Keine Aufklärung, sondern Erbarmen

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KEINE AUFKLÄRUNG , SONDERN ERBARMEN! „Wenn ich die Tatsache ‚die Arroganz der Aufklärung!’ mit einem Wort erklären müsste, würde ich den Ausdruck ‚ungültig erklären’ wählen. Menschen, Erlebnisse, Ideale, Wissen, Glauben für ungültig erklären, so tun, als ob sie nie existiert hätten; von der technologischen Überlegenheit unterstützte Besserwisserei, Unhöflichkeit, Oberflächlichkeit, Leichtsinnig-keit.“ Und ich…Mir ist bewusst, dass das Erzählen über eine zerschmetterte Liebe, die mich zum Schluss in dieses erstaunliche Abenteuer namens Russland untertauchen lässt, nicht leichter sein wird als das Erzählen, mit welcher Logik Alexi ins Feuer ging. Wie dem auch sei, wir haben etwas Gemeinsames: wir werden auf Absurdität reduziert. Eines Morgens wachen Sie auf und Sie existieren nicht. Sie sehen in den Spiegel, Ihr Gesicht ist das gleiche Gesicht, Ihre Hände sind die gleichen Hände. Sie ertasten Ihren Kör-per, er ist da. Aber sie wurden scheinbar für ungültig erklärt, sie existieren nicht. Alles, aber alles, inklusive des Buchs Gottes, den Sie anbeten, ist anders, Sie erkennen nichts wieder. Russland und mir passierte es so. Aytunç im Standesamt und die Eliten der Kommunisti-schen Partei, nomenklatura, im russischen Белый Дом erklärten uns mit einem Federstrich für ungültig. Die Niedergeschlagenheit und Verwirrung, ausgelöst dadurch, dass Aytunç seinen Namen jemand anderem gab, fielen mit den Reformen zusammen, die Anfang der 90er Jahre vom Jelzin-Regime – und von seinen russischen und westlichen Verbündeten- erzwungen wurden und deren Folgen für den überwiegenden Teil der Russen katastrophal waren. Das dem Internationalen Währungsfond ausgelieferte Russland verlor sechzig Prozent seiner In-dustrie, was den Verlusten des Landes im Großen Vaterländischen Krieg glich. Die Inflations-rate stieg auf tausenddreihundertfünfzig Prozent. Die Anzahl der russischen Wissenschaftler, die Anfang der achtziger Jahre zwanzig Prozent aller Wissenschaftler der ganzen Welt aus-machten, sank von drei Millionen vierhunderttausend auf eine Million dreihunderttausend. Die durchschnittliche Zahl der täglich verhungernden Menschen wurde dreistellig. Eine Staatsgewalt, die ihre Legitimität und Vertrauensbasis verloren hat, äußerst abge-nutzt ist, nicht nur der Unterstützung des Volkes, sondern auch der zuverlässigen menschli-chen Ressourcen beraubt ist, die ihre Bürokratie füllen sollen… (?in Gang halten soll) Eine genauso schwache und desorganisierte Opposition, in einem intellektuellen Vakuum, unfähig, die Bedürfnisse der Wähler zum Ausdruck zu bringen… Diejenigen, die so genannten „Neuen Russen“, die durch „Schocktherapie“ und „Privatisierung“ ins Leben gerufen wurden und die Landesinteressen ignorieren…Ein geteiltes Volk durch die „Informationskriege“ zwischen den Finanzkreisen, die die Medien unter ihrer Kontrolle halten, und dem Kreml… Die Wirt-schaftseliten, die mit der eigenen Regierung so verhandeln, als ob sie eine fremde Macht wä-re… Während der Duma-Sprecher, Gennadij Sselesnew mitteilte, Russland sei ein „Banditen-staat“ geworden, sagte Jegor Gajdar, einer der Väter der Schocktherapie: „Heldenrhetorik, wirtschaftliche Abenteuerlust und Diebstahl im großen Ausmaß werden die langfristigen Konstanten der russischen Realität sein“. Das war der Fall. Zur Dritten Welt zu gehören bedeutet, dass das menschliche Leben so gelebt wird, als ob es keine tiefere Bedeutung als die täglichen Bedürfnisse gäbe. Es bedeutet eine fatalisti-sche