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Roman: Erinnerung, die durch das Gefühl lebendig wird
(František Hečko: Červené víno [Rotwein])
Mehrere zeitgenössische Reflexionen von Literaturkritikern und späteren Interpretationen charakterisierten Červené víno [Rotwein] als ein Grenzwerk – „das für eine Übergangsperiode typisch ist“. Die äußeren Umstände bestätigen diese Feststellung. Im Kontext des literari-schen Schaffens František Hečkas (1905 – 1960) ist der umfangreiche dreibändige Roman die erste Prosaarbeit des mehr als vierzigjährigen Autors, der bis dahin – von 1931 bis 1946 – nur drei bescheidene Gedichtbände herausgegeben hatte; mit diesem Werk wurde der regionale Dichter ein Schriftsteller nationaler Bedeutung und das in einer Zeit, als der Großteil der Al-tersgenossen (z.B. Milo Urban) in der slowakischen Kultur schon lange mit den besten Wer-ken ihrer Schaffensbiografie etabliert waren. Die These von Červené víno [Rotwein] als ei-nem Werk „einer Übergangszeit“ hat seinen wahrscheinlichen Ausgangspunkt noch in einem – gleichsam externen - Faktum: der Roman erschien erstmals 1948, wobei dieser politische Markstein kurz darauf auch eine instrumentalisierte Periodisierungsscheide der Literaturge-schichte nach dem Februar 1948 wurde. Die damalige Charakterisierung der Zeit, in der das Buch erschien, als Umbruchszeit, wurde auch auf das Werk selbst übertragen: die theologisch modellierte Literaturhistorie „las“ in ihm und zeichnete gerade die Elemente aus, die mit der einseitigen und linearen Orientierung der Entwicklung – mit der Ausrichtung des Romans auf „die sozialistische Literatur“ – im Einklang stand. In nicht geringem Maße trug dazu die schöpferische Position Hečkas zur Zeit der ersten Ausgabe von Rotwein bei. Den wirklichen Ruhm als Schriftsteller und die Popularität beim Leser brachte ihm erst der folgende Roman Drevená dedina [Das Dorf aus Holz] (1951), das als Musterwerk des Sozialistischen Realis-mus aufgenommen wurde. Noch 1949 veröffentlichte er auch eine überarbeitete Version des Romandebüts: die Eingriffe kamen den Forderungen der Zeit entgegen – den offiziellen, für den Schriftsteller verpflichtenden Vorstellungen von der Form und der Funktion der Literatur. Die geringe zeitliche Distanz zwischen der Ausgabe des Rotweins und des Dorfes aus Holz führte zu einer Suche nach einer Verbindung zwischen beiden Teilen; in der Optik der linea-ren Entwicklung bildeten sie ein natürliches Kontinuum, in dem das folgende Buch automa-tisch ein „höheres Niveau“ als der Vorgänger erreichen sollte. Diesen Blick unterstützte auch Hečkas autobiographisch-publizistisches Buch Od veršov k románom [Von Versen zu Roma-nen], das die zeitbedingte Lesart des Prosawerkes guthieß.
Die erwähnte Schaffensbiographie ist jedoch nicht nur bemerkenswert, als ein zeitbedingtes und stellenweise bizarres Dokument seiner Zeit. Außer Hečkas Selbstinterpretation gibt es auch nicht wenige tatsächliche Daten, oftmals gerade solche, welche der Interpretation des Autors widersprechen oder sie wesentlich relativisieren. Zum Interessantesten gehören die Anmerkungen zur auktoriellen und biographischen Genese von „Červené víno“ [Rotwein]. Der Ausgangspunkt für die Arbeit an dem Roman war die persönliche Erinnerung an einen konkreten nahestehenden Menschen: „Irgendwann, ich glaube im Sommer 1943, bat mich Ján Kostra, dass ich ihm für den Rundfunk eine kurze Erzählung über die Mutter schreibe. (...) Als sie fertig war, gefiel sie mir nicht – die Mutter hatte ich kaum realistisch beschrieben. Und darüber, was ich von ihr sagen wollte, war mein Herz übervoll, sodass es vor Fülle sogar schmerzte. Darum erweiterte ich die Erzählung... Und so wuchsen mir unter der Feder die Kapitel und nach fünfjähriger Anstrengung waren es bis zu sechzig. Ich begriff beinahe selbst kaum, dass ich eigentlich einen dreiteiligen Roman geschrieben habe....” Zwischen dem klei-nen Memoiregenre, das einer, wenn auch der nächsten Person gewidmet war, und dem brei-ten, reich von Personen bevölkerten Roman stehen fünf Jahre konzentrierter schriftstelleri-scher Arbeit: auch wenn die ursprüngliche Veranlassung im Verhältnis zur letztendlichen Gestalt scheinbar vernachlässigt werden kann, kann es bei der Rekonstruktion der zeitbeding-ten Situation und dem Versuch der literaturhistorischen Einordnung des Werkes produktiv sein, auch die einfache biographische Angabe – die Tatsache, dass am Anfang eine von einem konkreten, stark emotionalen Engagement begleitete Erinnerung stand, auszuwerten.
Das biographische Faktum, das in das familiäre Milieu des Autors verpflanzt wurde, wurde der anfängliche Impuls zum Schaffen des Romans; die Familie als semiotische Wirklichkeit des Werkes ist eines der bestimmenden Elemente seines motivisch-thematischen und kompo-sitorischen Aufbaus. In „Rotwein“ konkretisiert sich – einmal in der unifizierenden Koopera-tion, ein andermal in Konkurrenz – verschiedene Romantypen. Die ersten zwei Teile des Bu-ches sind vor allem ein Familienroman bzw. ein Roman eines Geschlechts und einer Genera-tion.
Die Spannung zwischen der konkreten Familie und der Tradition des Geschlechts, die den Kindern Gehorsam gegenüber den Eltern vorschreibt, also die Verletzung der eingeführten Generationsordnung, ist ein primärer epischer Beweggrund des 1. Romanteiles, der „Elemen-te“ genant ist. Urban Habdža, der älteste Sohn wohlhabender Bauern aus Zelená Misa, heira-tet gegen den väterlichen Willen die Waise Kristina, um gemeinsam mit dem kleinen Sohn das Elternhaus zu verlassen und sich in der unweiten Weinsiedlung Vlčindol anzusiedeln. Der Generationskonflikt nimmt der jungen Familie jegliche Hilfe und materielle Unterstützung seitens der Eltern: sie beginnen sozusagen aus dem nichts, verschuldet und angewiesen einzig auf Urbans unglaublichen Fleiß, Geschicklichkeit und Erfindungsgabe, die in der Arbeit im Weinbau zum Tragen kommt. Die Habdžas gewinnen allmählich großen Respekt unter den Bewohnern von Vlčindol, dient doch die Voraussicht, mit der Urban seinen Weingarten wie-derherstellt, auch die künftige Ernte vor der Reblaus und Schimmel (perenospóra) schützt, auch dem Erhalt des Weinbaus in der Gemeinde als dominanter wirtschaftlicher, kultureller und Lebensstil. Im Gegensatz zur Anerkennung der Mehrheit in Vlčindol ist die Haltung, die Urban gegenüber die reichen Bauern Silvester Bolebruch und Šimon Pančucha einnehmen: der erste hasst Habdža tödlich als ehemaligen und erfolgreicheren Rivalen in der Liebe zu der Frau, die er immer noch liebt, Pančucha als Inkarnation des größten Übels und Niedrigkeit hilft ihm dankbar in den Intrigen gegen Urban, wobei seine Motivation hauptsächlich ökono-misch ist. Die Feinde treffen sich in einigen dramatischen Auftritten: Bolebruch hetzt auf Habdža seine blutrünstige Dogge (Kapitel „Hundekälbchen“), Pančucha schlägt brutal sein Söhnchen Marek und klagt Urban wegen Ehrenrührigkeit, und nach dem verlorenen Prozess verprügelt Habdža mit seinem Kameraden Oliver Ejhledjefok Bolebruch und Pančucha im Wirtshaus „U krvavého hnáta“ [Zum blutigen Fuß]... Habdžas müssen auch äußeren Unbilden trotzen, vor allem der Verschuldung und der mit ihr verbundenen permanenten Bedrohung des Eigentums, der im Falle der Insolvenz der Bank zufällt. Diesem Risiko versucht Urban ge-meinsam mit dem Vlčindoler Tomáš Slivnický durch die Gründung einer Bauerngenossen-schaft der Selbsthilfe zu begegnen. Die Zeit, in der der erste Teil der Triologie Hečkos schließt, hat neben der sachlich zeitlichen auch symbolische Gültigkeit: erst der Ausbruch des ersten Weltkrieges trägt in den Roman die Bedeutungsdimension der sogenannten großen Geschichte und Geschichtlichkeit als solche: erst dieses Ereignis ergreift das alte, ursprüngli-che Vlčindol und setzt es dem rücksichtslosen Druck der sich schnell änderenden Zeiten.
