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Pavel Matejovič, Zufall im Chaos
Persönlich beschäftige ich mich mit der Problematik des Chaos nicht nur auf dem Gebiet des literarischen Nachdenkens ungefähr fünfzehn Jahre. Mein Interesse intensivierte auch der Wechsel des axiologischen Paradigmas an der Grenze der achtziger und neunziger Jahre des zwanzigstens Jahrhunderts, welcher begann sein Schwergewicht auf dynamische und offene Strukturen zu legen. Mich sprachen vor allem die Arbeiten an, die im tschechischen, slowakischen und polnischem kulturellen Bereich erschienen, wobei einige von ihnen schon aus den sechziger Jahren stammen (hier würde ich vor allem die Arbeiten Stanislav Lems und Leszek Kołakowskis erwähnen). In den achtziger Jahren waren es vor allem die theoretischen Überlegungen Zdeňek Neubauers, Miroslav Petříčeks und Peter Zajac’. Mein Interesse war also nicht unmittelbar von populärwissenschaftlichen Publikationen, die in den neunziger Jahren begannen zu erscheinen (Capra, Gleick, Prigogine), bedingt. Damit will ich die Arbeiten dieser Autoren nicht marginalisieren, ihre Ansichten hatten einen grundsätzlichen formierenden Einfluss auf die damalige Diskussion über Ordnung und Chaos.
Erst später begann ich mir die Frage zu stellen, ob die Überlegung über dynamische und offene Strukturen für den erwähnten Kulturkreis irgendwie spezifisch ist, wovon auch das eigentliche Verständnis des Begriffes des Chaos, der sich hier nicht automatisch mit dem deterministischen Chaos verbindet, zeugt. Außerdem empfinden wir schon in der Bezeichnung „Poetik des Chaos“ allein eine bestimmte Unbestimmtheit, wir könnten eher von einer verfremdenden Metapher sprechen, die die Problematik der dynamischen, offenen und pulsieren-den Strukturen überdacht und welche durch die theoretische Überlegung ungefähr seit den sechziger Jahren des zwanzigstens Jahrhunderts thematisiert sind. Darum richte ich meine Aufmerksamkeit auf den Begriff des Zufalls, der letztendlich in der Überlegung über das Chaos implizit gegenwärtig ist, was wir im wortwörtlichen Sinne als synonyme Bezeichnung verstehen können.
Sein Auftritt auf der literaturtheoretischen Bühne wurde schon vom Formalismus und Strukturalismus vorbereitet. Der ganze Wechsel des axiologischen Paradigmas an der Grenze des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert hing mit dem Auftreten der Moderne und der Avantgarde zusammen, die das Schwergewicht, die Betonung auf das Spielerische der Spra-che und das Experiment legten, und die Literarität enger mit der Ausdrucksebene verbanden: die inhaltliche Komponente überdeckt sukzessiv die formale Seite (wie ist das Werk gemacht, wie funktionieren ihre einzelnen Elemente usw.). Die reine Fiktivität oder „Zeichenhaftigkeit“ des literarischen Artefakts, die sich vorher scheinbar im Hintergrund befand, wird also inten-siver gefühlt. Gérard Genette spricht in diesem Zusammenhang von der „Entblößung des Arbeitsverfahrens“, der Störung des „fiktionalen Übereinkommens, das gerade in der Leugnung der Fiktionalität der Fiktion“ liegt. Der literarische Text wird zugleich als Kommunikat wahr-genommen, wobei hier auch die Lektüre in der Gestalt eines interaktiven Dialogs zwischen Autor und Leser ihren spezifischen Platz (spielt) einnimmt, was zugleich das hermeneutische und interpretative Feld ausweitete (die Arbitrarität und Mehrdeutigkeit des Zeichens) und so kommt auch die Rezeptionsästhetik zu Wort. Jean Piaget weißt ebenso darauf hin, dass die Wendung Richtung eines formal-strukturalistischen Denkens nicht seinen Einschluss in einen erstarrten Rahmen bedeutete, im Gegenteil, die Idee der Struktur gelangt durch den Einfluss der Gödelschen Entdeckungen (die Existenz sogen. „Schwacher Strukturen“) in den gegensei-tigen Zusammenhang mit dem Konstruktivismus des kontinuierlichen Formens.
