Politik gegen Ritual

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Politik gegen Ritual

Oxana Timofejewa

Äußerst kluge und überzeugende Überlegungen über die neue Aktualität des Christentums (des Islams, des Monotheismus, der Mystik, der Religion, des Glaubens) werden immer popu-lärer in der zeitgenössischen Theorie, der Kunstkritik und in der politischen Philosophie. Die-se Überlegungen flößen eine süße Hoffnung in die Herzen der Aktivisten, Künstler und Intel-lektuelle ein, indem es dabei einen günstigen Kontext und eine gemütliche Atmosphäre für das Treffen des linken, progressiven Avantgardegedankens mit der konservativen Ideologie schafft. Die Gesamtheit der anerkannten Meinungen erreicht eine kritische Masse und bildet ein gewisses diskursives Kontinuum, im Rahmen dessen die pathetische Äußerung religiösen Inhalts beinahe wie eine Selbstverständlichkeit erscheint. Keineswegs wollen wir hier die Bedeutung des Glaubens schmälern, der im richtigen Moment ein privilegiertes Objekt der schöpferischen Investition darstellt, nichtsdestoweniger teilen wir nicht die mit diesem Objekt verbundene Geisteshaltung und erinnern an die Worte Marxens, dass die Religion trotzdem Opium für das Volk ist.

Uns wird man natürlich erwidern und sagen, dass die Religion als ein repressives institutiona-lisiertes Gebilde von dem Glauben als subjektive Geste, z.B. als Manifestation der Wahrheit in der Welt, die in der Lüge verdreckt ist, unterschieden werden muss. Wir wollen hier jedoch eine andere Unterscheidung durchführen, in der Glaube und Religion auf der einen Seite er-scheinen und auf der anderen Seite die Politik. Teilweise wird die Notwendigkeit eines sol-chen Unterschieds von den überall auftretenden Versuchen diktiert, politische und religiöse Praktiken gleichzusetzen, in ihnen das Gemeinsame zu finden, wodurch es leicht würde, das eine auf das andere zu reduzieren. So wird der Kommunismus dem Urchristentum gleichge-setzt, der Marxismus mit dem jüdischen Messianismus, die antiglobalistische Bewegung mit dem linken Islamismus oder sogar mit dem ausufernden muslimischen Fundamentalismus, zusammen mit irgendeinem Euroasiatismus und anderen Formen der nationalistischen Reak-tion. Dem Glauben kommt aber – zum Beispiel dem Glauben an ein gewisses Ideal einer ge-rechten Gesellschaft – die Qualität einer ausreichenden Begründung politischer Protestaktivi-tät zu, als habe die letztere keine anderen Begründungen als diese.

Zweifellos gibt es eine bestimmte Übereinstimmung zwischen Glauben und Politik. Insbeson-dere die Korrelation von Glauben und Religion sind strukturell der Korrelation Politik und Macht nahe. Im gegebenen Fall berührt sich unser Gebrauch des terminologischen Paares Politik – Macht mit der Einteilung Politik und „Polizei“, die Jacques Rancière vorgeschlagen hat. Rancière behauptet, dass „die Politik nicht die Kunst sei, Gemeinschaften zu regieren“, sondern „eine Form des menschlichen Handelns, gegründet auf den Wiedersprüchen, auf der Ausnahme von der Regel, nach der sich der Zusammenschluss menschlicher Gruppen und ihre Führung vollzieht“ , während die Polizei dagegen mit diesen Regeln der Führung, die die „normale“ Ordnung sichern, zu tun hat. Die „normale“ Ordnung der Dinge besteht nach Ran-cière darin, dass sich die menschliche Gemeinschaft unter der Macht derer versammelt, die das Recht haben zu herrschen; das Recht, das allein durch das Faktum bewiesen ist, dass die Herrscher herrschen. Verschiedene Rechte zur Verwaltung lassen sich letztendlich auf zwei große Rechte zurückführen. Das erste Recht verweist die Gesellschaft auf die Abstammung, die menschliche und die göttliche. Das ist die Macht kraft der Geburt. Das zweite verweist die Gesellschaft auf das Lebensprinzip ihrer Tätigkeit. Das ist die Macht des Reichtums.