Im Zentrum des narrativen Interesses im ersten Teil des Buches waren die Schicksale der ganzen Familie Habdža, wobei die dominante Position – aus der Sicht der Entscheidung, der Verantwortung, aber auch der Aktivität auf der Handlungsebene Urban gehörte. Der zweite Teil des Romans, die „Hrdinka a hrdinča“ [Die Heldin und der kleine Held] bringt im Ver-hältnis zum Vorhergehenden einen Wechsel in der Konfiguration der Hauptgestalten. Urban Habdža rückt ein und die ganze Last der Verantwortung für die Führung der Wirtschaft fällt auf die Schultern Kristinas und den ältesten Sohn Marek. Die Dramatik der einzelnen Szenen vertieft sich noch gegenüber dem ersten Teil und wird um einen tragischen Akzent ergänzt: die Bearbeitung des Weinbergs, die für Urban eine natürliche Lebenserfüllung und Angele-genheit zur Realisierung der Kreativität war, wenn er der harten Arbeit eine kultische und sakrale Dimension zu geben verstand, die für den Knaben, der für den Erwachsenen einstehen muss, eine unmenschliche Schinderei wird; Kristína bittet in der höchsten materiellen Not den reichen Schwiegervater Michal Habdža um Hilfe – der jagt sie hinaus; die aufopfernde Großmutter Urbans, die schon vorher der Familie selbstlos geholfen hatte, bricht mit Essen nach Vlčindol auf – erst morgens wird sie erfroren in einer Schneewehe vor der Schwelle des Hauses Habdžas gefunden; in derselben Nacht, als Kristina ein Kind zur Welt bringt, sterben ihre zwei kleinen Buben an Diphterie – den Habdžas hilft in der schrecklichen Situation die Frau Silvester Bolebruchs Eva – obwohl sie weiß, dass ihr Gatte Kristina liebt, geht sie gegen seinen Willen in einer Winternacht zum Arzt – bekommt eine Lungenentzündung und stirbt vor Frühlingsanfang. Viele Lebensbahnen enden fatal: durch den Tod (Tomáš Slivnický, Mi-chal Habdža) oder durch sukzessiven Verfall der körperlichen und geistigen Vitalität (Kristína, Urban), den auch die schweren Kriegszeiten beschleunigt haben. Es werden die Beziehungen einiger Protagonisten (ab)geschlossen. Der sterbende Michal Habdža konnte vorher niemals seiner Schwiegertochter verzeihen und erlaubte nicht, dass sie an seinem Ster-bebett ist. Im Augenblick des Abgangs erscheint er ihr jedoch dreimal in der Gestalt von Licht und Stimme, die Kristina zärtlich zuspricht. Ein mysteriöser Auftritt an der Grenze von Traum und Wirklichkeit, eine der stärksten Szenen des Romans beschließt den zweiten Teil von „Rotwein“.
Im Unterschied zu den erwähnten Personen spielt sich die Geschichte Marek Habdžas im Zeichen des Aufschwungs ab: es gelingt ihm das scheinbar Unmögliche, als er während der Abwesenheit des Vaters schafft, den Weingarten zu bestellen und die Wirtschaft in Ordnung zu halten – gewinnt er die Anerkennung des Großvaters, der ihn im Testament zum Haupter-ben des Besitzes in Zelená Misa – in der Schule zeigt er sich als der begabteste Schüler und erfolgreicher Laienschauspieler.
Marek als Held des Aufstiegs wird der Protagonist des dritten Teiles des Buches „Marek a Lucia“. Der einheitliche, auf Vlčindol zentrierte epische Raum der vorangegangenen Teile von „Rotwein“, spaltet sich in zwei parallele Projekte. Die Geschichte Vlčindols ist das Zu-Ende-Erzählen dezenter Schicksale der bis dahin dominanten Gestalten. Die vorzeitig vernichtete und von Krankheiten gequälte Kristina stirbt einige Jahre nach dem Krieg. Urban Habdža versucht erfolglos an die Genossenschaftsarbeit vor dem Krieg anzuknüpfen, in die Vereine investiert er eigenes Geld, nach ihrem Konkurs kommt er an den Bettelstab und trinkt sich noch vor der Versteigerung seines Eigentums zu Tode. Der veränderliche Plan der Um-welt knüpft ans Schicksal Marek Habdžas an: der beste Schüler Vlčindols geht nach West-stadt an die Weinbauschule studieren, später an die Wirtschaftsschule nach Oststadt – an bei-den erweist er sich als außerordentlich begabt, als ein Wunderstudent – nach der Schule er-warten ihn die Peripetien des Wehrdienstes – zur Anstellung tritt er als Adjunkt in der Meierei „Tulipan“ an. Auf jeder der erwähnten Stationen begleitet ihn aus der Ferne die Liebe Luckas Bolebruchovás, der Lieblingstochter Silvester Bolebruchs, des langjährigen Feindes der Habdžas. Die Beziehung geht nach mehreren Peripetien glücklich aus: Lucka flüchtet vor dem Altar vor dem Bräutigam, den ihr der Vater erwählt hatte, und entscheidet sich mit Marek zu leben. Das definitive Zerbrechen des Hasses zwischen beiden Familien bekräftigt auch die Ehe des jungen Bolebruchs mit Mareks Schwester Magdalénka.
Das Ende des Romans existiert in zwei Versionen. Nach der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1948 kehren Marek und Lucia aus Vlčindol nach Zelená Misa, wo sie sich auf dem reichen Bauernhof des alten Michal Habdža niederlassen. Silvester Bolebruch versöhnt sich, der nach einem schweren Unfall ohne Hände ist, mit Marek und segnet das junge Paar. In der Kirche von Zelená Misa wird bald mit dem Namen Silvester der jüngste Habdža, der erste von fünf Generationen des Geschlechts getauft – gerade so viele werden in „Rotwein“ vorgestellt.
In der zweiten überarbeiteten Ausgabe und in den weiteren Ausgaben (bis zur Gegenwart) mündet die Geschichte von Marek und Lucia in eine andere Form: Mareks Erbe des Großva-ters reißen die hrabiví [habsüchtigen] Verwandten Róchus Svätý und Mikuláš Habdža an sich - Silvester Bolebruch hat zwar seinen Sohn und Magdalénka Habdžová, aber mit Marek hat er sich nicht versöhnt - Marek und Lucia gehen in die Welt.
Die drei Teile „Rotweins“ gliedert sich weiters in Kapitel. Es handelt sich um relativ auto-nome Gebilde, die großteils auf einem personalen Prinzip gegründet sind: sie richten die Aufmerksamkeit auf eine Gestalt, dabei unterstreicht den monographischen Charakter schon die Namensform des Titels (im 1. Teil „Šimon Pančucha“, „Michal Habdža“, „Leopold Vo-sajnor“, „Magdaléna, ich taufe dich...). Die Narration, die auch der epischen Prähistorie des Protagonisten, seiner sozialen und inneren Lage gewidmet ist, geht langsam in das aktuelle Geschehen über. Zum Beispiel geht im Kapitel „Hundekälbchen“ dem dramatischen Ereignis, „Kollision“ (Urbans Kampf mit den Hunden, die Silvester Bolebruch auf ihn gehetzt hat) ein umfangreicher narrativer Exkurs in die Vergangenheit voraus. Eine solche „Exposition“ ist nicht nur die Historie der Beziehung Silvesters zu Kristína Habdžová (eine Beziehung als wesentliches Motivelement im Handeln der Gestalt), sondern auch eine komplexe gesell-schaftliche und psychologische Vorstellung Bolebruchs. Der Eintritt in die epische „Gegen-wart“ ist diskret, aber offensichtlich, der Leser orientiert sich vor allem an der gebrauchten zeitlichen Bestimmung, ausgedrückt durch Adverbialbestimmungen und der grammatischen Tempi – das aktuelle Ereignis, meist ein Konflikt, wird als unmittelbares Geschehen im Prä-sens, die Vergangenheit der Gestalt und die Umstände, welche dem Zusammenstoß vorausge-hen, im Präteritum präsentiert.
