Sári Fedák in Aschach (Donau-Notizen, Ausschnitt)

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Verlag: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publikationsdatum: 25. November 2024
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Land: Hungary

Sári Fedák in Aschach

(Donau-Notizen, Ausschnitt)

 

Ein Schlepper befördert den Kahn mit der Nummer 1046, Eigentum von Bayor Lloyd, am Montag, den 9. April 1945, von Stein hinauf nach Aschach. Die Komponenten der aus Wien mitgebrachten Holzbaracken werden sofort entladen und zusammengebaut. Die Nacht ist noch kalt, dennoch versammeln sich mehrere Tausend Leute im Park des Schlosses Harrach; Tschechen, Ungarn, ganz Aschach steht sich gegenseitig auf den Füßen. Über zwei Wochen bleiben sie da; mit den 30 Wagenladungen an Bauxit, die noch in Komárom geladen wurden, eilt es ja nicht, genauer gesagt interessieren sie niemanden. Noch mehr kann man den Kahn mit seinem eingebeulten Bug seit dem Sommer nicht belasten. Flussaufwärts, wenn die Wellen vom Schlepper hineinkrachen, steht vorne im Mannschaftsdeck sowieso schon das Wasser. Der ungarische Steuermann Ferenc Schuster bekommt am 20. April die Zusage, dass sie am Tag darauf aufbrechen können. Zur gleichen Zeit kommt auch die Order, dass sie eine sehr berühmte Künstlerin nach Passau mitnehmen müssen, ob sie nun Platz für sie haben oder nicht. An jenem Tag geht am frühen Nachmittag die ungarische Schauspielerin Sári Fedák, die in Ungarn vielleicht sogar noch bekannter ist als Miklós Horthy, mit all ihren Koffern und ihrer Kammerzofe an Bord.

*

Sobald sie sich im engen Quartier des Steuermannes eingerichtet hat, schnappt sich Fedák ihre Handarbeit und nimmt im Liegestuhl auf dem Deck Platz. Ihre Anwesenheit spricht sich schnell herum, und einfache ungarische Soldaten, aber auch Stabsoffiziere spazieren mit ihren Familien vorbei, um sie zu betrachten, wie in einem Panoptikum. Die einen oder anderen haben sich ihr Schwert umgeschnallt und salutieren ihr stramm. Ein-zwei machen gar den Hitlergruß, was erst Ärger, dann ein Schaudern in ihr auslöst, und die Panik erstickt die Schauspielenden eigene Geneigtheit in ihr, aufzustehen und etwas für diese armen Ungarn zu singen oder zumindest zu rezitieren, zumal sie schon auf Rekrutierungstour ist, und eine kleine Rede zu halten: „Brüder, Transdanubien kann nicht warten.” Dann zieht sie doch nur ihre Strickjacke enger um sich, die sie sich von ihrer Kammerzofe bringen ließ, doch selbst so hält sie es nicht mehr lange aus; sie steht auf und zieht sich zurück. Sie stiehlt sich fort, als sei sie in Zivil oder hinter den Kulissen, aber auch das wird beklatscht.

