STROHBLUME

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Dušan Dušek

 

Strohblume

 

 

Alte Jungfern sind Strohblumen, ihre Schönheit geht nicht verloren, sie schrumpft nur langsam zusammen und geht im Staub unter. Hana war eine Strohblume. Sie hatte nicht geheiratet, war dreißig Jahre alt, das halbe Leben hinter sich und genau soviel vor sich, denn sie glaubte, dass sie stirbt, wenn sie sechzig ist – immer noch schön, wenn auch ganz klein. Einmal morgens maß sie sich nur so ab, stellte sich auf die Schwelle zwischen Küche und Zimmer und legte sich ein Dreieck auf den Kopf, das einen rechten Winkel hatte. Vorsichtig bückte sie sich und drehte sich um, der Teppich erlebte einen halben Schritt bloßer Füße, das Dreieck drückte sie weiter an den Rahmen.

Sie maß einhundertsiebenundsechzig Zentimeter, das war um einen Zentimeter weniger als vor zwölf Jahren, als sie maturierte und sich das letzte Mal im Vorzimmer der Schulordination gemessen und gewogen hatte. Nach einem Jahr wurde sie um ein weiteres Zentimeter kleiner – und jetzt glaubte sie schon, dass sie stirbt, wenn sie ein Meter sechsunddreißig ist.

Sie dachte über ihren Körper nach. Er blieb ungenutzt, eigentlich verwendete sie ihn nur auf irgendeine komische Weise, damit sie irgendwo (oder irgendworin) leben konnte. Dieses dumme und zugleich angenehme Gefühl kam immer abends, wenn sie sich ins Bett legte, an der Grenze des Lebens, zwischen Schlaf und bewegungslosem Wachen, wenn es ihr schien, dass sich die Seele vom Körper löst, ab einem Faden aufsteigt und im Wind fliegt wie ein Papierdrachen, der jederzeit unter sich schauen und nur aus Mitleid in den traurigen Körper zurückkehren kann.

Mit der Zeit magerte sie ab, entsprechend der Größe, nur ihre Brüste wurden nicht kleiner und schmerzten ihr weiter vor der Menstruation; aber dann stellte sie fest, dass sie nicht mehr solche Schmerzen hat und ihre Monatsblüte plötzlich einen Tag kürzer war.

Wenigstens etwas: es schien ihr, dass sie schöner geworden war.

In diesen Tagen begann ihr auf den Straßen ein unbekannter Mann in dünnem Mantel, der hinter ihm am Boden schleifte und seine Farbe nach dem Himmelslicht wechselte. Einmal war er grau, ein andermal blau – und als das Jahr verging und herbstlich wurde, war der Mantel rot und gelb, bei Sonnenuntergang leuchtete er geradezu auf und spiegelte sich in den Fenstern der Straße.

 Aber das merkte Hana erst später. Sie nahm zuerst sein Gesicht und später die Art seines Ganges wahr, weil er niemals lachte und sie niemals seine Schritte hörte. Sie stellte sich vor, dass er an den Schuhen Sohlen aus Rohgummi hatte, über ihnen Samtleder, nachgiebig und weich, die keine Abdrücke hinterlassen und jeden Laut dämpft. Der Mann ging jedoch auf bloßen Füßen. Aber auch das erfuhr Hana erst später, der Mantel des Mannes war so lang, dass seine Füße niemals zu sehen waren, doch musste sie an seinen Gang denken – und zu ihm gehörten Schuhe. Er ging sehr schnell; er konnte auch langsam gehen, immer langsamer und langsamer, in derselben Geschwindigkeit wie Hana, der solch ein Spaziergang begann zu gefallen, doch gleich darauf, kaum dass sie sich umgesehen hatte und ihn für einen Augenblick aus den Augen verlor, in der Ferne verkleinert, wuchs er an und ging nur zwei-drei Schritte hinter ihr. Und wieder hörte sie nichts – keine Gang, keinen Lauf. Sie gewöhnte sich. Von Anfang an fürchtete sie ihn und wusste nicht, was sie machen sollte, um ihn abzuschütteln; er wartete immer nach der Arbeit auf sie (Hana war Sekretärin im Institut für Meteorologie) und folgte ihr, solange sie nicht durch die ganze Stadt gegangen waren und sie in ihrem Haustor verschwand, wo sie ganz oben eine Garsoniere hatte. Vor dem Weggehen aus dem Institut schaute sie nach ihm umsonst aus dem Fenster, doch als sie auf die Straße trat, stand er auf der anderen Seite der Straße, ließ sie vorbeigehen und folgte ihr. Sie versuchte ihn zu betrügen und ging durch den Hintereingang hinaus: der Mann erwartete sie, lachte nicht, schaute sie nur an und wartete, dass sie losgeht. Schließlich gewöhnte sie sich an ihn und freute sich auf jeden Heimweg. Darauf kam er einige Tage nicht. Es regnete und der Wind peitschte, im Wasser erwachte die Geometrie der Schneeflocken, sie sehnte sich nach einem anderen (festen) Aggregatzustand. Auch so hielt sich das goldene Wetter sehr lange, solch ein Herbst gelingt nur alle hundert Jahre, vielleicht auch das  nicht, besonders als es sich nach nicht ganz einer Woche wieder aufheiterte und die Luft noch durchsichtiger war.

Der Mann wartete wieder auf sie.