Die traditionelle Teilung der Akteure der Geschichte in Protagonisten und episodische oder Nebengestalten ist in „Rotwein“ abgeschwächt. Auch die Gestalten ohne eine direkte Verbin-dung zur zentralen narrativen Linie des Romans (z.B. der Lehrer Leopold Vosajnor) verfügen über eine eigene, wenn auch nur im Rahmen eines Kapitels erzählte Geschichte. Wie ist dann die Anordnung des Planes der Gestalten, wie bildet sich ihre gegenseitige Hierarchie, ohne die das Werk in eine Serie biographischer Skizzen zerfiele? Das vereinigende Element ist die Genrestruktur des Generationsromans: die epische Dominanz der Habdžas ist nicht nur durch die positiven Charaktereigenschaften und dem breiteren Raum, den ihnen der Erzähler im Vergleich mit den übrigen Gestalten widmet, gesichert. Nur die Habdžas sind als Träger einer ununterbrochenen Kontinuität eines Geschlechts, die sich über fünf (in der ersten Ausgabe) oder vier Generationen (in der zweiten und allen weiteren Ausgaben) von der Urgroßmutter Alojzia Kristová über den alten Michal Habdža bis zu Urban und seinen Sohn Marek (und bzw. seinem Kind) abwickelt, dargestellt. Obwohl die Protagonisten sich in den einzelnen Teilen abwechseln (Urban – Kristína und Marek – Marek), geht es immer um einen Angehö-rigen desselben Geschlechts, einen Träger und Garanten der Genrationsfolge. Hečkos Erzäh-ler sieht das Geschlecht vor allem aus dem axiologischen Aspekt: auch ist ihm Liebe, gemein-sam mit der Arbeit der wichtigste Wert des Lebens in Vlčindol, vor allem ein Mittel, um an die Generationskontinuität anzuknüpfen und die höchste, das Individuum übersteigende Ge-setzmäßigkeit zu erfüllen: „Die Liebe in Vlčindol ist erhaben: aus ihrem Lächeln, ihrer Um-armung werden die Kinder in Vlčindol geboren. Und es hat keinen Sinn sich gegen das Gesetz zu wehren, mit Hilfe dessen das menschliche Leben erneuert wird. (...) Štefan Červík-Nehreš... Šimon Pančucha... sind für immer gestorben, sind von der Welt verschwunden als unnötige Schatten, denn sie haben keine Kinder...” (der Beginn des Kapitels „Der Fall Filoména Ejh-ledjefkovás, 2. Teil, S. 107, S. 284, unterstr. -vb-.)
Der Generationsaspekt in „Rotwein“ ist nicht das einzige vereinheitlichende Strukturele-ment des Buches. Der Roman ist in der Fabel durch einige grundlegende epische Konflikte integriert (Michal Habdža vs. Urban Habdža, Urban vs. Silvester Bolebruch). Ihre Sujetartiku-lation zerfällt in eine Serie einzelner, von einander getrennter Ereignisse, die in relativ auto-nomen Kapiteln eingeschlossen sind. In diesem Raum steigen, steigern sich, gipfeln und schlagen dramatische Spannung aus; das Präsens aktualisiert das Ereignis, gibt ihm eine le-bendige Unmittelbarkeit, und reißt es zugleich aus dem Kontinuum der vergangenen und vor-vergangenen Zeit, unterdrückt seinen Zusammenhang mit dem vorangegangenen Geschehen.
Die Konzentration auf die Episode kann das Wahrnehmen des Ganzen beeinträchtigen; es geht um eine Situation, in der die Koordination der mikro- und makrokompositionellen Mit-tel, die Adaptierung einzelner überzeugend präsentierter und lebendig wirkender Auftritte zu einem Romankontinuum, einer Verknüpfung, zu einem wichtigen Problem wird. Einige Kapi-tel sind durch die Fabel eng verknüpft, aber durch die Kompositionsreihung entlegen: die Darstellung des zentralen Romankonfliktes des Vaters und des Sohnes der Habdžas nimmt von zwanzig Kapiteln des ersten Teiles (1. Ausg.) nur in drei Kapiteln (2. die angebrannten Schreine [?], 10. Magdaléna, ich taufe dich, 16. Michal Habdža). Die Hauptlinie des Ge-schlechts ist zugleich überschichtet durch autonome Geschichte, in der sich eine Nebenfigur vorübergehend zur Rolle eines Protagonisten aufschwingt, um nach dem Abspielen seines „Parts“ wieder mit der Dorfgesellschaft zu verschwimmen (z.B. Filoména Ejhledjefková im 2. Teil), eventuell den epischen Raum definitiv verlässt (Leopold Vosajnor)
Ein anderes vereinheitlichendes Verfahren könnte die Anknüpfung mittels der deutlichen temporalen Reihenfolge (vorher – nachher) im Genre der Chronik, der Familien- und der Ge-meindechronik, die die lineare Folge der Ereignisse notiert, sein. Welcher Gestalt sind in die-sem Zusammenhang die temporalen Bestimmungen des „Rotweins“. Fast jedes Kapitel ist in eine bestimmte Tageszeit, Wochen- oder Jahreszeit versetzt, viele von ihnen beginnen mit dieser Angabe: „In der Früh, kaum war Michal Habdža...” (2. Kap.); „Zu St. Kozma und Damián, am Sonntag, wenn die Traube lieblich süß wird...” (6. Kap.); „Am fünften Oktober wälzte sich auf Vlčindol. (...) Nebel” (7. Kap.); „Mittwochabend, wenn der junge...” (8. Kap.); „Am Samstag, vor dem einundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis...” (10. Kap.). Das Geschehen ist in Monate, Wochen und Tage oder ihre Teile situiert, manchmal auf die Stunde genau. („Am Donnerstag lasen die Habdžas bis zehn alle weißen Trauben” Kap. 9.), aber fast nie durch Jahre eingegrenzt. Dies gilt auch für Ereignisse, die mit dem historischen Gesche-hen verbunden sind (das Attentat von Sarajewo – die Kriegserklärung – das Einrücken – die Plünderung während des Umsturzes). Dem Roman, besonders im ersten und teilweise im zweiten Teil dominiert die zyklische Kalendertemporalität, die auf der Wiederholung der Jah-reszeiten, Arbeiten und Feiertage, einer Temporalität, die mit dem ideelen Kontext der christ-lichen Glaubenslehre verbunden ist, gegründet ist. Die zeitliche Situiertheit ist durch Aus-drucksmittel des Kirchenkalenders, mit dem der Rhythmus der Feld- und Weinbauarbeit fest verbunden ist, beschrieben. Das Bestimmen durch Jahre, dem der Erzähler konsequent aus-weicht, signalisiert die Störung des Zykuls: im Unterschied von Tagen, Wochen, Monaten oder Jahreszeiten ist das Jahr in seiner Unwiederholbarkeit charakteristisch für ein anderes Zeitverständnis; es durchbricht die Zyklizität, führt Linearität ein und damit auch die Einzig-artigkeit – die die Geschichlichkeit impliziert. Der Eintritt der historischen Zeit in den Roman hat eine wertmäßige Merkmalhaftigkeit, wenn die Katastrophe in Gestalt des Krieges ein-bricht.
Die zeitliche Geordnetheit der ersten zwei Teile ist charakteristisch für die/ eine Struktur, die in der Geschichte des Romangenres von dem Literaturwissenschaftler M.M. Bachtin als idyllischer Chronotop identifiziert wurde: „Das idyllische Leben und seine Ereignisse sind mit dem konkreten Raum des stillen Winkels verwachsen, wo Väter und Großväter lebten, wo die Kinder und Enkel wohnen werden. Diese kleine Welt, ein abgegrenzter und selbstständiger Ort hängt in keiner Weise wesentlich mit den anderen Orten der übrigen Welt zusammen. Das Leben der Generationen, das in dieser kleinen Welt lokalisiert ist, kann nicht unbeschränkt fortschreiten. (...) Durch die Einheit des Ortes, an dem sich das Leben Generation für Genera-tion abspielt, werden die zeitlichen Grenzen zwischen den einzelnen Leben und den verschie-denen Zeitabschnitten dieses bestimmten Lebens geschwächt und verwischt. (...) Das Verwi-schen der Zeitgrenzen unter dem Einfluss der Einheit des Ortes trägt auf wesentliche Weise zum Hervorrufen des zyklischen Zeitrhythmus, der für die Idylle typisch ist.” (unterstr. -vb-.) Die zyklische Temporalität im „Rotwein“ ist eng mit der räumlichen Anordnung verbunden, wie sie sich im Plan der Umgebung manifestiert: Vlčindol ist ein markantes integrierendes Element der Romankomposition. Es hat seine Autonomie als geographischer, wirtschaftlicher und sozialer Raum.
