Die Erbschaft der Praxis-Gruppe und die antithetische Solidarität

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Es wird am Anfang der historische, politische und philosophische Kontext der Genese der sogenannten Praxis-Gruppe dargestellt. In einer durch den Autoritarismus der monopolistischen Macht der dogmatischen Kommunistischen Partei geprägten Gesellschaft (es geht um das damalige Jugoslawien) kam es nach dem Bruch mit der Sowjetunion (1948) zu einer gewissen (obwohl, besonders bis zu den sechzigsten Jahren, klar begrenzten) Liberalisierung im Bereich der Ideologie, Kultur und Wissenschaft. Eine junge philosophische Generation, die besonders stark an der Universität Zagreb war, fing dann langsam an, sich mit der bislang offiziellen marxistisch-leninistischen Deutung des Marxismus und der Philosophie radikal auseinander zu setzen.

Die jungen Philosophen bestritten die Legitimität aller wesentlichen Bestandteile des dogmatischen Marxismus (in erster Linie des Dialektischen Materialismus und der Abbildtheorie). Aus dieser Kritik entstand der sog. schöpferische Marxismus. Es ging keineswegs um eine einheitliche und homogene philosophische und sozialwissenschaftlische Konzeption, sondern mehr um eine gemeinsame Tendenz, auf den Spuren Marxschen Philosophie (aber auch auf den Spuren des klassischen deutschen Idealismus und anderer gegenwärtiger Denkweisen) die wesentlichen Problemen der Welt, des Menschen und der Gesellschaft undogmatisch zu denken.

Durch die internationale philosophische Sommerschule auf der Insel Korčula (1964-1974) und die Zeitschrift Praxis (Zagreb, 1964-1974) wurde diese Gruppe ein Zentrum sozialkritischen (neomarxistischen, linksorientierten, usw.) Denkens.

Die von den Protagonisten der Praxis proklamierte radikale "Kritik alles Bestehenden" provozierte eine Reaktion von der Seite der Machinhaber, mit doppelter Wirkung: die Schule und die Zeitschrift wurden abgeschaft und die dort kultivierte Denkweise marginalisiert. Obwohl die Mehrheit von der Praxis-Philosophen nicht die Idee des Sozialismus (besonders die Idee eines demokratischen und humanistischen Sozialismus) verleugnete, führte ihre Kritik und ihre Bejahung der geschichtlichen Notwendigkeit, den Sozialismus zu demokratisieren und zu entbürokratisieren zu der politischen Entscheidung, die destruktive Tätigkeit der Praxis-Gruppe zu unterbinden. Der Prozess dieser Abschaffung wurde durch eine antitetische Solidarität zwischen dogmatischen Marxisten und konservativen (am meistens ethnozentrisch orientierten) Intelelektuellen durchgeführt.

Nachdem die Legitimation des jugoslawischen Sozialismus (teilweise im Kontext des Endes des sog. real existierenden Sozialismus) nicht mehr gegeben war und die kommunistische Nomenklatur eine neue Legitimationquelle im Nationalismus fand (was besonders im Fall des „grosserbischen Projektes“ unter Milošević offensichtlich war), wurden einige Mitglieder dieser Gruppe aus Belgrad (Mihailo Marković, Ljubomir Tadić und Svetozar Stojanović) zu Ideologen, Apologeten und/oder Funktionären des kriegführenden Regimes und steuerten damit eigene Beiträge zur antitetischen Solidarität bei. Diese Wende könnte man entweder auf die Wirkung bestimmter psychologischer Faktoren zurückführen (z. B. des Willens zur Entmarginalisierung eigener sozialen Stelle) oder als Resultat eines moralisch schwachen Habitus der betreffenden Individuen sehen, aber keineswegs als eine logische Konsequenz ihrer bisherigen philosophischen Position. Ein Beweis dafür bietet auch die Beharrlichkeit der Mehrheit der Mitglieder dieser Gruppe.

Heute stellen die Philosophie und Sozialtheorie, die innerhalb dieser Gruppe elaboriert wurden, mehr oder weniger nur Geschichte dar. Die Frage, ob die Erbschaft der Praxis-Gruppe für die Zukunft der Menschheit und fürs gegenwärtige und zukunftsorientierte philosophische Denken nützlich oder relevant ist oder ob sie nur zur Historie des Denkens gehöre, sollte man versuchen, im Kontext der Gegenwart zu beantworten, also im Kontext einer Welt, die immer mehr durch den Fortschritt der Wirklichkeit antitethischer Solidarität charakterisiert wird.

