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Der Text versucht die Autorin durch eine genaue Textanalyse eines Textauszuges der "Atemschaukel" in einen neuen Kontext zu stellen und zugleich einen Ansatz zur Erfassung ihrer Poetik zu liefern.t
Herta Müller eine mitteleuropäische Dichterin, denn sie schreibt nicht nur Prosa und ihre Prosa ist strukturiert dicht wie Lyrik; früher hätte man das ornamentale Prosa genannt, also eine Prosa, die weniger auf die Sujetebene orientiert ist, keine spannenden Plots liefert, sondern stärker auf phonetischer, lexikalischer, semantischer und syntaktischer Ebene arbeitet. So sind schon die Titel ihrer Bücher oft neuartige Komposita „Atemschaukel“, „Herztier“. Das erste Kompositum wird in seiner phonetischen und semantischen Entstehung gezeigt, dabei ist es eine Metapher, die schwer zu klassifizieren ist. Die Hungernden haben einen so leeren Mund, dass in ihm das Rachenzäpfchen flattern und der Atem schaukeln kann.
Das Buch beginnt mit dem binären Gegensatz Eigenes >< Fremdes, der Held hat nichts Eigenes oder anders gesagt, das Eigene, das er bei sich hat, ist alles fremd, gehört nicht ihm.
„Alles was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. Es war entweder zweckentfremdet oder von jemand anderem.“ (7)
[1]
Das Eigene wird mit dem veraltenden „Meiniges“ bezeichnet, das dem Helden, dann doch nicht gänzlich, denn unter den Dingen sind zwei Geschenke, die er als Eigenes ansieht, doch sind auch die anderen Dinge Geschenke, sodass nur die Interpretation der Ich-Person sie besitzlos oder doch nicht besitzlos macht. Auf den ersten Seiten bleibt es auch auf Grund der deutschen Sprache unklar, ob die Ich-Figur weiblich oder männlich ist.
Gleich auf der ersten Seite finden wir in einem Satz zwei Metaphern, die für die Poetik Herta Müllers charakteristisch sind. „Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten.“ (7) Die Augen in der zweiten belebenden Metapher finden wir in der Metaphorik des weiteren Textes wieder. „[…] wenn die Abraumhalde gelbe Augen macht und glüht, als wäre darin der zerstückelte Mond.“ (124)
Durch die Deportation der Hauptgestalt nach Russland tritt ein Thema auf, das für die mitteleuropäische Literatur und die osteuropäische Literatur des vergangenen Jahrhunderts charakteristisch ist, die „Lagerliteratur“. Zugleich zeigt sich darin die Verbindung Mitteleuropas mit Osteuropa, die sowohl außerliterarisch stattgefunden hat, als auch innerliterarisch zu verfolgen ist. So reiht sich der Text Herta Müllers in so klassische Werke des Gulags wie „Один день Ивана Денисовича“ von Aleksandr Solženicyn und die „Колымские рассказы“ von Varlam Šalamov ein und gerade mit dem letzteren hat die „Atemschaukel“ eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten, die Einteilung in kurze Kapitel, die immer einen einzigen Gegenstand zum Thema haben, das Ernähren vom Meldekraut, das Schippen von Kohle, der Kampf gegen den Hunger oder bei Šalamov gegen die Kälte und die genaue Beschreibung der Vorgehensweise in diesem Überlebenskampf.
Bei dem „Verbotenen“, das zu Anfang etwas geheimnisvoll erscheint, wird die Angst konkretisiert, geometrisiert und ornamentalisiert: „Ich sah die Angst der leeren Kreise, Quadrate und Trapeze, verbunden durch weiße Ranken mit Krallen.“ (8) Die Baume werden anthropomorphisiert und sexualisiert. „Und Sommer war es und weiße Haut an den Birken, […]“ „Das Holz wurde nackt.“ (8) Der Steinboden, die Mittelsäule, die Wandkacheln und die Holztreppe werden anthropomorphisiert und mit der Kassenfrau gleichgesetzt. „Wir kamen zeitversetzt, die Kassenfrau in der Bleiverglasung ihrer Loge, der spiegelnde Steinboden, die runde Mittelsäule, die Wandkacheln mit dem Seerosenmuster, die geschnitzten Holztreppen durften nicht auf den Gedanken kommen, dass wir verabredet sind.“ (9) Durch das Morphem p#ck- entsteht ein ganzer semantischer Komplex, der das Verschweigen der Homosexualität, denn als solches zeigt sich das „Verbotene“ bald, beschreibt. Schon die Metapher „Ich trage stilles Gepäck.“ gibt das Morphem als Leitelement vor. „Ich trage stilles Gepäck. Ich habe mich so tief und solang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede.“ (9) Das Morphem wird mehrmals wiederholt und entfaltet so eine konkretisierende Metapher, wobei diese in einem auffälligen Gegensatz zu dem spärlichen Gepäck bei dem Aufbruch in die Deportation steht. Durch die entfaltete Metapher wird das Schweigen konkretisiert, was auf der folgenden Seite weiterentwickelt wird.