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Ein schreckliches Dröhnen reißt sie aus einem kurzen Schlaf, als würde von Tausend Schaufeln Erde auf ihr Grab rieseln. Der Morgen bricht gerade erst an, der Steuermann holt die Taue ein, geht nach oben und übernimmt das Steuer von Oberleutnant Krecsmár, der einen Monat zuvor mit seinem Offiziersburschen, seiner Frau und seiner Schwägerin in Wien an Bord gegangen ist. Sie hatten kaum Gepäck und nichts zu essen bei sich. Die beiden Frauen putzten, auf so engem Raum konnten sie auf keine andere Art behilflich sein. Es gab keine Möglichkeit, Vorräte zu bekommen, sie teilten sich also, was sie hatten. Ferenc Schuster fuhr mit der Fähre zur Wassermühle, wo er einen Sack Gerste versteckt hatte, für den er 28 Kilogramm Mehl bekam. Zum Überleben reichte es, sie aßen jeden Tag Langosch, zum Frühstück und zum Abendessen; da sie kein Fett, kein Öl und keinen Germ hatten, rollten sie den Teig aus und legten ihn auf den Herd. Der Oberleutnant zog gern den alten Pullover eines einstigen Matrosen über seinen eigenen, besonders dann, wenn eine Gruppe erschien, die wie eine Patrouille wirkte. Einmal verriet er zumindest so viel, dass er die Order bekommen habe, so offiziell wie nur möglich nach Passau zu gelangen, von Emil Kovarcz selbst unterzeichnet. Als die Amerikaner kamen und der Oberleutnant mit seinem Anhang südlich der Insel Soldatenau ausstieg, merkte er beim Abschied noch an, dass an dieser schriftlichen Order tatsächlich alles gefälscht sei, bloß die Unterschrift sei leider echt. Aber es sei sowieso schon egal, im Morgengrauen habe er sie in Stücke gerissen und in die Donau geworfen. Soll das Wasser diesen Pfeilkreuzler-Halunken doch ruhig nach Ungarn oder sonst wohin treiben, bis er gehängt wird.

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„Ich sollte reinspringen”, denkt Fedák und betrachtet das garstige Wasser, ihre schöne Donau, die in Pest sanft und fügsam unter ihren Füßen dahinplätschert, während sie hier tobt und rauscht; und wegen dieser verdammten Luftalarme lohnt es sich nicht einmal, die Schuhe abzustreifen. Zum Teufel mit all diesen Männern! Muss sie sich jetzt ernsthaft bei den Amerikanern anbiedern? Denn so wird es wohl oder übel kommen. Stimmt schon, immerhin haben die wenigstens nicht den Krieg verloren, sie haben keine traurigen Ballenzehen, und keine Hammerzehen bereiten ihnen Schmerzen, während das Leben zu Ende geht. Es kann nicht für immer der Tokaji Aszú fließen, so wie vor ein paar Monaten in Sopron, als der Erfolg das Stadttheater aus allen Nähten platzen ließ. Von welchem Hitlergruß werden ihr in einem Jahr irgendwelche Volksrichter schwafeln, die ihr nicht mal bis zum Knöchel reichen, diese ganzen Hinterwäldler? Und das würde sie bei Bedarf auch jedem direkt ins Gesicht sagen: „Ich habe meinem Land gedient, dem ungarischen Völkchen, dem Judentum, all jenen, die sich das Brot vom Munde absparten, um ein Ticket für meine rote Hosenrolle zu kaufen.” Sie atmet tief durch, Luft raus, Luft rein, horcht auf die kleine Harmonika unter ihrem Rippenbogen, große Monologe sind nicht notwendig. Für die hier? Sie müsste eigentlich ins Wasser spucken, doch wer weiß, welcher Gaffer sie gerade anstarrt, wenn sie in diesem Leben überhaupt noch angestarrt wird. Nicht, dass solche Leute sie interessieren würden, die kann man nicht einmal anwerben, sie winken ja doch nur ab. Diese Rüpel. Selbst wenn sie gar nicht würdigen, wer sie ist, selbst wenn sie nicht Sári Fedák wäre, haben sie dennoch nicht abzuwinken, wenn eine 66-jährige ungarische Frau etwas sagt. Und dann auch noch diese Obstipation!