Hečko bekennt sich in dem schon zitierten Buch „Vom Vers zum Roman“ offen zu den bio-graphischen Ausgangspunkten vom „Rotwein“, er schreibt, dass seine Materialvorlage der Romanwelt die Landschaft der Kindheit war - Vlčia Dolina - nicht weit von seinem Geburts-ort Suchá nad Parnou, wohin seine Eltern von dem Gut des Großvaters Hečkos, einem reichen Bauern. Der Autor erwähnt auch, dass er während der Arbeit am Roman einen genauen Raumplan des künftigen Vlčindol ausgearbeitet hatte: „Auf einem Leinentuch hatte ich einen ganzen Weinort gezeichnet – 33 Häuser, Häuserl und Häuserlchen, Weinberge, Gärten und Felder und was die Anzahl betrifft, die Verordnungen, die Besitzer; die Straßen, die Fußwege, die Gräben, Raine, Brückchen, Materln, Baumreihen, Hecken; Menschen nach dem Alter, dem Geschlecht, dem Namen und dem Nachnamen, der Wohlhabenheit, dem Charakter, auch die Toten, auch die noch nicht Geborenen; Vieh von den Pferden und Kühen in den Ställen über die Katzen und Hunde nach Häusern und Höfen bis zu den Vögeln in den Nestern und den Schmetterlingen in der Luft; Weinrebensorten und Obstsorten zusammen von verschiede-ner Größe, Süße und Farbe, von denen es mehr als hundert gibt – mit einem Wort, es gab dort alles mögliche, was zwar keinen Sinn hat, weiter auszubreiten, doch sonst lässt sich ein Ro-man nicht schreiben.“ Ddie Wichtigkeit der Umgebung wird im Prolog des Romans unterst-riechen, im Kapitel, das in der ersten Ausgabe den Titel „Wenn der Herrgott büselt“ und in den anderen Ausgaben „Vlčindol“. Aus dem Blickwinkel der Makrokomposition geht es um einen invokativen Rahmen des Werkes – sein Pedant ist das Abschlusskapitel „Wenn der Herrgott die Augen öffnet, stellte er fest, dass die Welt ein bisschen besser ist“ (nach der Um-arbeitung lautet sein Titel „Und der Wind weht“). Noch bevor sich der Plan der Handlung beginnt zu entwickeln, noch vor der ersten Erwähnung der Gestalten evoziert der Erzähler die Umwelt; Hečkos epische Welt bildet sich nicht parallel mit der Entwicklung der Geschichte, sie ist primär schon fertig, „geschaffen“, als Naturrahmen für die Ereignisse, die folgen wer-den, vorbereitet („In der Zeit, wenn wir in Vlčindol mit unserer sehr wunderlichen Erzählung eintreten, hocken in ihm schon dreiunddreißig unterkellerte (podpivničený) Hütten.” Anfang 3. Kap „Willkommen, gut Leute!“, S. 19, S. 16).
Der Prolog des Romans ist eine Ode an Vlčindol. Der Erzähler evoziert in dichter lyrischer Abkürzung die Vergangenheit der Gemeinde: der natürlichen, beginnend mit der geologi-schen Formung des Gebietes („...auf der Lehmplatte der Slivnická Ebene breitete sich Wald aus... der Wolkenbruch biss ein Loch in die Welt...” S. 10 – 11, S. 9 – 10) und fortschreitend mit seiner vegetativen Struktur („Die Moos bewachsenen Eichen verschanzten sich im gelben Modder wie Kanonen... In Sümpfen am Fluss im scharfen Röhricht machte sich das Reptil der Pappeln und Erlen breit... Neununddreißig Arten kämpften in deinem Schoß mit Vogelknötte-rich und Acherquecke. Weißdorngebüsch und Schlehdornstrauch...” S. 10 – 11, S. 9 – 10); die mythisch-urzeitliche Vergangenheit, die Vergangenheit der Sagen und Legenden, die mit der Ankunft des Menschen verbunden sind („Auch der Mensch watete schon durch das Bett der Prašivá voda... von alten barbarischen Siedlungen...Schritte der Menschen, die Wälder ab-brennend und rodend, Slivnica gründeten... Magnaten mit armen Tröpfen...“ S. 10 – 11, S. 10 – 11); und dann die Vergangenheit, die mittels der Geschlechterfolge die Verbindung zur Ge-genwart findet und sich historisiert: „Wenn die drei, die mit Hacken und Spaten, mit Frauen und Kindern, mit Horntieren und Hunden kamen – was waren das für welche? Zum Beispiel Gregor Bolebruch, der sich Jelenie brehy aneignete... Martin Pančucha, ein Menscherl klein und niederträchtig... Rafael Slivnický...” (S. 11, S. 11). Die Geschichte des Ortes beginnt mit den Namen der drei Gründer, von ihnen spinnt sich eine Kontinuität der Gemeinde, ihre Nachfahren werden ein wichtiger Bestandteil der aktuellen epischen Gegenwart des „Rot-weins“.
Die verkürzte Vergangenheit Vlčindols im ersten Kapitel hat den Charakter eines Vorge-sanges. Außer der besonderen phonetischen Instrumentierung einzelner Sätze und Absätze („mit Hacken und Spaten, mit Frauen und Kindern, mit Horntieren und Hunden“) ist die Nar-ration im Raume der Kapitel durch mehrmaligen Gebrauch der direkten Anrufung, die auch am Anfang des Romans steht, rhythmisiert: „Ach, Herr im Himmel!“ Diese Spanne zwischen Gebet und Seufzer, zwischen dem Pathos eines hohen Genres und ihrer alltäglichen Profani-sierung, deutet auf die grundlegende modale Position des Werkes, seine narrative „Stim-mung“ voraus. Die Funktionalität der ersten Sätze von „Rotwein“ ist dabei zweifach:
„Ach, Herr im Himmel!
„Strafe den eigenen ungeratenen Sohn nicht, damit durch die Gabe des Gehörs das Uner-hörte erzählt, damit durch die Gabe des Sehens das Nichtgesehene gemalt wird, dass sie zu den Brandstätten, die vielleicht nicht einmal in Flammen loderten, zurückkehren! Lass ihm seine Fantasie! Mag er über die unübersehbare Ebene galoppieren...“
Der Genrerahmen der Aussage ist das Gebet. Seine Gegenwart macht außer der Anrufung auch der Bittcharakter jeder Satzeinheit sichtbar. („Strafe nicht... Lass ihn... Mag...”. Die Plat-zierung in der Einleitung des Romans erfüllt eine invokative Funktion, wobei im Unterschied zum Epos, in dem sich der Dichter an die Musen wand, ihr Adressat der Schöpfer ist. Es geht um eine eigene Art des Gebets, in der für den Erzähler um Fürbitte eingelegt wird: für die Fiktion des Erzählers, für den Fabulator („das Unerhörte erzählt... das Nichtgesehene gemalt wird“) und für seine Fantasie. Zugleich sind diese Sätze auch ein praktischer Hinweis an den Leser, ähnlich einer obligaten literarischen Warnung vor der Identifizierung der Gestalten und Ereignisse der Narration mit dem wirklichen Leben. Die folgende Anrufung gilt schon Vlčin-dol: „Ach, du mein trautes Vlčindol! (...) Willkommen, du mein aller liebstes Vlčindol! (...) Vlčindol, Vlčindol... (...) Ach, du mein altertümliches Vlčindol! (...) Ach, du mein weinreiches Vlčindol!“ Die Wiederholung hat ihre kompositorische Funktion, teilt und rhythmisiert zugleich das Ganze der Aussage. Außerdem, dass sie gleich zu Anfang das Thema absteckt, das, was der Narration gewidmet ist, setzt sie auch die Modalität fest – das Verhältnis des Erzählers zur Aussage; sie ruft jene unmittelbare Intimität, Familiarität und das starke emoti-onale Interesse, das für „Rotwein“ als Ganzes charakteristisch ist, hervor.