Die sogen. Öffnung der Strukturen (das Unterstreichen ihrer dynamischen Natur) wurde ein signifikantes Zeichen des Prager Strukturalismus. Auf den proteischen Charakter der Struktur machte Jan Mukařovský, der ihre inhärente Energetik, ihre ständige Bewegung, Ver-änderung und ihr gegenseitiger Ausgleich entgegengesetzter Kräfte, die sich komplementär ergänzen, hervorhebt, in seinen theoretischen Arbeiten aufmerksam: „To, co ve struktuře trvá od chvíle k chvíli další, je dialektická identita její existence; ježto v každém okamžiku trvání je virtuálne obsaženo i doznívání stavu minulého a zárodek stavu budoucího, lze říci, že v každé chvíli struktura je i není sama sebou“. Das Betonen der Dynamik der Struktur richtete sich auf die Umwertung von Synchronie und Diachronie; die synchrone Perspektive wird nicht mehr statisch wahrgenommen, sondern als ein Feld der Transformation und Konfiguration, der gegenseitigen Ersetzbarkeit einzelner Elemente, was zu der früher akzentuierten Invarianz (invariantnosť), Dauerhaftigkeit und Beständigkeit (sog. Methodologie des Kristalles) ein Gegengewicht bildet. Es öffnet sich so ein Raum zum Durchdringen absichtsloser und zufälliger Elemente in das Ganze der Struktur, die neu ihre Konstruktion prekonfigurieren können. In diesem Zusammenhang präsentiert sich J. Mukařovskýs Studie „Záměrnost a nezáměrnost v umění“ als Schlüsseltext (auf ihre Bedeutung wiesen Zdeněk Mathauser und unlängst auch Daniela Hodrová, Jiří Holý a Petr A. Bílek hin). Mukařovský macht darauf aufmerksam, dass das Kunstwerk als Ganzes nicht nur das Ergebnis einer absichtlichen ziel-gerichteten Arbeit ist, sondern oftmals dieser Absichtlichkeit ausweiche und in der Endkonse-quenz diese Vorsätzlichkeit übertreffe. Die Absichtslosigkeit wird hier als Begleiterscheinung der Vorsätzlichkeit (Absichtlichkeit und Absichtslosigkeit können nicht getrennt existieren, im Gegenteil, sie ergänzen sich komplementär) verstanden.
Mukařovskýs Text ůffnet so den Weg zur „Poetik des Chaos“, ebenso/ dennoch kann das Chaos als das begriffen werden, das im Hintergrund ist, als Kontrastelement und gleich-zeitig komplementäres Element zur Ordnung und Geregeltheit (Chaos und Ordnung sind im-mer gegenwärtig). Der Unterschied liegt nur in der Akzentsetzung auf eines der beiden Prin-zipien. Es gibt Perioden, wo als grundlegendes Schaffensprinzip der Bedarf nach formaler und semantische Vereinheitlichung betont wird, ein anderes Mal wird diese Einheit von Form und Bedeutung zerstört. Die Präferenz für ästhetische Kriterien, die dichter zur Akzentuierung des Chaotischen, Zufälligen, Entfesselten, Elementaren stehen, ist typisch für Übergangsperioden, umgekehrt tritt nach ihren Abklingen der Bedarf nach Synthese, Harmonie und Komplexität ein.
Einen solchen Prozess beobachten wir in der zweiten Hälfte des fünfziger Jahre. Nach dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU 1956, der den Stalinismus verurteilte, trat eine Wende von dem ideologisch-dogmatischen Gestalten der Wirklichkeit zu offeneren ästhetischen Initiativen, die von moderner Kunst und der Avantgarde inspiriert waren. Die sechziger Jahre unterstrichen dann nur diesen philosophischen und ästhetischen Umschwung. Unter anderem versteckte sich zwischen den Zeilen zeitbedingt eine politische Konnotation – das Reflektieren über dynamische Prozesse wurde eine Art kryptonyme Bezeichnung für freiere und offenere Ausdrucksmittel. Seine Renaissance erlebt auch der tschechische Strukturalismus, der schöpferisch von dem theoretischen Denken der Zeit weiterentwickelt wird (Karel Chvatík, Jiří Levý, Lubomír Doležel, František Vodička, Miroslav Červenka, Milan Jankovič). Die Entwicklung des tschechischen Strukturalismus ging einen spezifischen Weg – im Unterschied zum französischen Strukturalismus zum Beispiel legte sie den Akzent auf die dynamischen Prozesse. Man kann sagen, dass gerade Mukařovskýs Ästhetik hier eine gewisse Vorlage zur Definition eines neuen ästhetischen Paradigmas geliefert hat. Zdeněk (?) Mukařovskýs strukturalistisches Erbe schöpfte dann die zweite Hälfte der achtziger Jahre aus, wobei sie ihre natürliche Fortsetzung auch in den neunziger Jahren fand („pulsierende Ästhetik“, „Poetik des Chaos“ oder „fiktive Welten“).
