Die kulturelle Identität Centropes

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Stephan-Immanuel Teichgräber

Die kulturelle Identität Centropes

 

Dieser Text ist ein Fragment und soll auch als solches gelesen werden. Natürlich kann man mir Schludrigkeit vorwerfen, dass ich Gedanken nicht zu Ende geführt habe oder unfertige nicht gelöscht habe, aber ich wollte diese Ansätze wie Synapsen nicht tilgen, sondern den Text offen lassen, sodass er jederzeit erweitert und fertiggestellt werden kann. Zugleich impliziert er eine praktische politische Fortsetzung, die wiederum auf den Text einwirken kann, solange er offen bleibt. Ich danke der Wiener Hochschuljubileumsstiftung für die finanzielle Unterstützung dieser Studie und besonders Hubert Christian Ehalt.

 

Wenn wir über die Identität Centropes nachdenken, wollen wir keinem neuen Regionalismus das Wort reden, sondern zu einem neuen grenzüberschreitenden Denken in Europa kommen, das zugleich nicht zu große Einheiten, sondern überschaubare umschreibt. Österreich ist mit dem riesigen Osten, in den es auf einmal nach 1989 geraten ist, einfach überfordert und kann darum keinen Platz in Europa finden. Am liebsten würde es irgendwo zwischen Frankreich und England liegen, wobei diese Abstraktion zur Zeit des Kalten Krieges durchaus möglich war, um sich möglichst nur mit sich selbst zu beschäftigen.

Um aus diesem Dilemma herauszufinden, ist eine kleine übersichtliche Region wie Centrope, die sich zudem politisch als Einheit gegründet hat, ein willkommenes Modell für Europa, denn erst in diesen übersichtlichen grenzüberschreitenden Regionen kann sich Europa neu definieren. Der Nationalismus der vergangenen zwei Jahrhunderte hat sich als unbrauchbar erwiesen und zu den zwei Weltkriegen geführt. Die kapitalistische Weltordnung braucht heute zur Ausbeutung diese Nationalismen nicht mehr und die unterdrückten Klassen können sich durch das Klammern an die Nation nicht vor der Machtlosigkeit und Verarmung retten. Nach Wallerstein wird die kapitalistische Eroberung der Welt häufig in einer „theologischen Sprache“ oder in einer Sprache, die von einem säkularen Weltbild ausgeht, vorgebracht. (Wallerstein 2006, 1) Aber auch die Opfer und die Gegner dieser kapitalistischen Weltherrschaftbenutzen mythologische Elemente, entwickeln eine eigene Mythologie, wie der Sozialismus im vergangenen Jahrhundert gezeigt hat, sodass die Kritik an der theologischen Sprache, an politischen Religionen wie bei Vögelin oder Mythologisierung des Sozialismus nicht den Kern trifft. Die Verlierer der Globalisierung und der Revolution von 1989 müssen sich über die Landesgrenzen zusammenschließen, um gemeinsame Gesellschaftsmodelle zu entwickeln und sie dann gemeinsam umzusetzen. Dies nicht zu tun, ist ein Fehler der heutigen Gewerkschaften, der ihre allgemeine Krise verstärkt. Sie brauchen nicht nur eine moralische Erneuerung, sondern ein Solidaritätsgefühl oder besser Solidaritätsbewusstsein, dass Streiks um höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen nicht an den Landesgrenzen halt machen dürfen.

Der kroatische Philosoph Žarko Paić weist darauf hin, dass mit der Globalisierung der Gegenstand der Soziologie infrage gestellt wird, als positive und kritische analyse der Gesellschaft an sich, solange sie sich auf die regionale Grenzen beschränkt. Hier zeigt sich, dass das Durchbrechen der regionalen, nationalen Grenzen durch das Projekt Centrope auch sozialwissenschaftlich zur internationalen Kulturwissenschaft aufschließt. So sehen wir, dass in der Globalisierung das gegenwärtige Bild (oblik) des Imperialismus sichtbar wird. (Paić 2005, 47)