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Der Ich-Erzähler sieht in einer Kirche einen Heiligen mit einem Schaf im Nacken, wobei die Alliteration Schaf und Schweigen vielleicht nicht zufällig ist. „Dieses Schaf im Nacken ist das Schweigen. Es gibt Dinge über die man nicht spricht. Aber ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, das Schweigen im Nacken ist etwas anderes als das Schweigen im Mund.“
Der Drang, zu den Treffen mit den Homosexuellen zu gehen, ist eine intuitive Handlung, die ohne eine klare Entscheidung vor sich geht, die dem Betreffenden widerfährt; so zeigt sich der Erzähler auf den ersten Seiten nicht als Charakter, wenn wir der Semiotik Lotmans folgen; denn auch die Deportation wird ihm auferlegt und er stimmt ihr – ohne den anderen, die ihn bemitleiden und ihn mit Geschenken versehen, dies mitzuteilen zu. In der Lagerliteratur treffen wir überhaupt, und das ist ein Wesenszug von ihr, auf Gestalten, die sich nur sehr schwer zu Charakteren im Lotmanschen Sinne entwickeln können. Sie stehen in einer ähnlichen Position wie ein Soldat, dessen Entscheidungsspielraum stark eingeschränkt ist.
Die „Worte“ werden anthropomorphisiert (das Schweigen wurde konkretisiert verdinglicht) und im Fleisch werden seine zwei Bedeutungen im Deutschen aktiviert, als Essware und als Objekt der sexuellen Begierde. Damit wird das Bibelzitat „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ aktualisiert und parodiert. „Das Wort wusste, wie weit ich schon gegangen war.“ „Wieso redet sie vom Fleisch, wenn es um Kartoffel und Gabel geht. Von welchem Fleisch spricht sie. Mir hatten die Rendezvous das Fleisch umgedreht. Ich war mein eigener Dieb, die Wörter fielen unverhofft und erwischten mich.“ (10)
Einen Satz, den wir später im Text wiederfinden werden, der den Helden in der Steppe begleitet, findet der Held in der Kirche neben dem Heiligen, im Text graphisch durch Großbuchstaben markiert. „Der Himmel setzt die Zeit in Gang.“ (11) Diese eigenartige Metapher ist in ihrem Wesen ganz technisch, so wie der Mechaniker die Uhr in Gang setzt, und damit entspricht sie der lingua tertii imperii, die Viktor Klemperer beschrieben hat. (Klemperer 1947, 162-165) Klemperer hatte sich gegen die technisierende Metaphorik des Nationalismus gewandt, doch beziehen sich seine Beispiele auf Metaphern, in denen Menschen in technische Prozesse eingebunden werden, hier wird dagegen der Himmel hinunter geholt, die technisierende Metapher ist zugleich eine anthropomorphisierende; was zeigt, dass eine solche Metaphorik nicht notgedrungen etwas inhumanes in sich tragen muss.
Die graphische Markierung von Sätzen und Lexemen ist, trotz der scheinbaren Geringfügigkeit, durchaus zu beachten. So werden die Lexeme „Lager“ und „Russland“ hervorgehoben, wobei das erste sowohl im Russischen als auch im Deutschen auftritt (im Russischen ist es ein Lehnwort aus dem Deutschen), jedoch nicht in den anderen mitteleuropäischen Sprachen. Ob nun dieses Wort gefallen ist, wird in Zweifel gezogen, waren die Polizisten doch ein Rumäne und ein Russe, nur das zweite Lexem ist sicher, während anstelle des „Lagers“ auch ein Synonym für Russland stehen kann.
Aufgrund dieses zentralen Satzes wird die Zeit den Kleidern als das eigentlich wichtige gegenübergestellt. „Die Welt war kein Kostümball, […]“ (11)
Zwischen den Wörtern und den Liebhabern wird durch das Verb treffen eine Äquivalenz hergestellt. „Jede Woche traf ich mich mit dem, der doppelt so alt war wie ich.“ (9) „Mich trafen die Wörter Aquarell und Fleisch.“ (12) Syntaktisch gibt es insofern einen Unterschied, dass das Verb im ersten Fall eine andere Rektion aufweist. Aber die Worte, die ihn treffen sind wirklich mit seinen heimlichen Treffen verbunden, „Aquarell“ metonymisch, weil er sich in einer Badeanstalt trifft, „Fleisch“ symbolisch, wie wir es schon ausgeführt haben.