Der Begriff des Zufälligen befand sich in den sechziger Jahren in Opposition gegenüber dem Gesetzmäßigen (unter Gesetzmäßigkeit kann man hier die dogmatische Auslegung des Marxismus in seiner Vorstellung der geschichtlichen Unausweichlichkeit verstehen, so folgt auch der Positivismus und Szientismus des modernen Rationalismus diesem Begriff der Ge-setzmäßigkeit). Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang zwei Arbeiten. Im tschechischen kulturellem Kontext ist dies die halbvergessene Arbeit Jaroslav Bartošs mit dem Titel Kategorie nahodilého v dějinách filosofického myšlení (1965), die ähnlich wie Kosíks Dialektika konkrétního (1966) schöpferisch, kreativ die marxistische Philosophie, die zuvor in den ideologischen Dogmatismus der fünfziger Jahre eingeschnürt war, weiter entwi-ckelt. Nach Bartoš ist die Kategorie des Zufälligen ein Synonym für das Ursachelose und Nichtkausale und breite als ein Produkt des griechischen Denkens den Raum des freien Den-kens aus (er macht also so auch auf die ethische Dimension aufmerksam). Er geht dabei von Epikurs Lehre von der Abweichung (parenklíza), der zufälligen Abweichung in der Be-wegung des Atoms und von Demokrits Atomismus aus, wo die zerstreuten Atome sich zufäl-lig treffen und verschiedene Konfigurationen bilden. Außer dem historischen Kontext be-schäftigt sich Bartoš auch mit der Etymologie des Begriffes Zufall, besonders in den moder-nen indoeuropäischen Sprachen – die Bezeichnung Zufall ist hier abgeleitet von den Worten „treffen“, „berühren“ und besonders „geschehen“, „werden“. Bis zum neunzehnten Jahrhun-dert wurde in der europäischen Philosophie unter dem Einfluss der Aristotelischen Philoso-phie der Zufall mit dem Akzidens verbunden – mit etwas, was nicht direkt mit der Sache verknüpft ist, was nicht zum Begriff der Substanz gehört, was „eventuell“ ist. Der Begriff der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit ist jedoch nach Bartoš durch unrichtige mechanistische und fatalistische Vorstellungen (Notwendigkeit wurde oft als „Nötigung“ interpretiert) belastet. Daraus folgt auch die ungenaue philosophische Prämisse, nach der Notwendigkeit im Gegensatz zur Freiheit bzw. zum Zufall verstanden wurde. Dieser wurde dann als Antithese zur Ordnung und objektiven Wirklichkeit interpretiert. In der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie jedoch gelten nach Bartoš diese Abgren-zungen nicht – über die Kategorie des Zufälligen beginnt man mehr im Kontext der exakten Wissenschaften (Statistik, physikalische Prozesse) nachzudenken, was seine Konsequenzen auch in den Gesellschaftswissenschaften hat. Als Beispiel führt er die Gauß-Kurve ein, die ursprünglich von Gauß als graphische Darstellung der „Fehlerverteilung“ vorgeschlagen worden war. Statistische Forschungen enthüllen so eine bestimmte Ordnung: das Zufällige wird hier nicht vom kausal-mechanistischen Determinismus und auch nicht von der teleologischen Gesetzmäßigkeit abgeleitet, sondern sein Modell wird die statistische Gesetzmäßigkeit (Wahrscheinlichkeit wird als Theorie zufälliger Massenerscheinungen ver-standen). Statistische Methoden finden ihren Platz auch in der modernen Physik (der korpuskulare Wellencharakter der Teilchen) und in der Biologie (morphogenetische Prozesse). Bartoš weißt jedoch zugleich darauf hin, dass auch wenn über den Begriff der Zufälligkeit im Zusammenhang mit statistischen Wahrscheinlichkeitsmethoden gesprochen wird, das in seinem Wesen kein mathematischer Begriff ist. Im Gegenteil, „funkcí kategorie nahodilého je však hodnotit jevy na podkladě celkového, syntetického vidění určitého procesu. (...) Přes svou závislost na vědách, anebo právě pro svou závislost na převládajícím způsobu vědecké interpretace pohybu, je a zůstává kategorie nahodilého prostředkem filosofické interpretace skutečnosti; je logicko-ontologickou kategorií filosofickou, je obecnou kategorií vědeckou, je kategorií hodnotící skutečnost“.