Geschichtsbetrachtung; eine feste Überzeugung, dass eine ethische und dadurch wirt-schaftliche Verbesserung nicht möglich sei; und eine endlose Betonung, dass „das Schicksal“ eine List der unbegreifbaren und unkontrollierbaren historischen Mächte sei. Russland ist das erste Hightech-Imperium mit einem hohen Ausbildungsniveau, das die Früchte des jahrelangen Fortschritts verfaulen lässt und sich der Gefahr ausgesetzt, in die Reihe der Länder zu rutschen, die als Dritte-Welt-Länder bezeichnet werden. Ein zertrampel-tes, großartiges Archiv, dessen Schrei ich sogar von hier höre, eine großartige Sammlung, deren Schmerz ich im Erklären der Ungültigkeit schon von hieraus spüre. Dies ist der Punkt, wo ich die Tragödie Russlands mit der Negation einer Vision identifiziere, einer Vision die ich mit Aytunç durch die Jahre hindurch kunstvoll ausgearbeitet habe. Eine hohe Vision, in der unsere Körper gesegnet und, noch wichtiger, unsere Seelen nicht zertrampelt wurden, nämlich die Liebe. Die Tragödie Russlands fand die Entsprechung beinahe aller seiner Erscheinungsfor-men in meiner Seele. Die Absolventinnen des Moskauer Instituts für Physik, die für ein But-terbrot als Prostituierte unter Deutschen, Türken oder Amerikanern schwitzen müssen, wur-den für mich der Beweis für die Nutzlosigkeit dieser hohen Vision namens Liebe, in der unse-re Körper gesegnet und unsere Seeelen nicht zertrampelt werden. Unsere Schreie vermischten sich. Dann…dann gab Aytunç seinen Namen jemand anderem, ich verließ mein Land. Ich machte mich auf den Weg Richtung Russland mit dem Wunsch, es würde mir beibringen ein „Nichts“ zu sein, mich dazu bringen, mich mit dem „Ungültig-Erklären“ abzufinden. Ich hatte die Hoffnung, das Massaker würde mich, wenn ich es mit eigenen Augen sehen würde, um-bringen, ohne dass ich sterben müsste (Ich hoffte nicht, „ein Massaker“ zu sehen, sondern ein tatsächliches Massaker mit eigenen Augen zu sehen). Ich würde dann so viele Schmerzen se-hen, wäre Zeugin dermaßen großer und dermaßen vieler Enttäuschungen, dass mein Herz ermüden und den Kampf gegen die laufende Zeit aufgeben würde, und ich wäre vielleicht sogar fähig, es als eine Befreiung zu sehen, dass Aytunç mich abschrieb. Warum Befreiung? Befreiung vom Glauben, Befreiung vom Ideal, Befreiung von der Vision, von der Suche nach einer Wahrheit, Prawda, die über meinem Leben steht. Befreiung von einer eigentlich grund-losen Anstrengung, dem Glauben, das Ideal, die Vision aufrechtzuerhalten. Eine vorherbe-stimmte Tatsache, ein materielles und seelisches Ungültig-Werden zu Ende geführt; sich die-ser größten Herausforderung entgegenzustellen, zu Boden zu sinken. Ich wollte das böseste Böse erleben, die dunkelste Dunkelheit, die kälteste Kälte, die weiteste Weite, die höchste Höhe, die einsamste Einsamkeit, die verlorenste Verlorenheit. Alles sehen, alles erleben, damit keine Wahrscheinlichkeit für Überraschungen, keine Hoff-nung mehr übrig ist. Zu den ungeschützten inneren Steppen Eurasiens; zu den dunklen Wäl-dern Richtung 60. nördlicher Breitengrad; zu dem mit eingestreuten Krummkiefern und Tan-nenbäumen in die Einöde führenden Land namens „Taiga“; in die Einöde, in der minus fünf-zig Grad niemanden überrascht und in der die Sonne nie wieder aufgeht, sobald sie untergeht, wollte ich mich zurückziehen. Die geeignetste Landschaft für dieses ungeheure Experiment war gewiss das russische Land, das größte Festland der Welt. Nicht Anatolien. Die Hoffnung geht in Anatolien nie zu Ende. Und ich will meine Zeit nicht mit Hoffnung vergeuden, nicht