Solange er boxte, ging es ihm gut...

Am vergangenen Donnerstag im Morgengrauen ist István Eörsi gestorben. Ich müsste hinzufügen: der Dichter István Eörsi. Das war für ihn am wichtigsten. Doch er war auch Erzähler, Essayist, Satiriker, Mann des Theaters, Publizist, der Sporn in der Flanke des Staats, Republikaner, Ironiker, Sportsmann, Wettkämpfer und Champion des Alltags, treuer und treuloser Ehemann, Liebhaber und Vater, zusehends eher nur Vater, auch Großvater, zuverlässiger Freund, Stichelnder, antisentimentaler Sentimentaler, ein richtiger Junge, ein ganzer Mann, der allem und allen zum Trotz stets seine Meinung kundtut, dem viele böse sind, ihn aus Rache links liegen lassen, vergessen, so tun, als seien sie seiner überdrüssig, dabei wirken seine Stiche, etwas ist an dem, was er gesagt hat.

Mir sagte er einmal: „Über die Zensur hast du langsam genug geschrieben, lass die endlich hinter dir!“ Er liebte die Spontaneität, oder er setzte sich mit entschiedener Heiterkeit darüber hinweg, im Márianosztraer Zuchthaus zum Beispiel, wo er das visitierende Spalier der Wärter nackt passieren musste; wenn die das brauchen, sei es drum. Vielleicht machte er sogar noch einen Witz, auch in seiner Blöße blieb er István Eörsi.

Von anderen Verurteilten nach der Revolution von 1956 weiß ich, dass er in der Zelle der Sonnenschein war, dass mit ihm in die Depression die gute Laune Einzug hielt, der Humor. Seine Frohnatur vermochte sogar den sich auf den Tod vorbereitenden Georg Lukács aufzuheitern. István Eörsi war vielleicht der einzige, dem das gelang, denn er wollte nichts von ihm, von seinem alten Professor, den er liebte und bewunderte. Und es gab keinen prinzipiellen Grund, zu dessen Abschwörung er ihn hätte bewegen können, obgleich er ein Prinzipienreiter gewesen ist, er galoppierte, selbst allein geblieben bei einem Rosinentee.

Disziplin und Eleganz im Ertragen

Ich freue mich, dass er rund siebenmal im Galopp auch gegen mich vorgegangen ist. Er zählte die Ausfälle. Doch weiterer Schläge würdigte er mich nicht, zumal er sich dessen nicht sicher war, ob ich sie überhaupt gelesen hatte. Doch er sah, dass ich ihm nicht im geringsten böse war. Ich dachte, solange er boxt, geht es ihm gut, wahrt er seine Form. Die Wahrheit ist die, dass er auch dann noch boxen konnte, als ihm der Tod schon auf den Fersen war, er winkte nur noch ab, elegisch, als der große Spaßmacher um seinen Sohn János trauerte, dessen Krankheit, die Leukämie, das Schicksal auch ihm zugemessen hatte. Ich könnte meinen, dass er es angenommen hat. Dennoch, obwohl viele um ihn herum gestorben sind, ist ihm die uralte Absurdität, dass der Sohn vor dem Vater ins Grab steigen soll, schwer angekommen, und es umgab ihn die philosophische Stimmung des „Endspiels“, seiner letzten Arbeit.

Dem unauflöslichen und unwiederbringlichen Verlust, dem nicht zu beschönigenden Tod ins Antlitz blickend siedelte er in die Metapher des biblischen Hiob um, ein Anflug von Düsternis hielt Einzug, doch Disziplin und auch Eleganz im Ertragen, in der thematisierten Bezwingung des Leidens, neben sich der immer hagerer und ernster werdende schubsende oder sich empörende Junge, der alte Pisti, der ungezählte Liebesabenteuer hinter sich hatte und Feten jedes Jahr zu Silvester, doch wenn er allein war in seiner Wohnung am Donauufer mit Blick auf die Elisabethbrücke, man könnte sagen im eigentlichen Zentrum der Stadt, brachten ihm der am Leben gebliebene jüngere Sohn László, die alten Freunde, Männer und Frauen, nicht viele, warme Suppe, besorgte Liebe, mehr und mehr Verblüffung angesichts des Naturwunders, dass er mit dem Computer zu seinen Füßen, den er immer wieder in Gang setzt, auf das Ende wartet und diesem allem zum Trotz einen Tag zuvorkommt, das fertige Manuskript seinem Verlag übergibt, wie es sich für eine Burgwache der literarischen Nachhut gehört, für einen Athleten seines Berufs, für einen possenreißerischen Stoiker, einen dahinpreschenden Moralisten, der selbst geschwächt und fiebrig am Steuer seines Autos sitzt, unterwegs nach Kaposvár in sein geliebtes Theater, um noch dabei zu sein, im Freundeskreis des Ensembles, wo er zu allem fähig war, zum Stückeschreiben, zum Übersetzen, zum Neuübersetzen, zum Songdichten, ja, wenn man es ihm gestattete, auch zur Regieführung.