Es ist nötig, den historischen, politischen und philosophischen Kontext der Genese der sog. Praxis-Gruppe darzustellen bzw. zu verklären. Es geht natürlich um ehemaligen Jugoslawien, um einem Staat, in welchem unter anderem auch eine – keineswegs einheitliche – philosophisch-sozialkritische Bewegung entstand, die unter den Namen Praxis-Gruppe bekannt worden ist. In Jugoslawien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg (und nach dem Ende des lokalen Bürgerkriegs) eine kommunistische Diktatur aufgestellt. In der Philosophie fang dann die Periode des dogmatischen Marxismus (Marxismus-Leninismus oder Dialektischer und Historischer Materialismus, als von Stalin im Lehrbuch Die Fragen des Leninismus definiert worden ist) als offizielen und unerläßlichen Rahmen der Lehren und des Dozierens an. Nach Gajo Petrović (1927-1996), dem wichtigsten Vertreter der Philosophie, der innerhalb dieser Praxis-Gruppe entwickelt worden ist, soll in dieser Zeit nicht nur eine Stagnation, sondern sogar eine gewisse Regression der Philosophie festzustellen . Dogmatisch war in dieser Zeit nicht nur die Interpretation des Marxismus, sondern auch die Methode, wie man mit vielen bisherigen Philosophen der nicht-marxistischem Richtung abgerechnete.

Nach dem Bruch jugoslawischer kommunistischer Führung mit der Sowjetunion bzw. mit Stalin wurde ein bestimmter Raum der Freiheit unter anderen auch im Gebiet der Philosophie geöffnet. Schon am 1950 wurden die ersten Kritiken des Marxismus-Leninismus veröffentlicht. Das Zentrum dieser Erneuerung des philosophischen Denkens war Zagreb, Haupstadt Kroatiens, genauer gesagt, die Abteilung für Philosophie der Philosophischen Fakultät (es geht um eine Universität aus 17. Jahrhundert). So entstand gerade in Zagreb eine starke philosophische Schule. Eine sehr wichtige Rolle in der Entstehung dieser Schule spielte Professor Vladimir Filipović (1906-1984), der dafür sorgte, daß die jungen Philosophen die ganze Philosophiegeschichte und besonders den klassischen deutschen Idealismus ernstgenommen und gründlich studiert haben .

Das Resultat dieser Erneuerung war ein klarer Abschied von der marxistisch-leninistischen Ideologie und vom Dogmatismus. Die Evidenz dieses Bruches zeigte eindeutig auf der Diskussion über die Abbilidtheorie (oder die Widerspiegelungtheorie) 1960 in Bled (Slowenien) . Die (dann relativ jungen) Philosophen aus Zagreb (Gajo Petrović, Milan Kangrga, Danko Grlić, Rudi Supek und Branko Bošnjak), aber auch aus Sarajevo (Ivan Focht, Milan Damnjanović) und aus Belgrad (Mihailo Marković) kritisierten und verwarfen während der Beratung der Jugoslawischen Gesellschaft für Philosophie den Kern des dogmatischen Marxismus, den Kern des sog. Dialektischen Materialismus, nämlich die Abbildtheorie. Diese Diskussion vom Bled darf als eines der bedeutendesten Ereignisse in dem Prozeß der Entstehung dieser philosophischen Bewegung, angesehen werden, die unter den Namen der Praxis-Gruppe bekannt worden ist: die Sterilität des Dogmatismus und die intellektuelle Überlegenheit dieser Gruppe waren klar zutage getreten.