In Klammern merken wir an, dass das gegebene Schema faktisch die Politik als Privileg der Linken festigt, wenigstens in der gegenwärtigen Situation, wenn gerade diese, wenn auch „schwache“, Kraft sowohl gegen die neoliberale „Polizei“ des Kapitals als auch gegen die konservative, nationale und religiöse „Polizei“ des Staates protestiert. Ist der Zusammenstoß der Masse der Antiglobalisten mit der Armee von Polizisten bei dem Gipfeltreffen nicht tat-sächlich ein konkretes illustratives Beispiel des abstrakten Gegensatzes von Politik, der die Forderung nach Gleichheit zugrunde liegt, und „Polizei“, durch die bestätigende und vor dem Anschlag auf die „natürliche“ Ungleichheit und auf die Macht der Reichen über die Armen schützende Kraft des Gesetzes im Maßstab der ganzen Welt? Eine solche im höchsten Maße künstliche Art der menschlichen Aktivität wie die Politik leistet allen möglichen Formen der Naturalisierung und der mit ihr einhergehenden Sakralisierung der Herrschaft Widerstand, wenn die letztere sich selbst in Gestalt einer natürlichen und göttlichen Ordnung bestätigt.

Im Unterschied zu Rancière, der der Politik einen anomalen, zufälligen und ausschließlichen Charakter zuschreibt, halten wir sie für ein notwendiges und unverbrüchliches Element des sozialen Seins. Bei all seiner Künstlichkeit stellt sich der politische Protest gegen den groben biologischen Determinismus der Macht als nicht weniger natürlich dar, als das den Protest provozierende legitimierte „Wesen“ , und dann kann der Gegensatz Politik und Macht nicht als ein direkter, sondern als ein verkappter beschrieben werden. Im Rahmen des gegebenen Verhältnisses stellt die Macht – das Repräsentationssystem, das die Staatssouveränität oder das globale Imperium bedient – eine gewordene, kapitalisierte und „tote“ Politik dar, die sich mit Hilfe von Ritualen festigt. Man kann übrigens nicht darüber hinwegsehen, dass die Ritua-le, mit denen sich die Macht umgibt, - vom Baden des nackten Königs in der Epoche des Ab-solutismus bis zu den heutigen Präsidententreffen auf höchster Ebene, - aus ästhetischer Sicht ziemlich abscheulich sind. Ihre Anwesenheit und ihr Beerdigungsüppigkeit erlaubt jedes Mal zu bestimmen, dass wir die Macht vor uns haben, und überhaupt nicht die Politik, als die sie sich in der Regel ausgeben will.

Auf ähnliche Weise ist auch die Religion, die von der Kirche und anderen geistlichen Institu-tionen repräsentiert wird, ein erstarrter und entfremdeter Glauben. Sowohl die Kirche als auch die Macht haben mit gewissen Ikonen und Symbolen zutun, die die Gegenwart Gottes auf der Erde substituieren. Sowohl die Kirche als auch die Macht sind selbst Symbole, die seine Ge-genwart substituieren, oder, was dasselbe ist, seine Abwesenheit maskieren. Sie haben einen sakralen Status und alles um sie herum wiederholt ihre Größe und unbezweifelbare Autorität. Glaube und Politik sind ihrerseits durch ihre Potentialität eine äußerst kostbare Ressource für Religion und Macht und eine fruchtbare Quelle, auf die sich die verluderten sakralen Instituti-onen immer gierig gerne stürzen.

Jedoch - auch hier ist der wesenhafte Unterschied wichtiger als die formale Ähnlichkeit – sind Politik und Glauben nicht symmetrisch. Der Glaube (sei es auch eine lokale Sekte) bedarf einer konfessionellen Bestimmung und braucht eine Ritual – eine rhythmische Reproduktion des Glaubenssymbols. Durch diese rituelle Reproduktion des Symbols hält sich der Glauben im Körper des Gläubigen (oder wenn wir ganz korrekt sein wollen, in seiner Seele), und die-ses Halten, das durch die Heiligkeit dieser äußeren Instanz, die das Symbol symbolisiert, ge-sichert wird, ist ein Faktum der göttlichen Gnade. So bittet der Christ Gott, ihm einen größe-ren Glauben zu schicken. Das Subjekt der Politik kann im Unterschied zum Subjekt des Glau-bens niemanden bitten, an niemanden glauben und zum größten Teil niemanden fürchten: die Tugend der Politik heißt in der Sprache der Christenheit Sünde des Stolzes. Wenn wir in einer anderen, weltlichen Sprache sprechen, setzt nicht der Glauben als für uns hinabgesandte Gna-de durch die politische Praxis etwas in Bewegung, sondern der bewusste Protest und der gute Willen zur Veränderung der vorhandenen Wirklichkeit.

