wieder Gedichte schreiben konnte. Er war glücklich, weil er davor gezwungen war, Arbeiten zu verrichten, die er hasste. Als ich ihn aber nach einiger Zeit besuchen kam, wurde mir gesagt, dass Blatný eigentlich nicht schreiben will. Wirklich wahr? Ich wollte es nicht glauben. Aber dann hat sich herausgestellt, dass er darauf bestand, dass er, so wie die anderen, die entweder Teppiche knüpften oder Schirme für Tischlampen herstellten und dafür bezahlt wurden, auf einem Lohn für seine Gedichte bestand.
Ich bin zu ihm gegangen und habe ihm gesagt, dass er wirklich unglaublich faul ist; aber er schaute mich sehr ernst an und sagte:
,Da irrst du dich, Frances, die Dichter arbeiten wirklich sehr hart.‘“
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