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Der Oberst, ein Vorreiter der modernen Stimmbandgymnastik, kreischt wie ein Pfau. Nyuláncs heißt er, den ihr Miklós Hajmássy als eine Art Adjutanten zugewiesen hat. Sie und Hajmássy hatten Dokumente von der Regierung selbst dafür bekommen, ein Fronttheater zu betreiben, vor allem zu Rekrutierungszwecken. Sie gaben auch ein paar Aufführungen für die leichenblassen Soldaten, die beim Klatschen an die anatomischen Skelette im Biologieunterricht erinnerten, aber die würden sich nirgends einberufen lassen. Noch bevor sie das Dokument, die Bescheinigung vor den Augen der Nation, in der man leben und sterben muss, unterzeichnen konnten, verflüchtigten sie sich alle spurlos, sodass an den lauen Frühlingsabenden nicht mal Rauch oder Glut hinter ihnen zurückblieb. Und von Wien her das unaufhörliche Kanonendonnern. Hajmássy war diesem Oberst in Ybbs begegnet und vertraute sie ihm an; wie sähe es denn aus, wenn eine so bedeutende Künstlerin nur mit einer Kammerzofe reist? Er selbst eilte schon mal nach Passau voraus, um Vorbereitungen für das Fronttheater zu treffen, „denn solange es Theater gibt, meine teure Künstlerin, ist noch nichts verloren.” Sie sicherten sich sogar eine offizielle Order dafür, dass jedes Schiff, das kommt oder geht, die Künstlerin an Bord nehmen muss, denn sie sei einerseits ein Nationalschatz und andererseits von Reichsinteresse. Schließlich brachte das Dampfschiff Österreich sie beide und auch den Stimmbandgymnastiker mit seinem Lakaien bis nach Linz, von wo aus sie im Lastwagen in dieses fürchterliche Ameisennest befördert wurden, in das die Geflüchteten Aschach verwandelt hatten. Selbst die Kirche war voll von ihnen, dort schliefen sie unter dem Vorwand des Betens unter dem Bildnis der Geburt Jesu mit offenen Mündern, in die alles nach Belieben hineinfliegen mochte.

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Fedák weiß gar nicht mehr, seit wann sie auf der Flucht ist. Im Traum ohrfeigt sie regelmäßig diese kleine Katalin Karády, dann springt sie auf ein großes Pferd und reißt daran, um es schließlich abzuknutschen und zu schluchzen. Sie wimmert. Zum Teufel auch mit dem Schicksal, dass es hier keinen vernünftigen Ruhesessel gibt, nur diesen billigen schwäbischen Mist. Auch auf die Sonne ist nicht Verlass, mal scheint sie, mal nicht. Aber sie hat schon recht, warum sollte sie auch scheinen? Den Liegestuhl hat der Steuermann unten in Brăila aus dem Wasser gefischt. Die Fluten hatten ihn gebracht, bestimmt ganz aus der Nähe. „Fisch ihn raus”, sagte Mária Himmel zu ihrem Mann. „Wozu so ein Klumpert?”, grummelte ihr Mann, zog ihn aber dennoch mit dem Bootshaken heraus. Als im Sommer 1944 der Schlepper südlich von Novi Sad auf eine Mine lief und zu sinken begann,  sprang er vom Kahn herüber, um zu retten, wen er konnte; der Liegestuhl war voller Blut. Ob es deutsches oder ungarisches war, konnte er nicht mal sagen. Mária Himmel brauchte all ihre Spitzengardinen, Tischdecken und Handtücher auf, die ihr in die Hände fielen, um die armen Soldaten zu verbinden. Das Blut stand in der Küche, in der Hektik verband sie sogar einen Toten. Vielleicht gerade den, der im Liegestuhl war. Das ist es, woran Ferenc Schuster denken muss, wenn er vom Steuerstand auf Sári Fedák herabblickt. „Beinahe ein Jahr ist die Explosion schon her”, denkt er mit einem metallischen Geschmack im Mund. Den Schnaps tranken sie aus einem verzinkten Trog, besser gesagt löffelten sie ihn; sie fuhren durch ein Minenfeld, anders konnte man also nicht bei Verstand bleiben.