Von ähnlichen theoretischen Ansätzen, wenn auch mit einer anderen Intention des Au-tors, geht auch der Schriftsteller und Essayist Stanisław Lem in seinen Überlegungen über den Zufall im polnischen kulturellen Kontext aus. Zufall, Chaos und Ordnung sind das domi-nante Thema seiner ganzen Prosa und seines theoretischen Werks (was auch seine gegenwär-tigen Monographen J. Jarzebski und M. Płaza betonen), aber dieses Thema erscheint bei ihm auch als ein selbstständiges, theoretisch begriffenes kulturelles Problem, das in den Arbeiten Summa technologiae (1963) und Filozofia przypadku [Philosophie des Zufalls] (1968), deren geistige Reichweite sich nicht nur im Kontext der damaligen Zeit erschöpft, sondern einen theoretischen Ausgangspunkt auch für die aktuelle Reflexion in den Intentionen nicht nur „der Ästhetik des Chaos“, sondern auch der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus bildet. Lems Arbeiten ist kein Programmmanifest (man kann eher von einem Antiprogramm sprechen), in seiner Art geht es um ein interdisziplinäres Projekt, eine gewisse „Theorie von allem“, die gegenseitig Evolutionsbiologie, Neurophysiologie, Literatur, Kosmologie und Kulturgeschichte verbindet. Sie wurde so ein Paradigma der Reflexion für die neunziger Jah-re, wo schon die zum Programm erhobene Interdisziplinarität in der Publikation eines Bandes mit breitem humanwissenschaftlich-exakten Diapason mündete.
Lems Zugang zu Zufall und Chaos ist eng mit dem Begriffsapparat der Aussagenlogik und der Informatik verbunden. Die Philosophie des Zufalls ist nicht, wie der Titel suggeriert, eine Apologie der Zufälligkeit, ganz im Gegenteil weist Lem beharrlich auf die Funktion der Systematisierung und der inneren Organisation des literarischen Werkes hin. Nach Lem hat die Zufälligkeit beim Schaffen des literarischen Artefakts eine sehr begrenze Funktion: über jedes Element des Werkes entscheidet doch der Autor selbst, sein Wille und seine rationale Entscheidung, es dominiert hier eine bestimmte Überorganisation (die zeitgebundene Poetik, die Mythologie, ideologische und ethische Normen), das Werk wird von konkreten Regeln geformt. Lem interessieren also nicht einzelne subjektive Lesarten, sondern das, was inter-subjektiv im Prozess des Austausches und der Rückkoppelung (Leseeindrücke, kritischer Diskurs, die kulturelle und historische Verankerung) entsteht. Diesen Prozess bezeichnet er als „die Stabilisierung des Sinnes“, die jedoch dynamischen Charakter hat. Der Zufall hat hier die Funktion der Rückkoppelung zur Evolution, ähnlich wie sich der Prozess der Spezia-lisierung bei der Entstehung der Arten in der Natur Geltung verschafft, kommt es zu einem analogischen Prozess auch bei der Genese der Linguistik und Kultur, wenn ein zufälliger Zustand sich zu einer Regeln und einem System transformiert.
Heute finden polnische Theoretiker Analogien zwischen der Konzeption Lems und der Rezeptionstheorie (Jauss, Gadamer, Ingarden), aber auch der Semiotik (Barthes, Eco) oder der Dekonstruktion. Analogien können wir auch auf dem Gebiet der Terminologie (Generator der Heterogenität/ Prozess der Überinterpretation, transformierende Matrix/ Invariante usw.).
