Ouředník, Patrik

Der Prosaschriftsteller, Übersetzer und Essayist Patrik Ouředník wurde am 23. April 1957 in Prag geboren. Nach Abschluss der Grundschulbildung bestritt er seinen Lebensunterhalt als Buchhandlungsgehilfe, Hilfskraft in einem Archiv, Lagerarbeiter, Briefträger, Hausarbeiter und Sanitäter. Von 1974 bis 1976 besuchte er an einer künstlerischen Volkshochschule in Prag Kurse für Schauspielkunst und Theaterregie. 1985 emigrierte er nach Frankreich. Er übersetzt aus dem Französischen (u.a. Rabelais, Jarry, Queneau, Beckett, Vian) und ins Französische (u.a. Vančura, Hrabal, Holan, Skácel, Holub).

Patrik Ouředník vernetzt seine wissenschaftlichen Interessen auf dem Gebiet der Linguistik und Literaturwissenschaft sowie seine übersetzerische Tätigkeit mit dem eigenen literarischen Schaffen. Auffällig ist, dass er dabei im wissenschaftlichen Bereich die in tschechischen universitären Kreisen fast schon traditionelle Distanz gegenüber dem sprachlichen Usus des Alltags ablehnt, seine Übersetzungen aber auf solide literarische wie auch auf interdisziplinäre Kenntnisse überhaupt schließen lassen, wobei seine Sympathie für experimentelle Methoden, respektive die Kreuzung und Vermischung historischer, soziologischer, psychologischer und anderer Interessen ins Auge stechen. Das Resultat dieser scheinbar widersprüchlichen Tendenzen sind Texte, in denen sich Ou?edník in ungewöhnlicher Weise und unbehindert von Klischees auf Erörterungen und Interpretationen von Themen einlässt, die gewöhnlich dem strikt wissenschaftlichen Bereich vorbehalten sind. In seinem Erstlingswerk, der lexikologischen Arbeit Šmírbuch jazyka českého (Schmierbuch der tschechischen Sprache), versuchte er, die sprachliche Ebene des Argots und Slangs zu dokumentieren, allerdings nicht in Form einer wissenschaftlichen Arbeit, die sich an strenge Auslegungsregeln und ein unverrückbares Gliederungsschema der einzelnen Stichwörter halten würde. Schon bei der Auswahl des Materials hatte er sich einzig und allein vom eigenen Sprachgefühl leiten lassen oder eventuell auf Bedürfnisse seiner übersetzerischen Praxis Rücksicht genommen. Auch bei den angeführten literarischen Zitaten folgte Ou?edník nicht einem im Voraus festgelegten Schlüssel, sondern ließ sich von unbewussten Assoziationen lenken. In der Publikation Aniž jest co nového pod sluncem (Ohne dass es etwas Neues unter der Sonne gäbe) wandte er sich einer biblischen Thematik zu und präsentierte dem Leser „ein Lexikon von Bibelausdrücken und ‚Parabiblismen‘“, in welchem er heute längst geläufige Redewendungen in ihrem ursprünglichen biblischen Kontext erläutert. Der Sinn des Lexikons besteht jedoch darin, „nicht nur die Etymologie, die sachliche Geschichte von Wörtern und ihre Zusammenhänge etc. zu verdeutlichen, sondern etwas anzubieten, worüber man aus dem Sprachlichen heraus weiter nachdenken kann, bis hin zu der Aufgabe, die die Sprache im Leben des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft hat. [...] Ouředníks Lexikon von Bibelausdrücken ist mehr zu leisten im Stande als solche Werke es im allgemeinen tun, das heißt, über die Bedeutungen und den Ursprung verschiedener sprachlicher Zusammenhänge zu informieren – es kann zu einer Erneuerung unserer vergessenen sprachlichen und kulturellen Erfahrung beitragen“, schrieb der namhafte Literaturhistoriker Alexandr Stich im Vorwort. Abgesehen von zwei sprachlich kreativen Gedichtbänden Anebo (Oder) und Neřkuli (Geschweige denn) bereicherte Ou?edník auch die tschechische Prosa um zwei experimentelle Bücher: In dem einen – Rok