Es zeigte aber bald, daß die Unterschiede, die innerhalb der Gruppe von Kritiker des Dogmatismus schon früher gelegentlich zum Ausdruck gekommen waren, jetzt in einigen Fragen noch deutlicher wurden. Deswegen dürfte man innerhalb dieser einen Gruppe von zwei verschiedenen Gruppierungen gesprochen werden, nämlich von einer mehr wissenschaftlichen und einer mehr humanistischen . Man könnte allgemein sagen, daß in Zagreb allen jungen Philosophen (wie auch die Mehrheit von Philosophen aus Sarajevo) die humanistische Richtung vertraten, im Unterschied von Belgrad, wo nur Miladin Životić (1930-1997) auf klaren Weise diese Richtung vertrat, und dagegen die Mehrheit von Philosophen aus Belgrad die sog. wissenschaftliche Richtung darstellte (u. a. Mihailo Marković und Svetozar Stojanović). Es ist interessant(und vielleicht auch indikativ), daß in den Zeiten des Zerfalls Jugoslawiens Mihailo Marković zum führenden Ideologen des grossserbischen politischen Projekts und zum Vizepräsidenten der Partei von Slobodan Milošević (Sozialistischen Partei Serbiens) geworden ist, ähnlich als Svetozar Stojanović, der zum Hauptberater des geistigen Vaters grossserbischen Nationalismus Dobrica Ćosić geworden ist, als Ćosić anfangs 90-en Jahren letztes Jahrhunderts als Bundespräsident Jugoslawiens diente, während Životić bis zum seinen Tode ein von den stärkesten und mutigsten Kritiker der kriegführenden und aggresiven serbischen Politik geblieben ist.

Nun, die Philosophen und Soziologen aus diesem Kreis des undogmatischen Denkens trafen sie zum erstmal im August 1963 auf dem Insel Korčula (Kroatien) zu einer Sommerschule um hier aktuelle philosophische, sozialwissenschaftliche, sozialpolitische, wirtschaftliche und allgemein-kulturelle Probleme des Sozialismus in einer völlig freien Diskussion zu erörtern . Es ist interessant, daß neben jugoslawischen Teilnehmer in den nächsten zehn Korčula Sommerschulen die bekannten ausländlischen Philosophen und Wissenschaftler beteiligten (u. a. Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas, Kostas Axelos, Agnes Heller, Leszek Kolakowski, Karel Kosík, Julius Strinka, Eugen Fink, Ernesto Grassi, Gustav Wetter, Henrz Lefebvre, Lucien Goldmann, Enzo Paci, Arnold Künzli, Thomas Bottomore, usw.). Im Herbst 1963 formierte sich als Fortsetzung der Sommerschule in Zagreb die Redaktion einer neuen Zeitschrift der Kroatischen Gesellschaft für Philosophie. Diese Zeitschrift mit Namen Praxis erschien erstmal im September 1964 und ab 1966 wurde neben der kroatischen (bzw. serbokroatischen) Ausgabe auch eine internationale (englisch-deutsch-französischen) Ausgabe verröfentlicht. Alles das, die Zeitschrift und die Sommerschule, bestanden bis zum 1974.

Praxis sollte nach der Redakteure eine marxistisch-sozialistische Zeitschrift sein . Das bedeutete keinesfalls, daß die Mitarbeiter nur Fachphilosophen der marxistischen Richtung sein sollten, weil – laut Leitartikel im ersten Nummer der Zeitschrift - „der Sozialismus die einzige humane Lösung der Probleme bietet, vor die sich die Menschheit heute gestellt sieht... Eine der wichtigsten Ursachen für den Mißerfolg und die Deformierung der sozialistischen Theorie und Praxis im Laufe der letzten Jahrzehnte ist in der Vernachlässigung der philosophischen Dimension des Marxschen Denkens, in der offenen oder verschleierten Negation seines humanen Kerns zu suchen sei. Die Entwicklung eines authentischen, humanen Sozialismus ist unmöglich ohne...ein wirklich marxistisches, undogmatisches und revolutionäres Herangehen an die offenen Fragen unserer Zeit“. Obwohl die Redakteure der Zeitschrift im Marxschen philosophischen Denken die Grundlage ihrer eigenen Arbeit erblickten, hatten sie nicht vor, Marx nur zu deuten oder in erster Linie Marx zu deuten, besonders nicht Marx zu konservieren oder seines Denken zu absolutisieren, sondern sie wollten an der Entwicklung des lebendigen sozialkritischn Denkens, das u. a. Marx inspiriert hat, weiterarbeiten. Diese Arbeit erforderte nach der Meinung der Redaktion eine breite und offene Diskussion, die keine ideologischen Grenzen kennt. Die moderne Welt leide laut Redakteure noch immer an Ungleichheit, sowohl innerhalb eines Volkes als auch unter den verschiedenen Völkern, an politischer Unfreiheit und an der Angst vor dem Krieg und Selbstzerstörung. Durch die technischen Errungenschaften zur Beherrschung der Natur werde sehr oft auch der Mensch selbst zum Werkzeug, zum Mittel erniedrigt, statt ihm die Entwicklung zu einer freien menschlchen Persönlichkeit zu ermöglichen und zu erleichtern. Der Philosoph könne und dürfe allen diesen Problemen nicht gleichgültig gegenübersehen, weil sie meisten von diesen Schwierigkeiten Probleme zugrunde lägen, die ohne Hilfe der Philosophie nicht gelöst werden könnten. Wenn auch kein wichtiges menschliches oder gesellschaftliches Problem ein Monopol eines einzigen Landen oder – noch weniger – einer besonderen Gruppe innerhalb dieses Landes sein kann, hielten die Mitglieder der Redaktion der Praxis doch für die wichtigste Aufgabe der Philosophen und Sozialwissienschaftler, daß sie neben den allgemeinen Problemen vor allem die Probleme ihrer eigenen Länder kritisch erörtern. So würden sie vor allen den jugoslawischen Sozialismus kritisch diskutieren.