Lems Konzeption des Zufalls steht also der Statistik (der Wahrscheinlichkeitstheorie) näher als dem deterministischen Chaos. Im Grunde ist es eine originelle „Applikation“ des biologischen Diskurses (Evolution, morphogenetische Prozesse) und der Gauß-Kurve (Nor-malverteilung, maßgebende Abweichung) auf die kulturelle Sphäre, auch wenn man hier nicht von irgendeinem ausgearbeiteten methodologischen Apparat sprechen kann.
Im ähnlichen Sinne denkt Oskar Čepan, der in der Slowakei als einer der ersten auf die Funktion des Zufalls in der Literaturgeschichte (über den Zufall dachte man selbstverständlich auch vorher nach, aber erst Čepan gab diesem Nachdenken „programmatischen Charakter“) hinweist, über den Zufall nach. In Anknüpfung an Bakošs strukturalistische Konzeption schreibt er: „Literarische Fakten oszilieren so wie alles andere auf der Welt im Rahmen der Antinomie zwischen Zufall und Gesetz.“ Nach Čepan sind Zufall und Chaos „gleichberech-tigte Glieder antinomischer Beziehungen zwischen dem individuell schöpferischen Akt und der überindividuellen Entwicklung der Literatur, der Beziehungen zwischen innerer Identität und den Kräften, die sie von außen beeinflussen.“ Bestandteil des Entwicklungsprozesses werden auch unmotivierte individuelle Antriebe und zufällige Impulse, die an der Genese literarischer Fakten Anteil haben. Auf das literarische Faktum „türmen sich“ („nabaľujú“) auch neuere Kontexte, die zu ihrer Festigung, Stabilisierung beitragen und so wachsen Mög-lichkeiten neuer Konkretisierungen des Werkes hinzu. Die Literaturgeschichte wird so einer-seits vielgliedriger und differenzierter, andererseits sind aus der Geschichte literarische Fakten und Werke, die „keine Hoffnung auf Rehabilitation auf der Ebene der historischen Konkreti-sierung haben“ und deren „literarisches Sein sich mit der Zeit auf die Rolle bibliographischer Einheiten ohne ausgeprägteren Entwicklungs- und Aktualitätswert reduziert,“ herausselektiert. Wir können hier nicht umhin, einen gewissen Zusammenhang zwischen Čepans und Lems theoretischen Überlegungen zu sehen.
Im tschechoslowakischen kulturellem Raum (priestor?) setzen sich Chaos und Zufall wieder in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Szene, was mit der zu dieser Zeit diskutier-ten Theorie der Übergangsperioden bzw. der „Schwellensituation“, welche Peter Zajac als Situation der Änderungen in der inneren Raumkonfiguration charakterisiert, zusammenhängt. Zugleich betont er den Interferenzcharakter gegenseitigen Durchdringens einzelner Prozesse, ihren fließenden und gleitenden Charakter, der eine Menge an Korrelationen und Knoten-punkte generiert. Während Petříček diese Prozesse Resonanzen nennt, spricht Zajac von Beg-riffen wie Vibration, Pulsieren, Oszillieren, die die charakteristischen Merkmale der Literatur komplexer als Netze sind, die den Raum für neue Möglichkeiten öffnen können: „Solche Zu-sammentreffen bilden dann die Topographie aktueller Knotenpunkte, in denen es zum Über-gang von einer Periode in die andere Periode kommt.“
Die Betrachtungen über Chaos und Zufall wurden in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zur Antithese zur dogmatisch-scholastischen Auslegung des Marxismus wie auch zum aktuellen technologischen Rationalismus (ähnliche Prozesse können wir auch im westlichen Denken beobachten).
Die Poetik des Chaos der achtziger Jahre berief sich besonders auf die moderne Physik (Quantentheorie, Deterministisches Chaos, Heisenbergsche Unschärferelation, fraktale Geo-metrie, sonderbare Attraktoren) und die Biologie (Theorie der Neuronennetze, morphogeneti-sche Prozesse bzw. die Theorie morphischer Resonanzen, biologische Evolution, Neodarwi-nismus).