Vlčindol als das Zentrum Hečkas ist relativ autonom von der nächsten und entfernteren Umgebung durch den mehrfach gegliederten Raum; vielleicht kann man auf sie die zitierte Charakteristik des idyllischen Raumes Bachtins als „kleine Welt, als begrenzten und sich selbst genügenden Raum, der im Grunde nicht mit anderen Orten, mit der übrigen Welt zu-sammenhängt“ beziehen. Die Getrenntheit Vlčindols beginnt schon mit der geographischen Formbestimmung als „in die Welt gefressenes Loch“ und sein „Boden“, eine vom Regen aus-gewaschene Grube aus der Lehmplatte der Slivnicker Ebene“. Dieser „tiefer“ Parameter, der seinen Wiederhall auch in der Etymologie der Ortsbezeichnung findet, ist die Antinomie der dominanten Horizontale des umliegenden Landes. Er bildet zugleich die natürlichen Bedin-gungen für die wirtschaftliche Ausgeschaltetheit: im Unterschied von dem bäuerlichen Zelená Misa und anderer Dörfer ist Vlčindol eine Weinbaugemeinde. Von seiner Umgebung unter-scheidet es sich auch gesellschaftlich. Es geht um eine kleine, solidarische homogene Gesell-schaft mit einer geringen sozialen Differenzierung, durch die gleiche Weise des Lebensunter-halts und des Kampfes gegen den gemeinsamen Gegner, der die Ernte ansteckende Krankhei-ten, die Ungunst des Wetters...) bedroht, zusammengeschlossen. Unterschiede sind in der Größe des Besitzes, aber nicht in der sozialen und beruflichen Zuordnung: alle Bewohner sind Weinbauern (einige auch Landwirte), dabei hat die wirtschaftliche Position keine direkte Be-ziehung zum Charakter (wohlhabend ist sowohl der niederträchtige Šimon Pančucha, als auch der Initiator des gesellschaftlich genossenschaftlichen Geschäftemachens Tomáš Slivnický). Eine andere Situation ist im nahen Zelená Misa, das in das reiche bäuerliche Mestečko und das verproletarisierende Hoštáky. Die inneren Konflikte zwischen den Bewohnern Vlčindols sind primär persönlich motiviert, vor allem emotionell (die Liebe zur gleichen Frau bildet zwischen Urban und Bolebruch und zwischen Bolebruch und Ejhledjefok einen Antagonis-mus): das wirtschaftliche Schädigen des Gegners (z.B. durch den Kauf seines Eigentums bei der Versteigerung) ist nur eines von mehreren Mitteln den Nebenbuhler zu vernichten. Die wirkliche Gefahr für Vlčindol ist die äußere Welt, die durch wirtschaftliche (Banken) und staatliche Institutionen (Gerichte) repräsentiert werden, die Welt mit ihren unverständlichen und ungerechten Gesetzen, deren Druck allmählich die Autonomie der Weinbaugemeinschaft stört und zugrundberichtet. Im Raumentwurf des „Rotweins“ vertritt diese destruktive Kraft vor allem die Stadt. Das Slivnica des Romans ist eines der letzten relevanten urbanen Projekte der slowakischen Literatur, das die Stadt als negativ zugespitzte Opposition gegenüber dem Ruralen begreift: „Im Südosten, fast schon am Horizont, türmte sich etwas Riesiges. Es ragten daraus ein Dutzend Türme und ein Dutzend Fabrikschornsteine. Aus den Türmen stiegen zum Himmel der Weihrauch der christlichen Gebete empor und die Schornsteine bliesen Qualm niederer Substanz, geröstet am Bratspieß, aus. Diese Selchkammer der Frömmigkeit und des Materialismus ist Slivnice, die Kreisstadt. Sie wurde von der Vergebung der Sünden und dem Begehen von Nichtsnutzigkeiten gekennzeichnet. (...) Ach, wie ganz anders war es in Vlčin-dol!” (S. 20, S. 18). Die Werteorientierung Hečkas geht von einem idyllischen Chronotop aus. Genauer gesagt, die große Teil dessen, was nach Vlčindol von außen kommt und mit ihm an-ders als durch den zyklischen Zeitbegriff verbunden ist, hat eine negative Konnotation und ist apriori verdächtig. Der Ausgangspunkt des Wertegegensatzes ist die Antinomie „unser – fremd“. „Unser“ ist dabei im höchst möglichen Maße konkret: die Familie, die Freunde, Vlčindol und seine dreiunddreißig Hütten, also ein kleiner Raum, der mit einem hohen Maß an sinnlicher Anschaulichkeit erfüllt ist („ein Loch... tief wie Brunnen, fünfmaliges Hunde-kläffen breit und dreitausend glitschige Schlangenkörper lang-baumlang.”, S. 10, S. 10. Die-sen Raum umfasst der Erzähler mit liebevollem Blick, was hinter dem Horizont der Gemeinde ist, beobachtet er mit Misstrauen. In der gegebenen Optik macht sich auch der soziale Aspekt geltend, immer jedoch mit der konkreten Lebenserfahrung mit dem „Eigenen“ des arbeiten-den Landwirts, mit einer genau bestimmten Region und der Weltanschauung, die auf dem menschlichen Gefühl und dem Erleben des Glaubens gründet, verbunden. Der Erzähler regist-riert gefühlvoll und mit Beunruhigung die Ungleichheit des Besitzes und die gesellschaftliche Ungerechtigkeit, wertet sie jedoch vor allem als Sünde, als Veruntreuen der Gebote, als indi-viduelle Pathologie – für das „Schrecklichste“ hält er „die ekelhaften stinkenden Zersetzun-gen lebender Menschen, denen aus den Herzen alle kostbare Liebe zum Nächsten ausgeron-nen ist“ (S. 12, S. 11)
Nach der Ausgabe befand sich das Buches in einer ganz anderen gesellschaftlichen und lite-rarischen Situation, als in der es entstand. Die Gegenwart „der sozialen Problematik“ im Werk wurde eine der wichtigsten Kriterien für seine Wertung. Hečka konnte man ihre Absenz nicht anlasten, aber die Ausgangspunkte, von denen er an sie herantrat (der christliche Humanis-mus) und die Art, auf der er sie „lösen“ wollte (der Appell an die moralische Grundlage); vorhalten konnte man ihm auch, dass eine solche Ambition im Roman nicht erstrangig war... Die Kritik seiner Zeit implantierte in die epische Konkretheit des Rotweins einen abstrakten Klassenstandpunkt als den einzig möglichen Zugang zur sozialen Frage: im Bestreben ein außerordentliches Werk (und einen talentierten Autor) für die neuen gesellschaftlichen Be-dingungen „zu erhalten“, wurde „Rotwein“ vor allem als sozialer Roman und Bestandteil einer logischen Entwicklungslinie der slowakischen Literatur zum sozialistischen Realismus gelesen. Eine Stütze für diese Lesart konnte auch seine innere Gestaltung, verbunden mit der schwierigen äußeren Situation, in der sie anstand: die romantypologische Heterogenität und die Unausgeglichenheit in der Wertung des Buches, welche sich (besonders im dritten Teil) grundsätzlich ändert (so vom Standpunkt der Struktur, als auch der Qualität, wenn die Aus-drucksbeständigkeit des „expressiven Elements“ sich teilweise in „emotionalen Äußerungen und Impressionen nahe der Sentimentialität“ auflöst . Diese Eigenschaften können auch mit der Zeit zusammenhängen, in der der Roman entstanden ist – es war die dramatischste Zeit unserer nationalen Geschichte, die durch eine schnelle Folge schwerwiegender gesellschafts-politischer Brüche charakterisiert war: zwischen dem Beginn der Arbeit und der Herausgabe des Werkes lösten sich auf dem Territorium der Slowakei drei Staaten ab und es wechselten drei Regime (die Slowakische Republik – die Erneuerung der ČSR während des Aufstandes – die Abschlussepisode des slowakischen Staates – die ČSR nach dem Krieg; Der faschisieren-de Slowakische Staat – die auf den Prinzipien der ersten Republik errichtete ČSR – das Kommunistische Regime nach dem Februar). Wenn die ersten zwei Teile als geschlossene Erinnerung verstanden wird, ist die strukturelle Spannung ein Signal des verlegenen Bemühen des Autors, dem Vergangenheitsstoff einen aktuellen Akzent zu geben, z.B. durch die offene Artikulation politischer Themen: die weltanschauliche Selbstverständlichkeit und Einheit der epischen, vom Christentum fundierten Welt wird schwächer und zerfällt, wobei Hečko noch keinen vollwertiger ideeller Ersatz zur Verfügung steht. Die These über den Roman als Werk, das auf die sozialistische Auffassung des Schaffens zielt, sollte auch die folgende Schaffens-entwicklung Hečkos bestätigen: er schrieb das „Drevená dedina“ [Dorf aus Holz], das als Musterwerk der „neuen“ Literatur galt; für die zweite Ausgabe arbeitete er Rotwein um, wo-bei er in der neuen Version den zeitbedingten Forderungen entgegen kam; gesellschaftlich und publizistisch trat er als überzeugter Anhänger der Verhältnisse des Nachfebruar. Diese Tatsache kann jedoch kaum auf die Genese und Gestalt des Romandebüts bezogen werden. Ebenso problematisch wäre es bei einem Vorkriegsagrarier, einem Mitglied Hlinkas Slowaki-scher Volkspartei während des slowakischen Staates und dem späteren Kommunisten von einer transparenten ideellen Kontinuität: es ist jedoch möglich in Hečkos Biographie, in seiner Publizistik, in seinen Gedichten und dann in seiner Prosa die Wiederholung einiger basaler, als Problem verstandene Herzensthemen zu verfolgen, unter denen die Frage der sozialen Ge-rechtigkeit einen wichtigen Platz einnimmt. Wenn sich auch die Vorstellung des Schriftstel-lers von den konkreten Lösungen zu schnell an die sich ändernde Zeit anpasste, begleitete der frühchristliche Ausgangsgedange von der kreatürlichen Gleichheit zwischen den Menschen der Kreatur sein Leben als unveränderte Basis.