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„Dieses Aschach wäre unter anderen Umständen ein hübscher Ort mit hübschen Geschäften”, denkt Fedák. Frühmorgens träumt sie, dass eine örtliche Schneiderin zu ihr sagt: „Frau Künstlerin, man sollte die Donau hier mit einer Kette absperren, damit die Russen nicht weiter flussaufwärts kommen, genau so, wie die Bauern vor 400 Jahren die Mündung zum Kessel von Aschach blockiert haben. An den Ketten wurden alte Schuten befestigt, so viele sie nur hatten, und die wurden mit Sand von ausgehobenen Gräben und allerlei anderem befüllt, das bräuchte man jetzt auch.” „Aber wie sollten wir dann unsere Flucht Richtung Bayern fortsetzen?”, fragte daraufhin Margit Kerék, Fedáks treue Kammerzofe. „Stimmt wohl”, entgegnete betrübt Frau Fadinger, „aber auch die damalige Wasserbarrikade hielt nicht lange. Sie wurde in Sekunden gesprengt, und die armen Bauern baumelten bis nach Hartkirchen am Strang wie Tabakblätter.”

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Bevor sie an Bord gehen, haben sie Zeit für ein frühes Mittagessen zu dritt mit diesem Oberst. Sie essen im Gasthaus Loimayr, weil das geöffnet oder zumindest nicht ganz geschlossen hat, und weil der Luftschutzkeller nahe ist, quasi eine Tür weiter. „Was haben Sie?”, fragt der Oberst. „Ein paar Erdäpfel”, sagt der ruppige, einarmige Mann. „Wissen Sie, wer das ist?”, fährt ihn der Oberst an. „Erdäpfel für eine so bedeutende ungarische Schauspielerin?” Er könnte auch einer so bedeutenden deutschen Schauspielerin nichts anderes anbieten, sagt der Loimayr steif, und sein herausgewachsener, lange nicht mehr gestutzter Schnauzbart wippt, als würde er mit dem Mund Fahrrad fahren. Der Oberst springt schon auf, um sich um die Sache zu kümmern, doch Fedák winkt ab: „Es muss reichen, Miklós, wenn doch ganze Völker untergehen. Essen wir, was wir bekommen.” „Also, die waren jetzt blauer als die Donau”, kommentiert Fedák die Erdäpfel, sobald sie aus der Türe treten, „aber wenigstens süß, nicht wahr?” „Zum Nachtmahl gibt es Hühnergulasch, Frau Künstlerin”, sagt der Oberst. „Die Vorbereitungen laufen schon.” „Ja, das wird guttun.” Fedák setzt ein Lächeln auf, das wie ein Flämmchen ist, eher rußig als hell.

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„Er könnte mein Kind sein”, denkt Fedák und wendet den erschöpften Blick vom Steuerstand ab. „Nicht groß”, denkt sie, „aber gut aussehend. Eine fleißige ungarische Seele. Oder schwäbische. Aber wer wäre sein Vater?” Die Spinnenbeine in ihrem Gesicht erbeben, aus dem Naserümpfen wird ein Lächeln und wieder ein Naserümpfen, während sie an Molnár denkt. Molnár ist auch ein Feri, wie dieser Seemann. Als sie ihn um vier Uhr morgens durch Frau Krecsmár zu sich bestellen ließ, da sie nicht schlafen könne und er diesem Dröhnen sofort ein Ende setzen müsse, erklärte ihr der Steuermann höflich, dass er nichts dagegen tun könne; das sei der Propeller des Schleppers, der sie zieht, zumal es flussaufwärts geht. Ohne das Dröhnen gäbe es kein Vorankommen, sie würden nur stehen und nie in Passau ankommen, also müsse die Frau Künstlerin damit leben. Darauf erwiderte Fedák nichts; stattdessen fragte sie den Steuermann unvermittelt, wie alt er sei. „Zweiundvierzig”, sagte dieser überrascht. „Kennen Sie Rudolph Valentino?” „Ja, aber meine Frau kennt ihn besser, sie ging öfter ins Kino.” Fedák signalisierte mit einer Geste, dass er gehen könne, die Visite sei vorbei. Doch sie rief ihm noch nach: „Herr Steuermann, damit Sie es wissen, ich bin einst bis nach Mohács gerudert. Und von Donaueschingen bis nach Hainburg. In einem aufblasbaren Kajak. Damals war ich noch nicht so eine alte Brieftaube wie heute.”

 

Autor

Parti Nagy, Lajos

Lajos Parti Nagy, 1953 in Szekszard
 

Übersetzer

Ágnes Nagy