mehr. Alexi hatte gesagt: „So wie die russischen Bauern“. „Nachdem die Mongolen Kiew ausgeplündert haben, ziehen die russischen Bauern nach Norden zu den Wäldern. Und dort wird die Zivilisation müde und legt sich schlafen. Der Mensch kehrt zum Ursprung zurück, wandelt sich in eine erdgebundene Pflanze, stumm und widerstandsfähig. Das von Stürmen der Kriegsherren willkürlich hingewürfelte Dorf ohne Anfang und Ende und die ‚ewigen’ Bauern, die Kinder in die Welt setzen und in die Mutter Erde säen, tauchen wieder auf: eine eigenständige vielfältige Menschenmasse. Nahrung, die nur zum Überleben reicht, unbedeu-tende Ersparnisse, unbedeutendes Vermögen und Ausdauer … Die Massen werden zertram-pelt, aber die Überlebenden ersetzen die Toten durch ihre primitive Gebärkraft und sie leiden weiter.“ Diese Formulierung, die Formulierung „Nachdem die Mongolen Kiew ausgeplündert haben…“ wurde später eine Parole zwischen Alexi und mir. Ich glaube noch immer nicht, dass man Menschen ohne Habgier besser definieren kann als so. Sowohl ein zertrampeltes, zertretenes Lebewesen, als auch ein Lebewesen, das ein neues Lebewesen befruchtet, damit es zertreten wird, und sogar auch ein neues Lebewesen als Kandidat zum Zertreten werden... Sein. (?) Alexis ewiger Mensch, das heißt, aus einer Idee, einer Abstraktion bestehender Men-schen, das heißt, ein überflüssiges Ich. Russland und ich, wir müssten entweder zu dieser erdgebundenen stummen und wi-derstandsfähigen Pflanze umgewandelt werden oder, wir hätten um unsere Ressourcen zu kämpfen; um unsere Ressourcen, das heißt um unsere Vision, unsere Sehnsucht nach einer höheren Wahrheit, das heißt um unsere Liebe. Mit meinem anatolischen Wankelmut, oder meiner Weisheit, wenn Sie so wollen, suchte ich Wege, mich mit dem Nichts abzufinden. Alexi ging ins Feuer, nach der Tradition der russischen Intellektuellen: „Der Mensch kann die Göttlichkeit nur durch eine Tat, die sei-ne Existenz bestätigt, erreichen, und diese Tat ist Selbstmord“. (?Herkunft des Zitats?) Dass ich auf Grund meines brennenden Begehrens, mich in Russland aufzulösen, Anatolien verließ, war für Aytunç zwar unbegreiflich, aber dies brachte ihn nicht um. Mein Wagnis, meine Zukunft ohne Liebe in Russland zu suchen, wurde von ihm vorzugsweise als eine andere Manifestation meiner manisch-depressiven Verfassung erachtet, da er verärgert war, ignoriert zu werden. Er war ein Genie, der der Architektur seinen Stempel aufdrücken wollte. Werke schaffen; mit seinen Werken zu seinen Lebzeiten reüssieren; er wollte die Früchte seiner Mühe in vollen Zügen genießen. Er hatte es satt, die Befriedigung aufzuschie-ben. Als Folge, so verstehe ich es heute, entschied er sich für den Westen, ich für den Osten. Sich für den Osten zu entscheiden, heißt auf diesem Planeten, Angriffen der unendli-chen „Reformen“ ausgesetzt zu sein, eine Ungültigkeitserklärung (Negation) in Kauf zu neh-men. Ich machte dies. Jedoch gibt es ein Sprichwort: „Göttliche Offenbarung wird demjeni-gen zuteil, der sich von der Despotie des Wissens befreit und Platz für Wissen macht“. Wenn ich es heute von hieraus betrachte, begreife ich, dass der Abbau von Wissen einer der Gründe meines Russland-Abenteuers gewesen sein könnte, der mir damals sogar nicht bewusst war; Befreiung von der Sklaverei des Wissens, das ich mir in dem Land angehäuft hatte, in dem ich geboren und aufgewachsen bin; Platz machen für neues „Wissen“ durch Einwandern in dieses neue für mich rätselhafte Land; Umstrukturierung; sogar das Konvertieren in eine an-dere Güloya . An diesem Punkt, wo