Ein lebendiges Modell, das die Möglichkeit einer solchen Veränderung demonstriert, ist die Kunst. Darum ist es wichtig, nach unserer Ansicht, keine Vermischung zuzulassen und die verschiedenen Richtungen der politischen und religiösen Vektoren, von denen jeder in glei-chem Maße die individuelle schöpferische Strategie und die kollektive Strategie einer Künst-lergruppe bestimmen kann, zu unterstreichen. In der Tat kann die Kunst Ikonen erschaffen und kann sie zerstören. Nur im zweiten Fall wird sie politisch sein, - bis zu der Zeit, wo ihre Protestressource nicht entgültig angeeignet und von der Macht ausgeschöpft ist und solange die durch sie zurückgelassenen Ruinen sich nicht selbst in Ikonen verwandeln.

Ein Mechanismus eines solchen Abfangens ist das System der contemporary art, die sich als eine Art aufgeschobener Reaktion auf die Avantgarde gebildet hat, das bloße Erscheinen die-ser war ein Zeichen dessen, dass die Kunst, die allmählich auf ihre ursprünglich rein religiöse, rituelle Bestimmung verzichtet, lernte sich politisch zu begreifen. Die ungestüme Politisie-rung der Kunst zu zügeln, deren Perspektiven sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftaten und ihre möglichen Effekte die umfangreiche institutionalisierte Struktur, die fähig war, die Funktion wiederholter Kanonisierung und Ritualisierung der Protestformen der künstlerischen Tätigkeit, einschränken zu können, d.h. ihr den religiösen Sinn wiederzugeben.

Im Rahmen des Systems contemporary art wurden bestimmte Strategien der Fetischisierung der Objekte der Avantgardekunst, dabei auch der Warenfetischisierung, indem einige psycho-soziale Besonderheiten der Marktwirtschaft berücksichtigt wurden, formuliert. Als Feind der Kunst erweist sich das Geld als Maß des Unermesslichen, das an derselben Stelle eine Hierar-chie etabliert: contemporary art stellt als Institut in bedeutendem Maße ein Markt von sehr spezifischen Gegenständen des Luxus – von Bildern und Ikonen des Protestes dar, jede von ihnen, wird in Übereinstimmung mit dieser Hierarchie mit einem ihr nicht eigenen Wert ver-sehen. Solange Geld eine konstituierende Rolle im Verhältnis zur Kunst spielt, kommt sie nicht aus der geschlossenen Raumzeit, in der die Zirkulation des Kapitals von einem rituellen Schimmern des „politischen“ Flitters begleitet wird, heraus.

Übrigens, ernsthafte und pathetische Überlegungen über negative Effekte des Marktes stellen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Gemeinplatz dar, der schon sozusagen „hinter uns liegt“. Wir kehren zu diesem Platz nur darum, um einen gewissen Punkt herauszufinden, aus dem plötzlich der religiöse Vektor der gegenwärtigen Kunst herauswächst und in dem sein bisher nicht sichtbarer „theologischer Umbruch“ stattfindet oder stattfinden kann. Paradoxerweise, erweist sich als der gesuchte Punkt die Kritik des Kapitalismus, die teilweise den zurech-nungsfähigen Stimmen, die die Welt der gegenwärtigen Kunst vertonen, nicht fremd ist. Da-bei formiert die betreffende Kritik aktiv ihr Objekt – nennen wir es in Analogie zum Großen Anderen Lacans den Schlechten Anderen. Was wir auch in dieser Welt des globalen Kapitals tun, wir werden es immer mit dem Schlechten anderen zu tun haben, der allgegenwärtig und unaufhebbar ist, als ob wir schon in der Hölle wären. Vor Verzweiflung, Enttäuschung über die realen Praktiken des Kampfes, vor dem Gefühl des Verfluchtseins, падшести, der Aus-weglosigkeit des Kapitalismus, für den es keine Alternative gibt, entsteht das immer hartnä-ckigere Bauen auf einen gewissen wahrhaftigen Glauben – auf den wir jedoch lieber verzich-ten.