Der Plan der Umwelt hat in Rotwein axiologische Merkmalhaftigkeit. Vlčindol ist nicht nur das geographische, sondern auch das Wertezentrum der ersten zwei Teile des Romans. Im Schlussteil verschiebt sich das affektive Interesse des Erzählers von der Umwelt auf eine Ges-talt – auf Marek Habdža. Diese Verschiebung hat typologische Folgen für die Romanform: Rotwein wird von einem regionalen Generationsroman in einen Bildungsroman transformiert. Die Gesellschaft von Vlčindolské neigt zum biologischen und wirtschaftlichen Verfall (all-mählich sterben die eingeführten Protagonisten und scheitern die Versuche einer wirtschaftli-chen Neubelebung der Gemeinde). Das Gegenteil des Verfalls Vlčindols ist der individuelle Erfolg Marek Habdžas. Die typologische Verschiebung im Romangenre zerschlägt den idylli-schen Chronotop. Der ursprüngliche Raum geht unter dem Druck der äußeren Welt unter und wird unbewohnbar (Das Verjagen der Habdžas und die Versteigerung ihres Eigentums), die zyklische Zeit unterliegt dem Druck der „neuen Zeit“ (also der Geschichte) und wird linear.
Der Schluss des Rotweins hat zwei Versionen; jede ist mit einem anderen Romantyp ver-bunden. Das Beenden des Buches in der ersten Ausgabe ist eine Rückkehr – nach Mareks „Erziehungsanabasis“ – zum Generationsroman, wobei der idyllische Chronotop nach der Digression von Vlčindol in Zelená Misa wiedererrichtet (vom Aspekt der Habdžas als Ge-schlecht) wird. Mit der Umarbeitung (Abgang der Helden in die Welt) reagierte der Autor auf kritische Einwände zur ersten Ausgabe, in denen das „Happyend“ als märchenhaft, sentimen-tal, gesellschaftlich unglaubwürdig gewertet wurde. Die Offenheit des Endes in den folgenden Ausgaben und eine größere soziale Motiviertheit entsprechen den zeitbedingten Erfahrungen mit dem Romangenre, sind jedoch zugleich und das kann man vom ganzen dritten Teil des Rotweins sagen – typologisch und kompositionell mit der Ausgangsinstrumentierung nicht kompatibel.
Der tschechische Slowakist Jaroslav Janů, ein Kenner des Werkes Hečkas und Autor einer eingeweihten Monografie, nimmt Züge des Epos in der Romanstruktur des Rotweins wahr, besonders seines ersten Teils: „...dieser konzentrierte Anlauf des Werkes liest sich beinahe wie ein Versuch etwas längst Verschwundenes und Verlorenes zu erneuern, nämlich eine ein-heitliche, ‚totale’ und dabei reich hierarchisierte Evokation der Welt, welche einst, in der Ju-gend der Menschheit und des Schrifttums, das Epos auszeichnete. (...) Das Geheimnis des Eindrucks des Kosmischen... steckt gerade darin, dass dieser Teil etwas von der ursprüngli-chen Ungeteiltheit des Schaffens, das Hegel in seiner Ästhetik ‚eigentlich Epopöe’... nennt, in sich trägt.“ Die Grenze, die den Roman vom Epos abhebt, bestimmte M. M. Bachtin, wobei er das Epos ausgesprochen als Vergangenheitsgenre, dessen Helden und Handlung von dem Zuhörer durch eine unüberschreitbare epische Distanz getrennt sind, begriff und wobei für das Genre die Vergangenheit eine „eigenartige Wertkategorie“ (äußerst positiv) ist. „Als Vermitt-ler zwischen diesen isolierten Ebenen wirkt die nationale Tradtion.“ Verständlicherweise bezieht sich Bachtins Charakteristik auf das klassische Epos, doch einige Elemente dieses Genres, das, was Jaroslav Janů „epopäische Aufnahme“ des Werkes nannte, lassen sich auch im Rotwein nicht übersehen. Sie können sich vor allem dank der zeiträumlichen und gesell-schaftlichen Geschlossenheit des „ursprünglichen“ Vlčindols, wie es hauptsächlich im ersten Teil „Elemente“ vorgestellt wird, Geltung verschaffen. Der Kataklysmus des ersten Weltkrie-ges, allgemein als Scheide, die „alt“ und „neu“ trennt, akzeptiert, unterbricht das Zeitkonti-nuum und verabsolutiert den Vergangenheitscharakter der Welt, die ihm vorausging.
Wir wissen, dass die Ausgangspunkte des Rotweins Erinnerungen sind. Individuell setzen die Gedächtnisgenres eine Verbindung des Zu-Erinnernden mit dem, was den Inhalt der Erin-nerung ausmacht, voraus. Die belebende „Gedächtnisarbeit“ kann jedoch von einem intensi-ven Gefühl des Verlustes begleitet sein, so oft bei Erinnerungen an die Kindheit. Diesen Zu-stand evoziert suggestiv die Lyrik: „Eine Minute vor dem Einschlafen, im völligen Stillstand der Zeit, / mit dem Gesicht zu dir trete ich zurück. / Dort schläft die grüne Sonne von meinen Kinderbildern, / der dreibeinige Hund spricht dort mit klarer menschlicher Stimme, (...) denn jeder hat seine Kindheit/ verschlossen mit einem Schlüssel, der für immer verloren ist. / In schweren Augenblicken kommen wir hierher,/ (...) Verschlossen, verschlossen für Millionen Jahre, für immer.“ (M. Válek: Zem pod nohami [Boden unter den Füßen], Sammb. Dotyky [Berührungen].) Dieses lyrische „Geschlossen für immer” ist eigentlich die emotive Artikula-tion der Vorstellung der Kindheit als private „absolute Vergangenheit”, als verlorene versperrte Welt, von der den Schriftsteller eine ähnliche Distanz trennt wie den Erzähler (Sänger) und Zuhörer des Epos von der erzählten Handlung. Nach Bachtin zeigt sich die Vorstellung von der Vergangenheit als „beendete sowohl im Ganzen als auch in allen ihren Teilen“ darin, dass „die Struktur des Ganzen in jedem Teil beinhaltet ist und jeder Teil ist ebenso abgeschlossen und abgerundet als Ganzes“ Die im Zusammenhang mit dem „Rotwein“ zitierten Worte erklären, warum das Werk trotz der episodischen Komposition die elementare Ganzheit bewahrt. Der „epopöische Zug“ des Buches zeigt sich außer in der kompositionellen Anordnung auch in anderen Komponenten des Werkes, z.B. in der Konzeption des Planes der Gestalten, in ihrer Einheitlichkeit und Vollendetheit. Die sittliche und affektive Ausgerüstetheit der Helden Hečkas ist im Einklang mit der Konzeption des „Menschen in hohen Distanzgenres“, also vor allem im Epos, „voll vollendet und abgeschlossen“, die Protagonisten sind „auf der hohen Heldenebene“ begriffen als „hoffnungslos fertige, definitive“, darum gerade „dank dieses Entwurfes.. ist das Bild des epischen Menschen ungewohnt anziehend, vollständig, kristallklar durchsichtig und künstlerisch vollendet. Gleichzeitig bewirken jedoch diese Züge, dass sie unter den neuen Bedingungen der menschlichen Existenz beschränkt und etwas leblos werden.“ Auch der Mensch erfährt in Hečkas Roman keine Entwicklung, gute und schlechte Eigenschaften sind seine Charakterkonstanten. Eine Ausnahme ist weder der alte Habdža, der auf dem Sterbebett Kristina um Vergebung bittet, noch der nach einem schweren Unfall verkrüppelte Silvester Bolebruch, der sich mit den Habdžas mittels ihrer Kinder, die er in die Familie aufnimmt: In den erwähnten Fällen geht es nicht um eine motivierte Verwandlung, sondern um einen einmaligen Akt der Reue, der seine Stütze im Genre im christlichen weltanschaulichen Register des Werkes hat.