Im Unterschied von anderen Ländern, die unter die kommunistischen Herrschaft lebten, bestand in Jugoslawien ein bestimmter Liberalismus, der auch die Kritik erlaubte. Doch, es ging um die klaren Grenzen. Die feste Grenze stellte die Frage über das Monopol der Kommunistischen Partei (bzw. des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens) dar. Praxis übertrat diese Grenze. Deswegen kam zur ersten Angriffen. Z. B. der Bundesparlamentpräsident Milentije Popović kritisierte sehr scharf einen Aufsatz von Rudi Supek unter dem Titel „Noch einmal über die Alternative: Stalinistischer Positivismus oder schöpferischer Marxismus“. Das wichtigste in seiner Kritik könnte man in seinem folgenden Urteil zusammenfassen: „Die politische Logik, die die meisten Mitarbeiter der Praxis (und ihresgleichen) vertreten, negiert die Rolle des Bundes der Kommunisten oder versteht ihn als einen Diskussionsverein“. Praxis wurde als Verbreiter des kleinbürgerlichen Anarchismus, bürgerlichen Liberalismus, Revisionismus, Ideenlosigkeit, abstrakten Humanismus, Austromarxismus und sogar Antikommunismus kritisiert. Nach der Studentenbewegung 1968 ist Praxis zum Feind Nummer Eins des jugoslawischen Staats erklärt worden und das galt während einer bestimmter Zeit. Der erste Vorwurf war die Behauptung, Praxis sei ein Gegner der Arbeiterselbstverwaltung und des Sozialismus. Diese Anschuldigung lehnte die Redaktion als reinsten Schwachsinn ab und hervorhebte, worum es eigentlich ging: es gehe ihrer Auffassung nach um den politischen Kampf zwischen bürokratischem Etatismus einerseits und demokratischer Selbstverwaltung andererseits. Im philosophischen Bereich entspricht diesem Kampf die theoretische Auseinandersetzung zwischen stalinistischem Positivismus und schöpferischem Marxismus. Der Stalinismus bekämpft in Theorie und Praxis die Selbstverwaltung, die Demokratisierung der Gesellschaft und die Humanisierung der menschlichen Beziehungen, in welchen die Würde und Freiheit der Person, die ideelle Auseinandersetzung und offene, begründete Kritik geachtet werden. Der zweite Vorwurf war die Behauptung, die Praxis habe Partei für den Etatismus genommen, als ob die Theorie der Entfremdung und Verdinglichung, wie sie von der Praxis entwickelt worden ist, nicht gerade den Etatismus als Quelle der Mystifikationen und der Versklavung der Menschen entlarvt hätte. Der dritte Vorwurf lautete, die Praxis sei ein Fürsprecher des ökonomischen und politischen Zentralismus, als ob nicht bekannt wäre, welche kritische Position die Praxis seit ihrem Bestehen gerade gegenüber bürokratischen, technokratischen und etatistischen Kräften eingenommen hätte. Der nächste Vorwurf war die Behauptung, daß die Praxis der Verfechter eines Mehrparteisystems gewesen sei; weiter, daß die Praxis unter Berufung auf die Marxsche These von der rücksichtlosen Kritik alles Bestehenden die Kommunistische Partei im Geiste des modernen Antikommunismus kritisiere.