čtyřiadvacet (Das Jahr vierundzwanzig) - knüpfte er an Joe Brainards und Georges Perecs „Erinnern-Spiele“ an. Diesen Gedächtnisexpeditionen des Autors zu Grunde liegen von der Formel „Ich erinnere mich“ ausgelöste fragmentarische Erinnerungen – Ausschnitte aus den Jahren 1965 bis 1989, in denen sich Ouředník Momente sowohl aus seinem Privatleben, als auch von sogenannten „großen“ gesellschaftlichen Ereignissen vergegenwärtigt. Durch die Art ihrer Anordnung – indem er aus vierundzwanzig aufeinander folgenden Kapiteln sukzessive je eine der ursprünglichen vierundzwanzig Eintragungen entnahm - ahmte er die begrenzte Fähigkeit des Menschen, Erinnerungen abzuspeichern, nach. „Der Filter des Gedächtnisses beschränkt sich darauf, Wahrnehmungen zu sortieren, die der Autor nach anderen Mechanismen verkettet, als es die Logik einer nach politischen oder soziologischen Kriterien erfolgenden Aufzeichnung der Zeit verlangen würde: Klischees von Situationen, sachliche Details, Fragmente von Gesprächen, Binsenwahrheiten, Automatismen, Ticks werden durch das Prisma des Autorsubjekts und eines, wenn auch meist je nach Generation austauschbaren, ‚Erlebnisses‘ betrachtet, sie repräsentieren nicht das ganze Kollektiv oder Leben im Kommunismus als solches“, hielt Vlastimil Hárl im Nachwort fest. Ou?edníks Blick bleibt auf diese Weise individuell, stets markant ausgeprägt, ohne dass er auch nur mit einem einzigen Wort das Geschehen um ihn herum bewerten würde. Die Zeit demaskiert sich hier selbst durch ihre Sprache, die plötzlich aus dem zeitlichen Kontext der Kommunikation gerissen und unter dem Mikroskop des Autors beleuchtet wird. Ouředníks zweites Prosawerk Europeana liefert, wie der Untertitel lautet, eine „knappe Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts“, die aber nicht objektiv, sondern mit dem Blick „von unten“ vorgestellt wird. Folglich hält sich das Buch nicht an eine lineare Chronologie, hierarchisiert die historischen Ereignisse nicht, untersucht nicht die Verkettung von Anlässen und Folgen und personalisiert die Geschichte nicht: Es ist eine Aufrechnung der Durchschnittlichkeit und stellt Tatsachen banalen Charakters Millionen Menschen den Tod bringenden Geschehnissen gleich. Es durchleuchtet die Entwertung der Menschlichkeit, die von den absurden Mechanismen von Establishments unterschiedlicher ideologischer Prägung verschlungen wird und ihr geistiges Potential einem ruchlosen Materialismus überantwortet. „Was ist wahr? Die historische Wahrheit der Geschichte? Die literarische Wahrheit des Textes? Die Wahrheit der Utopie? Die Wahrheit der Erinnerung?“, steht auf dem Einband von Ou?edníks Buch. Es sind Fragen, die der Autor nicht eindeutig beantwortet, weil die gesammelten Fakten und der Text für sich selbst sprechen. (ph)

BIBLIOGRAPHIE:

Šmírbuch jazyka českého Ivo Železný 1992 Tschechisch

Anebo Volvox Globator 1992 Tschechisch

O princi čekankovi Volvox Globator 1993 Tschechisch

Aniž jest co nového pod sluncem Mladá fronta 1994 Tschechisch

Pojednání o p?ípadném pití vína Volvox Globator 1995 Tschechisch

Rok čtyřiadvacet Volvox Globator 1995 Tschechisch

Neřkuli Mladá fronta 1996 Tschechisch

Hledání ztraceného jazyka Zdeněk Susa 1997 Tschechisch

Europeana Paseka 2001 Tschechisch

Dým bosého Paseka 2004 Tschechisch

Příhodná chvíle, 1855 Torst 2006 Tschechisch

Ad acta Torst 2006 Tschechisch

Siehe auch

Personaldaten

Herr Ouředník, Patrik
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E-Mail: po.nlg@laposte.net
Geburtsdatum: 1969-12-31
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