Diese ständige Bereitschaft, sich dem Abenteuer zu stellen, war faszinierend; nach durchzechten Nächten muss er mit einer alten Karre von irgendwo nach irgendwohin fahren, weit, er reicht dem Schicksal die Hand, lässt die linke zum Fenster des Autos heraushängen, um sie durch den Wind zu kühlen, damit er wach bleibt, er jauchzt auf, jetzt wären wir fast gestorben, Gott sei Dank nur fast, er ist der Gefahr auf wunderbarste Weise im letzten, im atemberaubenden Augenblick ausgewichen, „denn weißt du, Gyuri, ich bin ein höchst zuverlässiger Fahrer“, und just in dem Moment – bumm – ist er, auf verschneiter Straße, rückwärts gegen einen Lichtmast gekracht. Ein vorbeifahrender Chauffeur sieht ein umgekipptes Auto, versucht herauszufinden, ob drinnen noch jemand lebt, Pisti stößt, auf dem Kopf stehend, einen Freudenschrei aus, als würde er einen alten Bekannten begrüßen, und, ob ihr es glaubt oder nicht, ihr Deppen, Pisti isst auch ein Wasserglas, behutsam zerkaut er inmitten einer Gesellschaft die Glasscherben, um sich die Speiseröhre nicht zu verletzen, was, nicht wahr, eine Idiotie ist, doch als er noch im früheren Regime von der Polizei ausgehorcht wird, wo er ein gewisses verbrecherisches Manuskript versteckt hat, sagt er, statt es ihnen zu verraten, er habe es verloren, in einer Telefonzelle habe er es liegen lassen, bereitwillig setzt er sie davon in Kenntnis, in welcher Telefonzelle, sollen sie doch danach suchen.

Und als ihn die Weisen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis schalten, warum er immer mit dem Kopf gegen die Wand renne, gibt Pisti die logischste Antwort, die er darauf geben kann: „Ich renne nicht gegen die Wand, sie kommt mir entgegen.“

Jedes Wort besitzt einen langen Schatten

Doch nicht nur Eörsi war ein findiger Kämpfer, auch die Wand kann flexibel sein, sie verwandelt sich in Gummi, stummen Nebel, Nichtbeachtung, Verscheuchtwerden; was der grinsende Glatzkopf von sich gibt, das hören sie einfach nicht, soll er es doch sagen, der zum Schreiben und Kämpfen Bereite, der Unruhestifter, erhält Anerkennung erst dann, wenn er es ohnehin nicht mehr lange macht, dann schenken sie ihm schon mehr Beachtung, denn jedes Wort besitzt einen langen Schatten, ein Echo, und seine Bedeutung geht schon über es selbst hinaus. Doch selten hat jemand Zeit, auf dieses Mehr an Bedeutung zu achten. Viele, so glaube ich, liebten ihn, wenige hassten ihn. Wer ihn kannte, mochte das Gefühl gehabt haben, was das für eine Sache sei: „Was, du, Pisti, du gibst auf, du alter Geselle, der du neben Knackwurst und Schnaps in deiner Tasche Lebenslust mitbringst, zahlreiche Handys, Hektik, selbst um Mitternacht noch keine Ruhe findest?

Jetzt im Nachhinein will ich es nicht verschweigen, ich bewundere seine Heiterkeit in der Niederlage, das meisterhafte Stehaufmännchen, das immer wieder auf die Füße fällt. Und goldig auch seine brabbelnde Sorge, als der Hausherr sagte: „Weißt du, Pisti, auch Gazsi (Gáspár Miklós Tamás) ist da.“ Die Miene des neuen Gastes verdüsterte sich, und er murmelte: „Ob ich den etwa nicht in Grund und Boden quatschen kann?“ Pisti aber tat das Seine, die Partie ging unentschieden aus, sie teilten sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft, sie, auf zwei Beinen wandelnde Literatur, siegten unermüdlich. Obwohl es zutrifft, dass sich der Tod am Ende nicht beschwatzen ließ, setzte Pisti seinen Weg dennoch mit stählernem Geist fort und schloss die eigene Parallele, das Leben und seine Literatur, zu deren Studium ich den jungen Interessenten mutige Empathie wünsche, mit einem tiefschürfenden Schlusssatz ab.

Sollte er etwa vor seinen himmlischen Richter treten, woran er nicht glaubte, doch wer weiß das schon, ob es dann nicht heißen wird: „Pisti, nicht zu reden davon, dass du kein Moses gewesen bist, warum aber warst du kein István Eörsi?“ Nun, das wird ihn der höchste Richter sicher nicht fragen, denn Pisti war fast restlos der, der er gewesen ist. Welch großes Wort, meine lieben Freunde!

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke

2005-11-12