Nach der konservativen Wende in den Jahren 1971-72 (Absetzung der Partei- und Republikführung zuerst in Kroatien und dann auch in Serbien, Verhärtung und Zentralisierung der Parteimacht, Säuberung an der Universitäten, Hunderte von Verhaftungen und zahlreiche Verurteilungen, immer größer werdender Druck der offiziellen Massenmedien u.a. auf die Praxis-Mitarbeiter, immer lautere Stimmen diesen Medien für die Einstellung der Feindtätigkeit der Praxisten und Verhaftung einiger Mitarbeiter der Zeitschrift) fang die Hexenjagd auf die kritischen Philosophen und Sozialwissenschaftler an den Universitäten an. Die konterrevolutionären Kräfte sollen auch mit revolutionären Mitteln bekämpft werden – das ist von der oberste Parteiführung noch im Dezember 1971 beschlossen worden. Die Korčula Sommerschule und die Zeitschrift Praxis sind daraus anfangs 1975 definitiv aufgehoben . Obwohl die Mitarbeiter der Zeitschrift aktiv geblieben sind (die Mehrheit von serbischen Mitarbeiter wurde aus der Lehrtätigkeit an der Universität entfernt, im Unterschied von Zagreb, wo dank toleranter Republikführung und besonders dank damaliges Rektors Predrag Vranicki, der selbst ein Philosophieprofessor und Mitglied der Redaktion der Praxis war, allen Mitarbeiter der Zeitschrift an den Lehrstühlen blieben), blieb nach der Aufhebung (oder, besser, nach dem Verbot) der Zeitschrift und der Sommerschule kein Raum für irgendeine organisierte Aktivität, keine Konferenzen für eine breitere Öffentlichkeit mehr; nur den Geist, die Bücher, die Lehre. Die Abschaffung der Zeitschrift und die folgende systematische Marginalisierung des kritischen Denkens sind als Resultat eines Furchtes der Parteiführung vor der Kritik zu beurteilen. Kurz gesagt, die Philosophen um Praxis-Kreis praktizierten die radikale Kritik in den Zeiten, als eine solche Kritik die monopolistische Ideologie und die absolute Parteimacht in der Frage stellte. Wegen eigenes Überlebens (d. h. Überlebens eigener Macht und eigenes Monopols) mussten die Machtinhaber das kritische Denken suspendieren und marginalisieren. Doch, sie konnten nicht überleben: nach dem Krach des sog. real existierenden Sozialismus, nach eine geschichtlich gesehen notwendige Wende (notwendige, deswegen, weil es um einem System der selbstzerstörerischen erweiterten Machtproduktion ging, statt Produktion des Mehrwerts), musste diese Macht der Parteiführung durch eine pluralistische soziale und politische Ordnung aufgehoben werden. Leider, die Transformierung (sog. Transition zur Demokratie) wurde in ehemaligen Jugoslawien durch eine Reihe von Kriegen geprägt – und noch schlimmer: mit Ausnahme von Slowenien resultierte sie mit zehn Jahren der Stagnation und des Rückschritts: bis 2000 waren an der Macht in Bundesrepublik Jugoslawien (heute: Serbien und Montenegro), in Bosnien und Herzegowina, als auch in Kroatien, die selbzerstörerischen, antieuropäischen und – man könnte auch das sagen – kriminellen Regierungen (und in Serbien und Bosnien und Herzegowina kommt bis heute noch nicht zum einen eindeutigen Abschied von dieser Vergangenheit).