ich endlich eingestehen musste, dass ich keine andere Chance hatte, als meiner Überflüssigkeit zuzustimmen, vielleicht sogar die Gleichgültigkeit zu lernen, war mir tatsächlich bewusst, dass ich für das Studium zwei Länder zur Auswahl hatte: Eines war Palästina, das andere Russland. Palästina, das Land, in dem Frauen sechs Buben zur Welt bringen, zwei von ihnen, um von Panzern platt gedrückt zu werden, zwei zur Beschaffung der Nahrung, die gerade zum Überleben reicht und zwei als Ersatz. Das Land der „ewigen Men-schen“, die hartnäckig, ohne Anfang und Ende befruchtet werden, um zu zertreten, um zertre-ten zu lassen, um zertreten zu werden. Ich wusste es: sollte ich keinen Selbstmord begehen, könnte ich es von ihnen lernen, zumindest musste ich versuchen zu lernen, warum und wie man sich dermaßen wünschen kann, die Toten zu ersetzen und weiter zu leiden. In der Praxis war dies leider nicht möglich, da Palästina besetzt war und die Kriegsherren niemanden hi-neinließen. „Aus dem ‚Osten’ zu sein“ heißt auf diesem Planeten den An-griffen der unendlichen ‚Reformen“ ausgesetzt zu sein, Über-flüssigkeit zu akzeptieren.“ Weltwache “Realität ist eigenartiger als die Fiktion, Fiktion muss einen Sinn haben, Realität aber nicht.“ Der Himmel musste sich bewölkt haben, als ich nicht aufsah, die schönen Sterne waren ver-schwunden, die Eiswüste wurde finster. Von außen kam überhaupt kein Licht, das die Durch-sichtigkeit der Zugfenster hätte beweisen können. Als die schwache Lampe des Abteils das vereiste Fenster mit der Dunkelheit der Nacht überzog und es in einen einseitigen Spiegel verwandelte, wurde unser Kontakt zur Welt zur Gänze abgebrochen. In jener Nacht kam es einem so vor, als ob die Passagiere im Zug zwischen Kotlas und Moskau die einzigen Lebe-wesen auf der Welt wären. Die Abteile von Nade und Rotem Winkler waren dunkel und still. Die Frau mit oran-gefarbigen Haaren, der Marineoffizier, Dr. Isaiah, andere Passagiere, alle hatten Alexi und mir den Wachdienst überlassen, hatten die Lichter ausgeschaltet und waren eingeschlafen. Wir nannten es immer „Weltwache“ und lachten. „Als ob der Menschheit etwas zustieße, wenn wir einschlafen würden!“ sagten wir immer und schätzten die Schlaflosigkeit; wir gewöhnten es uns nie ab, wir konnten es uns nicht abgewöhnen, bis in die Früh wach zu bleiben und den Gott, das Wissen, die Seele, das Leben und die Liebe zu beschützen. Manchmal überließen wir die Weltwache auch einander, meistens überließ ich sie A-lexi, weil ich, im einsamen, endlosen, grenzenlosen Russland, öfter ein Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit hatte; ich hatte Angst; wie ein Embryo mich selbst aushalten zu müssen; öfter hatte ich den Wusch, meinen Kopf unter die warme Decke zu stecken, weder mitten im Nichts noch inmitten von Allem zu sein, nicht mitzumachen. Jedoch es war auch nicht meine Stärke, in der Dunkelheit Ruhe zu finden. Ich kann mich erinnern, jenseits der auf dem schwarzen Fensterspiegel reflektierenden zarten Gestalt meines werten Freundes nach einem Zeichen dafür gesucht zu haben, dass wir der Einöde entkommen. „Und Du? Bist du eine Freimaurerin, Aloscha?“ „Halte mich einfach für eine Muslimin.“ „Das ist Tolstoi! Tolstoi hatte das gesagt!“ Die Wolken hatten am Horizont nicht einmal einen Schatten. Einen Moment hatte ich Angst, niemals aus dieser unaufhörlichen Einöde herauszukommen. „Fährt da kein anderer Zug? Gibt es da keinen Zug, zumindest einen Güterzug, dem wir zuwinken können? Auch wenn er geantwortet haben sollte, hörte ich nichts. Ich war am Überlegen: Und du schätzt die christlichen Ideale, die Lehre des Messias über alles… „Du bist dir bewusst, dass du mir eine Antwort schuldig bist, oder?