Hana lachte ihn an. Sie freute sich wirklich, dass sie ihn sah: die ganze Woche schien es ihr, dass sie schon langsam krank wird, dass es ihr immer schwerer fällt zu gehen, dass ihr die Gelenke schmerzen, alle Kapseln in den Ellenbogen, Knien und Knöcheln, sie sagte sich, dass in ihrer Handwurzel Staub oder Rost knirscht; der Kopf tat ihr weh, er platzte beinah, als ihr am Ende Blut aus der Nase schoss, legte sie sich ein kaltes Handtuch in den Nacken, aber der Druck im Kopf hörte nicht auf, wurde stärker und verwandelte sich in schmerzhaftes Rauschen; dann begann ihr Blut zu trocknen, es hörte auf zu tropfen und Hana wurde sich das erste Mal bewusst, dass sie nach Eisen roch. Wieder bemerkte sie den Mann im Mantel und gleich ging es ihr um vieles leichter, die Spannung ließ nach, die Muskeln wurde weicher und ruhig, ihr Körper schwitzte freudig.

Sie wollte länger bei ihm bleiben – und so ging sie nicht den bekannten Weg hinunter durch die Stadt, sondern machte sich auf den Weg durch den Park, der über dem Gipfel in Wald überging, auf entlegene Wege, wo sie sich früher gefürchtet hatte zu gehen. Im Sommer verloren sich hier große Fächen Licht, das Gras wurde wild und die Wege führten plötzlich ins Dickicht, immer war es hier still, nur das Insekt knallte geheimnisvoll, das Wasser hatte einen Pechglanz. Der Mann verlor sich und tauchte wieder auf. Bisher war er so gegangen, dass sie ihn immer hinter sich gehen hatte, ob schon nah oder fern, heute reichte er ihr nicht, obwohl sie langsam ging, ja auch stehenblieb, aber der Mann tauchte nicht auf, sie sah ihn nicht. Und doch musste er nahe seien, nach einem Augenblick bemerkte sie ihn wieder, wie er aus dem Tunnel nackter Büscher herauskommt und ihr nachschleicht. Seltsam war nur das, dass gerade in den Augenblicken, wenn er ihr aus dem Blickfeld kam, ahnte und fühlte, dass er ganz nahe war, um vieles näher als irgendwanneinmal – und sie sah ungläubig, wie sich ihr auf dem Handrücken Gänsehaut bildete, Haarbüschel starr werden und aus dem Ärmel stoßen, allmählich auf den ganzen Körper überspringt, als ob sie ein Atemwehen jagt, sie wird schwach und kann nicht mehr stehen, spürt, wie in ihr ein Eisklümpchen  schmilzt, wie die Wärme in ihrem Inneren entweicht, wie gleich darauf alles still wird und sie wieder gehen kann.

Sie sagte sich, das sich ihr Gang verflechtet, dass erst jetzt, als sie zusammen gehen, einer hinter dem anderen, wird aus ihren Schritten ein Gang, der ein Ziel hat. Und anderen Unsinn. Zu Hause zog sie sich nackt aus und stellte sich auf die Waage: sie stellte fest, dass sie um ein weiteres Kilo abgenommen hatte und sagte sich, dass sie sich auch morgen misst /odmeria/; sie wollte schlafen, sie wollte schlafen.

Dann sah sie ihn wieder einen Monat nicht. Es begann der Dezember, und nirgendwo Fröste, nur einmal in der Nacht regnete es, still und traurig, das Wasser reinigte die Luft. Ihn gab es nicht.

Hana schlief. Ging, machte – und danach schlief sie, verlor weiter Blut, schwand wie Schnee, der bisher nicht gefallen war.

Nach drei Wochen begann sie Postkarten aus aller Welt zu bekommen: Schweden, Finnland, Canada (Blick auf eine Brücke in Montreale, wo in der Ecke zwei Sportsegler um die Wette fuhren), Kuba, Brasilien, Cape Town, Maroko und Holland (eine Einstellung mit zwei Windmühlen über glänzendem Eis von Kanälen), aus der Schweiz und Prag. Wieder hatte sie Angst, denn auf den Postkarten waren keine Grüße, weder eine Unterschrift, noch eine Adresse, nichts, nur Briefmarken ohne Stempel, Küsse fremder Städte.

Sie schwand: magerte immer schneller ab, ein Kilo pro Monat, ein Kilo pro Woche, wurde kleiner – und wusste das auch ohne Meter und Waage, denn alle Kleider waren ihr schon zu groß, die Röcke fielen halb bis auf die Waden, in den Blusen wehte die Luft. Doch wog sie sich weiter, immer nackt und verfrohren, in Gedanken verirrt, solange bei ihr nicht der Mann im Mantel erschien.

Er sagte, dass er ihr Schnee gebracht hat.

Er stand bei offenem Fenster des Zimmers, der Mantel wehte an ihm, entblößte seine  bloßen Füße, das Licht wurde weiß und rot: auf den Fußboden fiel Schnee.

Er sagte, dass sie die einzige Frau sei, die er wegtragen kann, nicht gleich, aber bald.

Hana schloss und öffnete die Augen: sie wunderte sich, dass ihr nicht kalt war, auf dem ganzen Körper streute sich Gries aus und die Adern dunkelten mramorn.

Er sagte, dass er der Wind ist.

Der Mantel rutschte ihm auf die Erde, der Mann stieß ihn weg und neigte sich zu ihr und neigte sich zu ihr.

 

Text © Dušan Dušek    Übersetzung © Stephan-Immanuel Teichgräber

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Dušek, Dušan

Dusan Dusek