Als vermittelnden Faktor zwischen der „absoluten epischen Vergangenheit“ der Gestalten oder der Ereignisse des Epos und der aktuellen Situation des Erzählers und des Zuhörers sah Bachtin die nationale Tradition an. Im „Rotwein“ manifestiert sich diese „Kontaktzone“ zwi-schen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen auffallend in der Sprache des Werkes. Eine ausführliche, auch für die gegenwärtige Kenntnis des Werkes relevante sprachlich-stilistische Analyse gab František Miko. In seiner Interpretation lässt sich das „Ausdruckmuster d.h. der Stil in diesem Roman aus drei grundlegenden Ausdruckskoordinaten zusammenstellen, aus der epischen, der expressiven und dem Maß, d.h. aus dem lyrischen Ausdruck“ als wesentli-ches Element, mit dem „in dem ganzen Roman umgegangen wird /je poprestýkaný/“, identifi-ziert er den religiösen Ausdruck: die Frömmigkeit fasst er „als eine Erlebnis- und Gefühls-form“, die dem menschlichen Leben „ästhetische Gestalt“ und „mythische Grundlage“ gibt. „Und gerade aus dieser Gefühls- und Empfindungssphäre der Religiosität des dörflichen Le-bens schöpft Hečko für die Ausdruckspalette des „Rotweins“. Auf die innere Verwandt-schaft mit dem Schaffen lyrischer Prosa wies der Monograph Jaroslav Janů hin, besonders auf die gemeinsamen Folklorequellen „der spezifischen Art der fabulierenden Bildlichkeit..., wel-che die lyrische Prosa aktualisierte und suggestiv in das ästhetische Spektrum hineintrug“: Er hebt hier „die ‚aus der Erinnerung an das Märchen’ erwachte Bildlichkeit“ hervor „d.h. die animistische, mythenschaffende Bildlichkeit, die mit Anthropomorphismen arbeitet, fabelartig die Naturerscheinungen und toten Dinge als nahe, mitfühlende Gesellschafter des Menschen und seiner Schicksale belebt.“ Ähnlich wie in lyrischer Prosa ermöglicht die „spontane An-knüpfung an die regionale Tradition der Folklorekultur das, was wir dichterisches Gedächtnis nennen, d.h. die Belebung der Welt der kindlichen und jugendlichen Erinnerungen, die im künstlerischen Schaffen so wichtig sind“, auch im „Rotwein“ aufzuerwecken. Die Verbin-dungslinie zwischen dem Charakter der Vergangenheit des epischen Geschehens und der schriftstellerischen und Lesergegenwart ist also die sprachliche Faktura des Werkes: sie schöpft aus Volksquellen, aus Folkloreausdrücken und aus Genrequellen (das Märchen [rozprávka] – zu ihm bekennt sich der Erzähler am Anfang des 3. Kapitels expressis verbis: „Zu einer Zeit, als wir Vlčindol mit unserer sehr seltsamen Geschichte [rozprávka] betre-ten...“), fest verwachsen mit dem Christentum, das in Hečkas Werk als Volkskatholizismus konkretisiert wird. Zugleich knúpft er an die Erfahrung der lyrischen Prosa in der slowaki-schen Literatur, die gerade diese Quelle produktiv zu nutzen und in eine moderne Wortform zu transformieren verstand.
Anhang: zwei Versionen des „Rotweins“ (der weltanschauliche Streit des Romans und der Zeit)
Die umgearbeitete Ausgabe des „Rotweins“ kommt im folgenden Jahr nach der ersten Aus-gabe heraus. Außer einer anderen Version des Schlusses bedeutet dies vor allem Reduktion: in Hinblick auf den großen Umfang des Romanopus geht es nicht um massive Eingriffe, je-doch haben sie eine einzige Intention und berühren fast ausschließlich eine Bedeutungsschicht des Werkes. Am sichtbarsten sind sie auf lexikalischer Ebene, besonders an so exponierten Stellen, wie es die Titel der Kapitel sind. Der Titel, der den „Vorgesang“ des Werkes rahmt, ist in der ersten Ausgabe Als der Herrgott ein bisserl büselte, der Titel des „Ausgesangs“ (Schlusskapitel) Als der Herrgott die Augen öffnete, stellte er fest, dass die Welt ein bisschen besser ist: In den folgenden Editionen kürzte sie der Autor, versachlichte und amputierte von ihnen das Lexem Herrgott (1. Kap.: Vlčindol, Schlusskapitel Und der Wind weht. Eingriffe dieser Art sind über den ganzen Text des Romans verstreut; sie exkludieren Worte, die merk-malhaft mit der religiösen kulturellen Grundlage des Werkes verknüpft sind, eventuell erset-zen sie sie durch neutralere (z.B. am Schluss des Kapitels „Pankhart“ sind die Zehn Gebote durch das Gewissen ersetzt. Die Streichungen in den weiteren Ausgaben betreffen umfangrei-che Textpassagen. Relativ geschlossene Kapitel werden oft mit einem reflexiven „Vorwort“, das das folgende Geschehen vorzeichnet, begonnen. Abschnitte von Erwägungen sind ein verallgemeinerndes Komplement der epischen Konkretheit des Erzählten: Einzelne, auch iso-lierte Handlungen werden in das feste weltanschauliche Ganze eingesetzt und postulieren eine Gesetzmäßigkeit (oder „die Gesetze des Lebens in Vlčindol“), die allgemein das verpflichten-de Maß jeder individuellen Tat ist. So beginnt auch das Kapitel „Der Fall Filoména Ejhledjef-kovás: „Das Menschenleben in Vlčindol formt, mehr als sonstwo auf der Welt, die Zusam-menarbeit von Arbeit und Liebe. Diese Grundkräfte, die direkt aus der Hand des Schöpfers quellen, hält und erneuert Vlčindol“ (s. 106). Das Auslassen der einführenden, circ. Zweiein-halb Seiten lange Reflexion (aus ihr ist das Zitat) schwächt die Verbindung der einzelnen „Causa“ (es geht um ein uneheliches Kind, das während des Krieges eine Fau in Vlčindol gebärt) mit dem gedanklichen und kulturellen Unterfutter, das die Stabilität der Romanwelt sicher stellt und das Ganze in eine Serie mitreißend erzählter, aber in autonome und disgressiv wirkende Episoden, desintegriert. Die Folge der Reduktion der lyrisch-reflexiven Schicht zu Gunsten der Epik ist ein erhöhtes Maß an Ereignishaftigkeit, aber auch das Schwächen der Vlčindoler Romaneinheit, ihr allmähliches Zerbröckeln.