“ Er gestand zwar mit einem undeutlichen Kopfnicken, dass ich Recht hatte aber sofort spitzte er die Ohren hin zum Rattern und metallischem Quietschen des Zuges, als ob er ihn zum ers-ten Mal hören würde. Nach einer guten Weile sagte er: „Ich habe alle gezählt, sechs Liegewagen und drei Schlafwagen sind angehängt. Er ist dermaßen lang, dass wir an Bahnhöfen zweimal anhalten müssen. Zuerst für die Wagons am Zuganfang, dann für die am Ende…“ „So?“ „So!..“ Er lächelte. „Also, ich bezweifle nicht, dass der Islam, zumindest von außen betrachtet, der orthodoxen Kirche überlegen wirkt. Ich würde es verstehen, wenn jemand mit gesundem Menschenverstand den Islam wählen würde, wenn Islam und Orthodoxie zur Aus-wahl stünden. Statt einer komplexen und unverständlichen Theologie mit dem Trinitätsglau-ben, der Buße, der heiligen Kommunion, der Taufe, den Heiligen und den Ikonen, eine einzi-ge Doktrin, ein einziges Bekenntnis, ein einziger Gott und Sein Prophet…Auf jeden Fall wäre es eine vernünftigere Wahl.“ Ich weiß nicht warum, aber ich erinnerte mich an die Geschichte des Mannes, der prahlte, weil Padischahs Pferd zu ihm hingesehen hatte; ich identifizierte mich mit dem Mann und Alexi mit dem Padischah; meine Vorstellung von einem „Padischah“ war ein arroganter Intellektueller aus dem Westen! „Du wirst überheblich, Alexi! Tue es mir nicht an!“ Ihm die Chance zur Verteidigung zu geben hätte eine Polarisierung provozieren kön-nen. Ich wollte Alexi nicht als einen intellektuellen Gegner, sondern als einen Seelenpartner behalten, bei dem ich ohne Hemmungen laut denken konnte. Wie Madam Selenskaja sagen würde, betätigte ich die „Bremse“. „Die Muselmanen begnügten sich mit dem Koran, so wie die Christen sich mit dem Heiligen Buch begnügten“, sagte ich; ‚der Islam’ ist ein ‚einheitliches’ Ganzes, so wie‚das Christentum’ ein ‚einheitliches’ Ganzes ist. Der Islam kann fallweise so individuell wie Buddhismus und so gesellschaftlich, gar materialistisch wie Bolschewismus sein. Ich versi-chere dir, mein Freund, der Mörder von Hazrat Aisha, Mu’awiya bin Hind war nicht ungläu-biger als Stalin. Also! An deiner Stelle würde ich einem Bekehrungskandidaten raten, gut zu überlegen, wer ihm den richtigen Weg weisen soll. Auf der Flucht vor Vater Andrei Dimitri-jevitsch kann er ja Mullah Azam Tariq in die Hände fallen.“ „Mullah Azam Tariq“ ist der Führer der anti-schiitischen Organisation der Wahabis „Sipah-i Sahaba - Soldaten der Prophetengefährten“; der Mann, der seinem Sohn den Namen von Mu’awiya gegeben hat. Damals war er ständig in den Schlagzeilen der russischen Presse als der Verantwortliche für das Massaker, bei dem dreiundsiebzig Schiiten getötet und mehr als dreihundert verletzt wurden. „Stört dich dieses Durcheinander nicht?“ Er fragte genau in dem Moment, als die Zuglichter blinkten und ich konnte seinen Ge-sichtsausdruck nicht sehen. Ich konnte es auch nicht beurteilen, warum er dies im Flüsterton gesagt hatte. Wenn ich jetzt zurückdenke, wäre es besser gewesen, wenn ich diesen Mann, der im Begriff der Trennung von einer Welt war, die keine Lebensbedingungen für ihn bereitstell-te, nicht an Mu’awiya erinnert hätte. Ich hätte es nicht besser wissen können. Ich schüttelte den Kopf: „Was bewirkt der liebe Gott, nur Gutes bewirkt Er.“

Übersetzung: Burak Özyalçın

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Autor

Alatlı, Alev

Alev Alatlı wurde 1944 in Izmir gebor