Die Marginalisierung der kritischen Philosophie und Sozialwissenschaft in 70-en und 80-en Jahren letztes Jahrhunderts kann man gerade im Licht 90-en Jahren verstehen und deuten, also im Licht der Kriegen und der Herrschaft der pathologischen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Strukturen. Die Parteiführung furchtete – und zwar mit Recht - daß die legitimation ihres Monopols zum Ende käme, und suchte deswegen eine neue Quelle der Monopolslegitimation. Durch irgendeinen kritischen Selbstbewußtsein könnten die alten Elitten keinesfalls die Fortsetzung ihrer Usurpierung der Macht legitimieren. Da Praxis als mögliches Gefahr gesehen wurde, ein Gefahr in dem Sinne, daß durch eine Entmarginalisierung des kritischen Denkens zur Quelle einer Verbreitung des bürgerlichen politischen Selbstbewußtseins und einer adäquaten politischen Kultur geworden könnte, galten die Maßnahmen gegen das kritische Denken – obwohl ohne eines systematischen Entwurfs – als eine Prevention und gleichzeitig als Elementen einer (vielleicht mehr durch eine Überlebenspontanität geprägter) Vorbereitung für die künftige Legitimationwende, bzw. für diejenige neuen negativen Synthesen, die die kriminellen Herrschaften aus den 90-en Jahren begründeten. Als besten Beispiel solcher neuer negativer Synthesen darf Serbien gelten: die Synthese vom alten Dogmatismus der konservativsten Flügel der Partei (räpresentiert von Slobodan Milošević) mit einem ethnozentrischen vorbürgerlichen Nationalismus (räpresentiert von den rechtsorientierten Intellektuellen in Serbischen Akademie und von der fundamentalistischen Flügel innerhalb Serbischer Orthodoxer Kirche) ermöglichte die Legitimierung Miloševićs kriegführender und krimineller Regierung bis zum Wahlen im September 2000 bzw. bis zur Wende am 5 Oktober 2000. Und Milošević war ein konservativer Kommunist, der während der Wende zum Nationalführer geworden ist. Ähnlich gilt für den ersten kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman, der erstens ein General in Titos Armee war und am letzten der Vater Kroatiens geworden ist; doch, es gibt ein Unterschied: Tuđman ist während 70-en und 80-en Jahren ein Dissident geworden (obwohl niemals ein Abschied vom Autoritarismus gemacht hat und keine Emanzipierung von der autoritären politischen Kultur stalinistischer Prägung gezeigt hat; er blieb ein Konservativer, nur später nationalistischer Orientierung). Gerade in seinem Fall konnte man klar sehen, wie die antitethische Solidarität im Prozeß der Marginalisierung des kritischen Denkens funktionierte: die national-konservativen Intellektuellen (unabhängig davon, ob jemand von ihnen vorher Kommunist oder Antikommunist gewesen ist) beteiligten in dem Prozeß der Marginalisierung des kritischen Denkens zusammen mit ihren Feinden, mit den damaligen Machtinhber, nicht wissend und vielleicht nicht hoffnend, daß in der Zukunft zum eines neuen Bund, zur eine neue Synthese kommen sollte. Beider Gruppierungen war die autoritäre und monistische politische Kultur gemeinsam. Deswegen war Praxis von beiden Seiten als etwas gefährliches beschätzt.

Etwas anderes passierte in Serbien. Wie es schon gesagt wurde, die Zeitschrift Praxis erschient in Kroatien und die Redakteure waren die kroatischen Philosophen (mit einer Ausnahme: die internationale Ausgabe der Zeitschrift mit der gemischte Redaktion aus Zagreb und Belgrad), aber zum Praxis-Kreis gehörten auch vielen Philosophen und Sozialwissenschaftler aus anderen Republiken, besonders aus Serbien (genauer, aus Universität in Belgrad). Fast allen Mitarbeiter von Praxis aus Belgrad wurden in den 70-en Jahren aus der Universität vertriebt und ein Teil von ihnen transformiert sich während der Zeit der obengenannten neuen negativen Synthesen in den Ideologen, Apologeten und sogar hohen Funktionären der alter/neuer (nicht mehr durch Selbstveraltung, sondern durch serbisches Volk legitimierten) Herrschaft von Slobodan Milošević. Das besonders gilt für in der welt bekanntesten belgradischen Philosophen Mihailo Marković, der als Vizepräsident in der Partei von Milošević diente. Wie so etwas möglich gewesen ist? Einerseits geht es um Differenz zwischen Humanismus und Wissenschaftlichkeit (aufgruund dieser Differenzuierung wäre Mihailo Marković kein autenthischer Vertreter der kritischen humanistischen Philosophie von Praxis-Kreis). Andererseits geht es um individuellen Personengeschichten: Benito Mussolini war beispielweise vor dem Ersten Weltkrieg ein Linkssozialist (und es gibt vielen – auch die umgekehrten - Beispiele); niemand sei der Heilige vor dem Tod, laut eines populär-katolischen Sprichwortes. Das sollten besonders für Ljubomir Tadić gelten, für einen von den selten belgradischen Vertreter der humanistischen Orientierung. Er ist am Ende der 80-en und anfangs 90-en Jahren zum grossserbischen Nationalisten geworden. Hier (und möglicherweise nicht nur hier) geht es auch um die Psychologie: in diesem Sinne könnte man um den Willen reden, entmarginalisiert zu werden und dem Konsensus der Mehrheit von Bevölkerung einzutreten, um den Willen, die letzten Lebensgelegenheiten für die Macht und für eine massiven Beschätzung zu nutzen, usw. Gleichzeitig galt das nicht für einigen anderen Praxis-Mitarbeiter aus Belgrad: die praktische Tätigkeit von Miladin Životić, Begründer der belgrader-Kreis (ein Kreis von Intellektuellen und BürgerInnen, die gegen den Krieg und gegen den serbischen Nationalismus ab Anfang an öffentlich waren) als auch seine Bücher aus 90-en Jahren (besonders das Buch unter dem Titel Gegen den Krieg) bleiben als ein Beweis dafür, daß die moralische Konsistenz und das konsequente kritische Denken auch unter den schlimmsten Umstände möglich sein sollten.