Die Änderungen am Schluss des Werkes stören die makrokompositionelle Symmetrie des Romans. Das Schlusskapitel, das als „Gesang“, als Ode auf Zelená Misa, komponiert ist, steht im komplentären Verhältnis zum einführenden, Vlčindol gewidmeten. Diese lyrische Extem-pores sind durch die Geschichte motiviert: nach Vlčindol kommen Urban und Kristina, um hier nach den eigenen Vorstellungen beginnen zu leben, nach Zelená Misa kehren Marek und Lucia, um (nach der Version der 1. Ausgabe) das großväterliche Gut zu übernehmen und an die Kontinuität des Geschlechts anzuknüpfen. Durch das andere Beenden des Romans in den anderen Ausgaben (der Aufbruch in die Welt) verliert der zelenomisische „Abgesang“ die ursprüngliche Begründung und bleibt nur als formales Komplement zur Einführung des Bu-ches; seine odische Modalität kontrastiert überdies mit der Wirklichkeit, dass die von dem Erzähler angesprochene Zelená Misa für die Habdžas eine Quelle der Qual und Marek des großväterlichen Erbteils beraubt. Und der soziale Chiliasmus der abschließenden Zeilen der folgenden Ausgabe, wo der „mächtige Adam“ auf „den schweren Wagen der bäuerlichen Gerechtigkeit“ wartet und „mit verhaltenem Atem dem Knarren des Schlüssels in der alten Pforte der Gerechtigkeit“ (S. 678) lauscht, hat schon andere weltanschauliche Quellen als die, welche ursprunglicn Rotwein fundiert haben.
Hečko reagierte mit den Bearbeitungen des ursprünglichen Textes auf die äußere kulturelle und gesellschaftliche Situation. Es bestätigt das auch die Tatsache, dass er die wichtigsten Änderungen in dem kurzen zeitlichen Intervall zwischen der 1. und der 2. Ausgabe, wobei der letzte „Eintritt“ des Autors in den Text in der Mitte der 50. Jahre eher einen Restitutionscha-rakter hatte . Es bleibt ein gewisses Paradox, dass den Rotwein alle Eingriffe, strikt textolo-gisch sicher sehr ernste, weniger stark berührten, als es zu erwarten war: Als ob die lebendige Wortmaterie in großer Form genügend Resistenz hatte und für den Leser das Wesentliche bewahren konnte – auch gegen die Intentionen der Zeit und des Autors.
Mehr als fünfzig Jahre nach dem Rotwein, in einer Zeit, wo die widersprüchliche Geschich-te der slowakischen Epik des zwanzigsten Jahrhunderts der Vergangenheit angehört, sehen wir die „Grenzwertigkeit“ des Romans anders, als sie die seinerzeitige Kritik und spätere lite-raturhistorische Reflexion sah. Hečkas Opus ist natürlich kein Meilenstein auf dem Weg zum sozialistischen Realismus; es geht eher um ein Werk, was in der nationalen Literatur etwas abschließt. Wie schon niemand der Prosaiker des folgenden halben Jahrhunderts mit so selbstverständlicher und unmittelbarer Sprache eine ganze epische Wirklichkeit evozieren konnte; so verbreiterte sich in den folgenden Jahren immer mehr die Lücke zwischen dem „Diskurs“ und dem „fiktiven Universum“.
Hečkas Grenzposition bildete sich im Schnittpunkt des weiteren literarischen und allgemein historischen Kontextes und der persönlichen Autordispositionen. Die traditionelle Welt des slowakischen Dorfes, die Stoffgrundlage der ersten zwei Teile des Rotweins, kommt allmäh-lich abhanden. Der Untergang „der alten Welt“ war nicht nur das Ende einer bestimmten sozi-alen Formation, sondern auch eines gewissen Erkenntnisprinzips, einer Art der Anschauung auf die Wirklichkeit in ihrer Einheit und Verschlossenheit. Zugleich ging es um ein Univer-sum mit einer vormodernen, gewisser Maßen sogar sakralen Sprachauffassung, in der die Sa-che und ihre Benennung eine selbstverständliche Einheit bilden. Das Bewusstsein der Ganz-heit ging allmählich verloren, die Verbindung (spätosť) des Wortes mit der gemeinten Welt musste sich jeder Schriftsteller über fast das ganze 20. Jahrhundert auf eigene Faust erneuern: aus diesem Aspekt ist Hečkas Leistung in der zweiten Hälfte der 40. Jahre eigentlich ein bewundernswerter Archaismus.
Im Abschluss seiner Hečka-Monographie kehrt Jaroslav Janů zu Schillers Unterscheidung der Dichter in sentimentale und naive. Naive Schöpfer, unter die er auch Hečka einreiht, „begreifen die Welt primär durch die Wahrnehmung, und ihre Kunst ist daher völlig von der sinnlichen Erfahrung, die sie nicht überschreiten können, abhängig. (...) Allein von den star-ken Bestandteilen des naiven Ingeniums konnte... in Hečkas Schaffen z.B. auch das, dass er sich – einer der letzten gegenwärtigen Prosaiker wirklichen Formats – den Horizont und das Erleben der ganzen, kontinuierlichen Welt bewahrte, hervorgehen...“ die Vorstellungen von Literatur nach dem Februar hatten ähnlichen universalistischen Charakter: Sie gingen von dem Begreifen der Welt als ein Ganzes aus. Die verlorene Einheit des „Alten“ sollte wieder auf „neuen“ Grundlagen erneuert werden. Hečka schriftstellerisches Engagement in dieser Zeit hatte scheinbar seine Logik. Im Hölzernen Dorf baut er wieder ein ganzheitliches epi-sches Universum, nur die zeitliche Ausgangssituation ist eine andere: die „absolute“ epische Vergangenheit ersetzt die erwartete „nahe Zukunft“, die als Gegenwart ausgegeben wird; die Erinnerung wird von der Vision ersetzt – und das eingelebte christliche, weltanschauliche Fundament von der schnell angeeigneten Ideologie. Der traditionelle Volkskatholizismus war in seiner exemplarischen Konkretheit eine reiche morphologische Genrequelle und Situati-onsquelle der Imagination des Autors. In dieser Funktion konnte ihn die seinerzeitige Version des äußerst vereinfachten Marxismus, das thesenhafte Derivat einer abstrakten rationalen Phi-losophie, nicht adäquat ersetzen. Dem Ideal „der unmittelbaren Konkretheit und Ganzheit des epischen Universums“, dessen Bedeutungsgeltung die Zeit der Entstehung überschreitet, nä-herte sich Hečko unter den neuen Verhältnissen nicht.
An die poetologische Disposition des Rotweins knüpfte die slowakische Prosa der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nicht an: Die Grenzstellung des Romans kann als kul-minierend, der Vergangenheit nicht nur thematisch und gedanklich, sondern auch in der Form zugewandt, verstanden werden. Auch die einheitliche Welt, die man „mit ungebrochenem naiven Blick“ umfassen konnte, ging verloren. Der Rotwein ist eines der letzten ästhetisch relevanten Werke dieser Art: die Gültigkeit der Werte des Romans bestätigt auch der in der slowakischen Literatur außergewöhnliche der Erfolg bei den Lesern.
Vladimír Barborík
Anmerkungen unterm Strich und Bibliographie:
Editorische anmerkung zu den Quellen:
Der Ausgangspunkt dieser Studie war die 1. ürsprüngliche Ausgabe des Rotweins (Turč. Sv. Martin : Matica Slovenská, 1948, 3 Teile). Zum Vergleich benutzte ich die 4. Ausgabe des Romans (umgearbeitet, Bratislava: Slovenské vydavateľstvo krásnej literatúry, 1953): auf sie bezieht sich die Seitenangabe der Zitate aus dem Werk, die kursiv gesetzt sind; wenn sie fehlt, befand sich die zitierte Passage nicht in der überarbeiteten Fassung des Romans.
Ausgaben:
1. Ausgabe: 1948, 1. Änderung: 1949, 2.: 1951, 4.: 1953, 5. 1956, 7.: 1968, 8.: 1973, 9.: 1976, 10.: 1979, 11.: 1982, 12.: 1989, 13.: 2001 (Ausgabe bei Verlag Ikar).
Literatur:
JANŮ, Jaroslav: František Hečko. Příspěvek k tématu spisovatel a doba. Praha : Československý spisovatel, 1967.
MATUŠKA, Alexander: Od včerajška k dnešku. Bratislava : Slovenský spisovateľ, 1959.
MIKO, František: Hečkovský expresívny živel (K poetike lyrizovanej prózy). In: Estetika výrazu. Bratislava : Slovenské pedagogické nakladateľstvo, 1969.
ŠTEVČEK, Ján: Drevená dedina z pohľadu Červeného vína. In: Dejiny slovenského romá-nu. Bratislava : Tatran, 1989.
Übersetzung©Stephan Teichgräber
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