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Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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05.08.2021
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YES
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Land: Austria
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Die Reise Jesu übers Meer
Anhänger, Bewunderer, Geheimnislüsterne
1 Jesus stach in See.
Er wollte allein sein,
um seinen Täufer
zu beweinen. Womöglich bliebe ich
bloß ein Zirkuswundertäter
ohne ihn, dachte er.
2 Wir sahen uns kaum, dennoch
war es gut zu wissen, es gab auf der Welt
jemanden, der dasselbe will.
Angesichts der im Schiffsraum
schnarchenden Jünger
lächelte er. Am helllichten
Tage überwältigt sie
der Schlaf. Was wird
ohne mich aus ihnen?
3 Er sah die Grenzen des menschlichen
Daseins und lehnte sich
über sie hinweg, hinaus über die
sich kräuselnden Wellenkämme.
4 Am Ufer ein Gedränge
an Menschen, Kirchenflaggen,
Relikten aus der Zukunft.
Räucherwerk, Pilgergewänder.
Einer hatte gar eine
Kamera. Ohne Unterlass
fotografierte er das Schiff.
5 Sie erkunden unser Geheimnis,
denn sie haben nicht nur keine
Geheimnisse, sondern auch keine Geschichte.
Ich muss ihnen Brot geben.
Ich muss ihnen eine Zukunft geben.
Ich muss die Gegenwart beruhigen,
damit sie darauf wandeln können.
Die erste Kommunion
1 Jesus besaß nichts.
Das Schiff, das sie brachte,
gehörte Peter und Andreas –
noch aus ihren Fischerzeiten.
2 Angesichts der Menschenmenge
wurden die Jünger unruhig.
Es wäre angebracht,
sie zu bewirten.
Religionsgründung kostet
so einiges. Die Imbissstände
müssten längst stehen. Fünf
Laibe Brot und zwei
Fische haben wir gesamt.
Nicht einmal für uns selbst
reicht das. Sollen wir hinausfahren,
Fische fangen?
3 Religionsgründung? Ich will
keinen weiteren Irrglauben
in die vielen wirren Köpfe pflanzen.
Ich bringe ganz einfach
Licht. Deshalb vermeide ich,
so weit es geht, das Wunderwirken.
4 Wir gehen dann,
nickten Peter und Andreas.
Sie plagten sich mit dem Heben
des Ankers. Der Tod János‘,
die Schwäche Jesu. Die vielen
Gerüchte über gegen Freikirchen
geplante Verordnungen.
Ihr Gesicht verriet, sie würden
nicht mehr zurückkommen.
5 Jesus nahm die fünf Brote,
segnete sie, und begann sie zu verteilen.
6 In der sich verdichtenden Dämmerung
schnappte er sich auch flache Steine
vom Ufer. Sie zerbröckelten
in seiner Hand wie Brot.
7 Es stimmt, ich habe nichts,
sagte er zu Peter, es stimmt,
sie werden euch verfolgen,
sagte er zu Andreas, doch
glaubt nicht, es gäbe
einen Weg zurück. Verteilt die Fische!
8 Jesus griff ins Wasser, und zog
einen Fisch nach dem anderen heraus.
9 Nun, da ihr alles wisst,
wird es nicht einfach, sagte
er zu den Jüngern, die
hungrig den Überfluss betrachteten.
10 Kniet nieder, und ich
gebe jedem von euch
reichlich von dem Brot.
11 Unter dem weinfarbenen Himmel
schritt er vor den Jüngern einher
und weihte sie damit
zu Meistern. In ihre Hände
legte er bloß je einen Krümel.
Das muss euch genügen.
Was heißt es, auf dem Wasser zu laufen?
1 Die Menge ging davon,
die Jünger stachen
in See. Endlich
konnte er allein sein.
2 Seine Haut knisterte vom
verstreuten Salz der Wunder.
Vom vielen Wunderwirken schmerzte
seine Hand, sein Kopf dröhnte.
3 Es wurde Nacht,
er war allein. Vom Berggipfel aus
sah er, wie das Schiff, das seine
Jünger trug, das Schiff seiner Wahrheit,
Opfer der Wellen zu werden drohte.
4 Er beschwichtigte den Meeressturm,
der in seinem Inneren tobte.
Es war keine Zeit,
ein Boot zu suchen.
5 So geschwind lief er
über die harten Wellenkämme,
er merkte kaum, dass er ein Wunder wirkte.
6 Nichts kann einen davor schützen,
dass zuweilen der schlimmste
Ausgang in Erfüllung geht.
7 Als er es erreichte, war
das Schiff noch nicht versunken.
Das Gespenst
1 Jene, die bislang um seine Hilfe
gerufen hatten, erschraken,
als er über den schwarzen
Wellen auftauchte.
2 Jesus, hilf uns!, riefen sie,
sie zuerst, wie bald auch
ihre Anhänger angesichts
der unverhofften Lebensgefahr.
3 Das Schiff schwankte und ächzte
im harten Griff der Wellen.
Das Ufer war nirgends in Sicht,
Wolken und Dunkelheit
drängten sich in der Nähe.
4 Wer trappelt auf dem Wasser?
Er ragt über das Schiff hinaus,
wirbelt heftiger als der Nebel,
verleitet stärker zur Selbstprüfung
als die Dunkelheit.
5 Ein letztes Mal brach
ihre Dummheit aus ihnen hervor:
Gespenst!, brüllten sie,
lauter noch als der Lärm
der Wellen. Gespenst, das
ist der Sturm selbst, sonst nichts.
6 Das lange Haar Jesu
wehte ihnen entgegen, wie
das Fackellicht ließ sein Blick
Mond und Sonne
auf dem Wasser funkeln,
leuchtende Fische strebten
der Oberfläche entgegen.