Was die Syntax betrifft, fallen bestimmte Passagen durch sehr kurze Satzeinheiten auf. Dies ist nicht nur in der Atemschaukel zu beobachten, sondern ist ein allgemeines Merkmal der Prosa Herta Müllers, wobei dies in der frühen Prosa stärker ausgeprägt.
Das Lokale wird in dem Text nicht ausgeblendet, so sind Bokantschen ein siebenbürgisches Wort für Bergschuhe, wurde aber auch in der Bukowina in der allgemeineren Bedeutung „Stiefel“ verwendet; es wird auf Rumänisch Bocanci zurückgeführt, aber auch im Slowakischen finden wir „baganča“ und im ungarischen „bakancs“, sodass es sich hier um ein Lexem handelt, das einen größeren Raum abdeckt und in verschiedene Sprachen eingedrungen ist, also ein typisch mitteleuropäisches Lexem. „Dann zog ich mich an: 1 lange Unterhose, 1 Flanellhemd (beige-grün kariert), 1 Pumphose […] 1 Paar Wollsocken und 1 Paar Bokantschen.“ (13f.)
Die syntaktische Permutation von Verwandschaftsbezeichnung und nominum proprium kann als typisch pannonische Erscheinung bezeichnet werden; also statt Tante Fini – die Fini-Tante, der Artikel ist noch ein zusätzliches Merkmal des Dialekts. „Die grünen Handschuhe der Fini-Tante lagen griffbereit auf dem Tisch.“ (14)
Die Wench ist ein Flurname bei Schäßburg (rum. Sighişoara, ung. Segesvár), was später in einer Analepse noch deutlicher wird. Es ist für das Buch an sich sehr bezeichnend, dass es kaum Analepsen aufweist, sodass die Handlung in einer scheinbar unendlichen Gegenwart stattfindet, die nur durch die anfängliche Bemerkung des Ich-Erzählers, dass er fünf Jahre im Lager verbracht hat, relativiert und begrenzt wird. Auf der Wench findet ein für das achtjährige Kind eindrückliches Ereignis statt, die Mutter stellt sich tot. „Dieser Schrecken, der Himmel fiel ins Gras.“ Hier wird also die uranomorphe Metaphorik weitergeführt, der Himmel wird nicht nur anthropomorphisiert, sondern auch zoomorphisiert, wie eine Riesenschlange kann er den Knaben verschlingen. „Ich drückte die Augen zu, dass ich nicht sehe, wie er mich schluckt.“ (14)
Der zweite Leitsatz neben „Der Himmel setzt die Zeit in Gang“ ist „Ich weiß du kommst wieder“ und ist ebenso graphisch markiert. Dieser Satz wird metaphorisiert und dadurch anthropomorphisiert. „Aber so ein Satz ist selbstständig. Er hat in mir gearbeitet, mehr als alle mitgebrachten Bücher. Ich WEISS du kommst wieder wurde zum Komplizen der Herzschaufel und zum Kontrahenten des Hungerengels.“ (14) Die Anthropomorphisierung entsteht durch das Verb „arbeiten“ und durch dieses wird der Satz mit den Büchern gleichgesetzt und zugleich in der Wertigkeit über sie gestellt. Die „Herzschaufel“ wird in einem späteren Kapitel, das genau diesen Titel trägt genauer beschrieben und wird hier durch die Zuschreibung „Komplize“ ebenso anthropomorphisiert oder zumindest, wie der Hungerengel, personifiziert. Der Gegensatz Komplize >< Kontrahent wird übertragen, sodass der Gegensatz Herzschaufel >< Hungerengel entsteht. Diese Opposition müssen wir im folgenden Text im Auge behalten, denn sie erklärt die emotionale Bindung an das Werkzeug, das Herzschaufel genannt wird.