Jedenfalls, sollte man am Ende fragen, was ist heute von Praxis als Erbschaft dieser Gruppe oder dieser Strömung geblieben? Im philosophischen Sinne können wir einigen Konzeptionen nennen, die zur Philosophiegeschichte gehören und die in der Zukunft wahrscheinlich revalorisiert werden sollten. Man kann in diesem Kontxt das Denken der Revolution von Gajo Petrović in Betracht nehmen, wobei unter der Revolution keine soziale, politische oder wirtschaftliche Wende und besonders keine Gewalt vermeint wird, sondern die grundsätzlichen onto-anthropologischen (nachmetaphysisch gedachten) Strukturen des menschlischen Wesens oder des Dasein als Sinns des Seins umgedacht worden sind (u. a. geht es in der Philosophie Petrovićs auch um einen Versuch, die Philopsophie Heideggers aus einem originalen Standpunkt zu reinterpretieren; diese Reinterpretation blieb leider nur im Entwurf). Hier gehört das geschichtliche Denken von Milan Kangrga als Antithese irgendeiner Metaphysik (ein von seinem wichtigsten Bücher wurde letzlich auf Deutsch übersetzt und verröfentlicht) . Kangrga hat außerdem eine sehr interessante Kritik der Ethik elaboriert, die auf die Notwendigkeit, die Einheit der Theorie, Praxis und Poiesis zu schaffen, begründet worden ist. Weiter könnte man über eine systematische Geschichte der Ästhetik von Danko Grlić reden, in der man auch die Antwort auf die Frage Warum eine marxistische Ästhetik im Prinzip unmöglich ist? finden kann; über eine systematische Historie des Marxismus und eine grundsetzende Historie der Philosophie der Geschichte von Predrag Vranicki, über die Werke von Branko Bošnjak (Auseinandersetzung zwischen Atheismus und Christentum, Geschichte der Philosophie) als auch von Rudi Supek und Ivan Kuvačić (beide gaben die wichtigste Beiträge zur Soziologie und zur kritischen Sozialtheorie)...

Im historisch-ethisch-politischen Sinne blieb ein Beweis über die Möglichkeit, die menschliche Würde auch unter ungünstigen Umstände zu bewahren. Und umgekehrt: wenn es um negativen Beispiele aus Belgrad geht, sie könnten als Beispiele dafür dienen, daß die Qualität der individuellen oder kollektiven Vergangenheit kein sittlich gültiges Handeln in der Zukunft garantieren kann. Und endlich, die Geschichte der Praxis zeigt auch die Wirkungen der antitethischen Solidarität.

Die wichtigste Frage bleib doch die Frage ob die Erbschaft der Praxis-Gruppe für die Zukunft der Menschheit und fürs gegenwärtige und zukunftsorientierte philosophische Denken nützlich oder relevant ist oder ob sie nur zur Historie des Denkens gehöre. Auf diese Frage sollte man versuchen, im Kontext der Gegenwart zu beantworten, also im Kontext einer Welt, die immer mehr durch den Fortschritt der Wirklichkeit antitethischer Solidarität charakterisiert wird. Nämlich, in der philosophischen Erbschaft der Praxis-Kreis könnte man die Elementen der methodischen Begründung für die Einsicht in der Falschheit der falschen Alternativen finden, diejenigen falschen Alternativen, die die Effizienz der antitethischen Solidarität ermöglichen.

Prof. Dr. sc. Lino Veljak

Philosophische Fakultät, Universität in Zagreb, Kroatien

Siehe auch:

Autor

Veljak, Lino

Lino Veljak, r. 1950. u Rijeci.