7 Nur Mut, ich bin es,
sagte er. Haltet ihr es denn
keine Minute ohne mich aus?,
fragte er und hievte sich
ins Schiff, sein Umhangsaum
trocken. Das Wasser hatte
ihn schneller erkannt
als seine Jünger.
Peter, der Fels
1 Herr, wenn du es bist,
veranlasse, dass
auch ich auf Wasser laufen kann.
2 Kleingläubiger, du
erkennst mich noch immer nicht?
Deine Bitte ist unsinnig.
Ich eilte euch zu
Hilfe. Wenn dir einst
etwas so dringlich
und wichtig sein wird,
wirst auch du dazu fähig sein.
3 Großgläubiger, gab Peter
zurück, kennst du mich noch
immer nicht? Ich muss das Meer
meiner Zweifel und kleinen Verrätereien
überqueren. Wo wärst
du bloß ohne mich?
4 Ich wollte ehrlich
nur ein wenig Spaß.
Ist das so schlimm?
Sag uns wenigstens,
wie es ist, auf Wasser zu laufen.
5 Der Wind ließ nach. Das Ufer
war schon ganz nah.
Der Alltag des Wundertäters
1 In Übersee angekommen
harrte seiner auch nur Plackerei.
Die Kunde war wie ein Lauffeuer:
der große Magier war da,
der Wundertäter, der Heiler.
2 Sie brachten Kranke
aller Schichten und Ränge aus den elenden
Steinhäusern und mit Matsch
gebauten Hütten.
3 Jesus bedachte sie nur
mit einem Blick und bat um Wasser.
Er wusch ihre Füße, die brandigen
Wunden. Er bat um Alkohol,
säuberte die infizierte Haut.
Er spannte auch die Jünger ein.
Es war wie ein
Krankenhaus im Freien.
4 Er richtete verstauchte Knöchel,
die Lahmen konnten wieder laufen.
In den Häusern verordnete er
zu lüften, Räucherwerk zu zünden.
Die Kranken erholten sich,
und aus dem stinkenden Dorf wurde
eine duftende Kleinstadt. Die Schafe
beorderte er in den Stall.
5 Abends in einer Scheune
begaben sie sich zur Ruhe,
ihnen allen schmerzten die Glieder
vom Muskelkater. Ich hätte nie gedacht,
ächzte Peter, dass das Wunderwirken
härtere Arbeit ist als das Fischen.
Pharisäer im Morgengrauen
1 Der nächste Tag brach schwer
und eisig an. Vor der Scheune bildete sich
eine Wasserhaut in der Tränke, Nebel
wallte ihnen von den Felsen am Stadtrand
entgegen. Sie alle fühlten sich lustlos.
Das niedergetrampelte Gras trug die Zeichen
des abendlichen Heilens, verworfene
Krücken, blutige Verbände,
schwarze Flecken der Reisigfeuer.
2 Pharisäer kamen aus Jerusalem an,
führten ihr gesatteltes Vieh an den Zügeln,
sahen sich neugierig um, schnüffelten
misstrauisch die Luft, lauschten tüftelnd.
3 Einer der Jünger, womöglich war es
Judas Thaddäus, streckte und reckte sich
gerade im Heu, sogar im Traum hatte er
eben noch Wunden versorgt, und nun
war er hungriger als ein Bienenstock
und durstiger als eine Wüstenhöhle,
im zerlumpten Umhang verließ er wankend
seinen Schlafplatz, von den drei Äpfeln
auf dem Sims schnappte er sich den vierten,
der war größer als die realen,
röter, süßer, sättigender.
Der Saft rannte ihm am Arm herunter.
Schräg fiel die Morgenröte auf ihn herab.
4 Jenseits des Zauns schrie der Esel
eines Pharisäers auf: Wieso
brechen deine Jünger mit den Sitten
der Alten? Wieso waschen sie nicht
ihre Hände vor dem Essen?
5 Prompt versiegten die drohenden
Kopfschmerzen Jesu: Schon frühmorgens
treibt ihr euch hier herum wie ein Lehrer
mit Rohrstock? Glaubt ihr, ihr seid
die Wächter der Sitten? Glaubt ihr,
Sitten hätten jegliche Bedeutung, wenn
allein die Existenz des Menschen in hundert Jahren
fraglich ist? Was wird Gott
mit sich selbst anfangen?
6 Etwa Eseln predigen?
Für Ochsen Wunder wirken?
Löwen das blutige Fleisch
von den Pranken waschen? Die Sitten werden
euch als Erste zerfleischen. Gott fegt euch hinweg,
ihr Niemande! Hände waschen? Gestern
wuschen wir den ganzen Tag Hände,
unsere und die anderer, wir säuberten
die Füße von Kranken, entstaubten
die flaumigen Gliedmaßen der Wolken.
7 Pharisäer, ihr wahrheitsliebenden
Stümper, ihr Schänder der Sitten,
ihr Kerkermeister der Bräuche. Verschlinger
der Freiheit, Belehrer anderer, Wächter eurer
eigenen Torheit. Eure Worte sind unerheblich.
Ihr selbst seid unerheblich.
8 Wuschen sich meine Anhänger die Hände,
so verbiete ich es ihnen nun, hielten sie
die Sitten ein, so bestimme ich nun, wir lösen
uns vom Orden eurer Bräuche und gründen
einen neuen, der nicht fesselt, sondern befreit,
der zu leben hilft, uns zu uns selbst macht,
die stupiden Schatten der Vorgänger abwäscht,
den längst auf der Welt eingetrockneten Schlamm der Dummheit.
9 Seht ihr denn nicht, dass es erst dämmert?
Zu dieser Zeit ist jedes Wort schädlich.
Falls ihr jedoch mit anpacken wollt,
dürft ihr euch uns anschließen!
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