Die Augen spielen nicht nur auf der semantischen Ebene eine Rolle, sondern auch strukturell auf der lexikalischen und syntaktischen Ebene. Durch die lexikalische Äquivalenz entsteht ein Gegensatz zwischen offenen Augen und geschlossenen, die ersten sprechen, die zweiten weinen. „Es wurde mit aufgerissenen Augen leise und viel gesprochen und mit zugedrückten Augen leise und viel geweint.“ (15)
Die Ohrenmetaphorik zeigt sich in zwei aneinander anschließende Vergleiche. „Die Zähne des Hornkamms verschwanden im Haar, von seinem gewölbten Rand schauten nur zwei Ecken wie kleine spitze Ohren hervor. Mit den Ohren und dem dicken Zopf sah der Hinterkopf aus wie eine sitzende Katze.“ (15)
Eine Pflanze trägt einen Haushaltsgegenstand, wird dadurch in das Packen für den Aufbruch einbezogen. „Mittendrauf wächst, halb so hoch wie ich, eine Pflanze mit pelzigen Blättern.“ (Schon hier eine Kleidungsmetapher, die auf die Integration in den menschlichen Haushalt verweist.) „An ihrem Stengel ist eine Fruchtkapsel mit einem Ledergriff, ein kleiner Koffer. Die Kapsel steht fingerbreit offen, ausgepolstert mit fuchsrotem Samt.“ (15f.) Das Homonym, ein graphemische Permutation „ruht“ und „Ruth“ wird aktiviert. „Schreiben wir doch Ruth, so heißt niemand, den wir kennen. Ich schreibe ruht.“ (16)
Das Fahren ist ein Aufschieben des Schicksals. „Solang wir fahren, kann uns nichts passieren. Solang wir fahren, ist es gut.“ (17) Das Grammophon wird in eine zoomorphisierende Metapher eingebunden, genau genommen eine „Pferde“morphisierende. „Mit einem Grammophonkistchen kann man reiten, reiten durch den Tag, du kennst doch den Rilke (nachschauen!), sagte die Trude Pelikan in ihrem Glockenschnittmantel mit Pelzmanschetten bis hinauf zu den Ellenbogen.“ (17) Die Pelzmanschetten, die auf die Metapher der genannten Pflanze verweisen, werden mit einer zoomorphen Metapher verbunden, die zugleich eine Hyperbel ist. „Manschetten aus braunem Haar wie zwei halbe Hündchen. Die Trudi Pelikan schob manchmal beide Hände über Kreuz in die Ärmel, und die zwei Hundehälften wurden ein ganzes Hündchen.“ (17) Hier zeigt sich, wie die zoomorphen Metapher eine Gestalt, Trudi Pelikan, begleiten. Nun wird der Schnee anthropomorphisiert, er wird zu einem Spitzel. „Der Schnee denunzierte, sie musste freiwillig aus dem Versteck, freiwillig gezwungen vom Schnee.“ (18) Dabei kommt es zu einem Oxymoron: „freiwillig gezwungen“. Diese Anthropomorphisierung des Schnees wird entfaltet. „Dass der dicke Schnee die Hauptschuld trägt. Dass er zwar in die Stadt gefallen ist, als wisse er, wo er ist, als wäre er bei sich zu Hause. Dass er aber den Russen sofort zu Diensten war. Wegen dem Schneeverrat bin ich hier, sagte die Trudi Pelikan.“ (18) Auffällig ist auch die syntaktische Parallele, die zugleich eine Devianz ist, da Nebensätze mit „dass“ gewöhnlich nicht als eigenständige Sätze stehen.
In dem Text kommen auch eigentümliche umgangssprachliche onomatopoetische Verben vor wie „dubbern“. „Der Kanonenofen in der Waggonmitte dubberte.“ (18) Durch eine Metapher wird das Lied fluid. „Das Lied schwappte einem im Kopf […]“ (19) Die Neologismus bei Herta Müller betreffen meist neue Komposita wie „Schreckensgeknöch“, was in seiner Bedeutung schwer aufzulösen ist. „Sie war genauso starr und blau wie die erste [Ziege], ein Schreckensgeknöch.“ (19) Der Hunger wird transzendiert und es tritt an seiner Stelle immer wieder eine Symbolisierung auf, der „Hungerengel“. Wir haben schon gesehen, dass er in Opposition zu einem Werkzeug, der Herzschaufel steht. „wie sich der wilde Hunger bald über uns alle hermacht, ahnten wir nicht. Wie oft haben wir in den kommenden fünf Jahren, als uns der Hungerengel heimsuchte, diesen starren Ziegen geglichen.“ (20) Also diesem „Schreckensgeknöch“.
Literatur:
Herta Müller, Atemschaukel. München 2009
Victor Klemperer, LTI – Tagebuch eines Philologen. Berlin 1947
Александр Солженицын, Один день Ивана Денисовича. Москва 1961
Варлаам Шаламов, Колымские рассказы. Собрание сочинения. М. 1998
Text+Kritik, Heft 155, Herta Müller, München, Juli 2002
[1]
Die zweite Zeile ist übrigens ein Zitat von Cicero „Omnia mea mecum porto“ All that is mine, I carry with me.
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