Die Verbindung der Theorie der morphischen Resonanz bzw. der morphogenetischen Felder (R. Sheldrake), die Kybernetik der Genregulation (J. Monod), Mandelbrots fraktale Geometrie und der Prager Zwischenkriegsstrukturalismus mündete 1989 in den interdis-ziplinären Sammelband mit dem Titel Geometrie živého [Geometrie des Lebendigen] und dem Untertitel Matematické modely morfogeneze [Mathematische Modelle der Morphogenese], der das Ergebnis der internationalen Konferenz in Bechyně (26. – 30. September 1988[neunzehnhundertachtundachtzig]) Mit seiner inhaltlichen Ausrichtung knüpfte er so gleichzeitig an die sechziger Jahre an, wobei hier wieder Lems Konzeption des Zufalls (das Verbinden biologischer und kultureller Prozesse). Ebenso auch Mukařovskýs Strukturalismus, der für Zdeněk Neubauer gerade für einen biologischen Strukturalismus (der Autor kommt zu dem Schluss, dass gewisse „universelle Strukturen“, morphogenetische Felder, die gegenüber der Geschichte invariant sind, existieren) zum Ausgangspunkt wird. Auch Neubauer hält die Struktur für ein dynamisches System, das sich durch Totalität, Transformation und Autoregu-lation auszeichne und setzt sie mit der aktuellen poststrukturalistischen Diskussionen (Fou-caults Epistéme), Saussures linguistische Semiotik und dir Gestalttheorie in Korrelation. Nach Neubauer stabilisieren „natürliche Konventionen“ einerseits die Formen, „schreiben“ ihnen eine Gestalt „vor“, andererseits enthalten Tiefenstrukturen auch Elemente der Freiheit, die mittels der Transformation scheinbar unendliche Gestaltsvariationen, Formvariationen generieren. Es entsteht so ein wahrscheinlichkeitshafter Raum, der die Grundlage für eine „dynamische Struktur“ bildet, im Unterschied zur klassischen Wissenschaft, die die Betonung auf die statische Struktur legt: „Novější přístupy nás chtějí přesvědčit, že organizmus je neustálý herakleitovský tok (flux), a studují ho jako soubor průtoků, gradientů, vln, rozhraní, rozložení změn a pod.“ Mehrere der erwähnten Begriffe tauchen in den neunziger Jahren bei M. Petříček auf, der sie metaphorisch in die eigenen poststrukturalistisch gestimmten Überlegungen eingliedert.
Noch zum Abschluß möchte ich kurz die aktuelle Arbeit des polnischen Theoretikers Rafał Koschany Náhoda, existenciálna a umelecká kategória v literatúre a filme [Zufall, eine existenzielle und künstlerische Kategorie in Literatur und Film] (2006) , die nicht nur ein Überblick ästhetischer und philosophischer Konzeptionen, die den Moment des Zufalls als eines der grundlegenden Prinzipien der modernen Kunst thematisieren, ist, sondern zu gleicher Zeit kreativ sowohl an Lems Konzeption, als auch an den philosophischen Kontext (ähnlich wie das Jaroslav Bartoš formuliert hatte) anknüpft, erwähnen. Der Autor weist darauf hin, dass das Ziel der Arbeit nicht die „Übersetzung“ naturwissenschaftlicher Theorien in die literarische und filmische Interpretation (das Suchen von Analogien in der Quantenphysik) ist, sondern beruft sich auf Kołakowskis und Lotmans Reflexionen. Koschani interessiert das Verhältnis der „Regeldetri“ Zufall-Fiktion-Wirklichkeit, wobei er auf die häufige Überschneidung einzelner Kategorien (das Problem der Fiktion und die Theorie der Fiktion) hinweist.
Am Anfang unserer Überlegung stellte ich mir die Frage, ob das Akzentuieren zufälliger Momente und die der ganzen Diskussion um das Chaos im tschechischen, polnischen und slowakischen Kulturraum in irgendeiner Hinsicht spezifisch ist. Eine Antwort könnte uns zum Teil die Geschichte anbieten. Die Worte Jaromír (?) Bartošs paraphrasierend: Zufall und Frei-heit hingen hier bis 1989 eng zusammen, auch wenn das etwas pathetisch klingt. Das Hervor-heben zufälliger Momente hatte hier auch einen kulturpolitischen Subtext, wurde Bestandteil des theoretischen Diskurses, der den Monolith des scholastischen Marxismus umstürzte. In den neunziger Jahren wurde dann die Diskussion über das Chaos zu einem organischen Be-standteil des westlichen theoretischen Denkens.
Übersetzung: Stephan-Immanuel Teichgräber
Pavel Matejovič
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