Ohne diesen neuen Glauben zu teilen, können wir dennoch seinen existenziellen Horizont angeben, auf dieser Seite von ihm, zusammen mit ihm und gemeinsam mit dem Übrigem er-weist sich teilweise auch unsere eigene Erfahrung. Zu begreifen, dass heute das Kapital eine Art Hegelsche Totalität darstellt, die alle Widersprüche aufhebt oder keine äußere Immanenz besitzt, öffnet ein bisschen ein solches ontologisches Loch, in dessen Nähe es wirklich un-heimlich ist. Totalität – aber nicht diese! Heißt das nicht vielleicht, dass niemand von uns, mit unserer beinahe physischen Empfindung der Ungerechtigkeit, Fehlerhaftigkeit dieser Welt, keine einzige Chance mehr hat? Ist das vielleicht die vollkommene Niederlage?

Aus einem ähnlichen Gefühl wird auch der Glauben geboren, der als eine absurde, durch nichts verursachte Heldentat, die sich trotz der schlechten Totalität allem Schlechten Ande-ren und seiner toten Religion stellt, gedacht wird. Dieser Glauben nimmt als Bewaffnung den Slogan „Another world is possible“, - aber macht ihn zur Ikone einer neuen Transzendenz. Indem er seine Werte in die „andere Welt“, die „möglich“ ist, überträgt, aber nur nicht hier und nicht jetzt, zieht der rezente „Glaubensritter“ in keiner Weise die Unerschütterlichkeit „dieser Welt“ in Zweifel und lebt weiterhin in ihr und nach ihren Gesetzen. So funktioniert die gegenwärtige Kunst erfolgreich als Markt und schickt sich scheinbar zynisch an, in die-sem Geiste fortzufahren, dabei verkündet sie aufrichtig, dass die linke Idee a priori bis zu ir-gendeiner dritten Wiederkunft nicht realisierbar ist. Im Ergebnis dieser heuchlerischen Strate-gie, die den Glauben mit einer geschickten Realisierung der Ikonen vereinbart, verwandelt sich der politische Protest, das Erbe der Avantgarde, wieder in ein Ritual. Dabei wird die Poli-tik in religiösen Termini uminterpretiert, und, z.B. in der zufälligen Identifizierung der Linken mit den Urchristen verlagert sich der Akzent langsam aber sicher auf die Seite der Urchristen. Jedoch nach unserer tiefen Überzeugung, wenn irgendetwas an der Urchristenheit (oder jeder anderen Religion) ein unmittelbarer Interesse für die Kunst haben kann, dann ist es nicht das religiöse oder rituelle, sondern gerade das politische Protestbildende.

Unterdessen ist kein absurder „Sprung des Glaubens“ mehr notwendig – der Sprung in die unbegreifliche Unendlichkeit der Möglichkeit einer „anderen Welt“, - denn die Möglichkeit selbst erscheint nicht mehr absurd. Im Gegenteil, heutzutage ist die Absurdität gerade „dieser Welt zu offensichtlich geworden, als dass man es nicht bemerken könnte, die Absurdität der kapitalistischen Ökonomie, des Alltags, der Moral, der Kultur, - und das ganze System der Machtpräsentation erscheint als absurder Strom, der uns von Zeit zu Zeit fortreißt. Jetzt ist es ziemlich einfach, ein konsequenter Atheist zu sein und die weltlichen Wege der Entidentifi-zierung mit dem blühenden Fieber des Spätkapitalismus zu suchen. Oder ein radikaler A-theist zu sein – und wieder und wieder alle möglichen Ikonen zu zerstören, damit die Säkula-risierung der Kunst endlich einen unwiderruflichen Charakter annimmt. Etwas ähnliches woll-ten wir auch von dem rezenten Künstler sehen, wenn uns jemand danach fragen würde.

Übersetzung © Stephan Teichgräber

Художественный журнал 63. Политика против ритуала

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Autor

Timofeeva, Oxana

Philosophin, arbeitet bei der Neuen L