Anthony Giddens „dritter Weg“ war ursprünglich als Alternative zum Neoliberalismus der Globalisierung gedacht gewesen, was sich jetzt nach den Regierungen Blairs und Schröders als reine Illusion erwiesen hat. In Centrope hat nur Fico eine zeitlang mit dem „dritten Weg“ geliebäugelt und ihn dann wieder ad acta gelegt. Doch verfolgt er eigentlich seinen „dritten Weg“, der eine Verbindung von westlicher Sozialdemokratie, die eine starke soziale Marktwirtschaft besitzt, und einem Nationalismus, der das Selbstbewusstsein der Slowaken stärken soll, darstellt. Der Begriff und das Phänomen der Globalisierung erfordert einen interdisziplinären Zugang, wie schon das gerade erwähnte Beispiel zeigt, wo nur Politologen und Slowakisten gemeinsam eine Einschätzung durchführen können, wegen der mehrdimensionalen Wirklichkeit, die sich in der Zeit der Globalisierung enthüllt. (Paić 2005, 53) Jedoch hat es auch vor der Globalisierung eine mehrdimensionale Wirklichkeit gegeben und es ist die Frage, ob die Menschen heute nicht mehr zur Eindimensionlität Marcuses tendieren; jedoch setzt die Identität Centropes diese Mehrdimensionalität voraus, sodass ein eindimensionaler Mensch diese Identität auch nicht erreichen kann.

Bei der Betrachtung Centropes sieht vrouwe und man, dass der österreichische Teil (Wien, Niederösterreich, Burgenland) sich wesentlich von den anderen Gebieten Österreichs unterscheidet, sowohl geographisch (es fehlen bis auf Rax, Schneeberg und Ötscher das für Österreich typische Hochgebirge) als auch demographisch. Das Gebiet ist wesentlich stärker industrialisiert, aber auch der Dienstleistungssektor und die öffentliche Verwaltung ist in Ostösterreich überproportional vertreten. Das wirtschaftliche Wachstum ist höher als in den anderen Regionen und ist nicht so stark vom Tourismus abhängig. Wenn wir uns nun die anderen Gebieten Centropes anschauen, so unterscheiden sich Bratislava, der Bratislavský und Trnavský kraj wesentlich von den anderen Gebieten der Slowakei. Ungefähr die Hälfte des Bruttosozialproduktes des Landes wird hier geschaffen. Die überregionalen Medien sind alle hier konzentriert, wobei es in Ostösterreich nicht anders aussieht, dass hier alle überregionalen Medien Österreichs vertreten sind[1], wobei es jedoch keine Zeitung, kein Radio und kein Fernsehen gibt, die oder das diese Konzentration zusammenführt und überregional für Österreich und die Slowakei berichtet und sendet. Die ungarischen Komitate (Moson-Győr-Sopron megye und Vas megye) sind innerhalb Ungarns die reichsten Gebiete (nur Budapest und Umgebung ist reicher). Während die Industrie in Nordostungarn zusammengebrochen ist, prosporiert sie in diesen beiden Komitaten und zieht Arbeitskräfte aus den Nachbarländern an. Der tschechische Teil Centropes, Südmähren, unterscheidet sich durch Industrialisierung und Urbanisierung von den anderen Landesteilen Tschechiens nicht, da das Land traditionell ein Industrieland ist. Doch während Nordmähren eine Krisenregion ist, ist Südmähren eine Vorzeigeregion für die gelungene Transformation vom Staatskapitalismus[2] (Tamás Gáspár Miklós) zum Privatkapitalismus. Südmähren unterscheidet sich jedoch landwirtschaftlich von dem größten Teil des Landes, indem es ein Weinland ist, wie fast die gesamte Region Centrope, was durchaus kulturell semantische Implikationen hat. Die historische Dimension, dass in Südmähren immer ein starker deutscher Bevölkerungsanteil war, der das Gebiet in allen Bereichen geprägt hat, stellt in Tschechien keine Ausnahmeerscheinung dar (das gilt auch für Südböhmen, Nordböhmen und Schlesien).

Es zeigt sich, dass Centrope aus industrialisierten und urbanisierten Gebieten besteht, die wirtschaftlich in der derzeitigen Marktwirtschaft sehr erfolgreich sind und außerdem durch eine ähnliche strukturierte Landwirdschaft gekennzeichnet werden. Die Vorurteile, die die einzelnen Nationen gegeneinander oder über einander haben, finden in Centrope keine Bestätigung. Die Österreicher in Centrope sind den Tschechen und Ungarn technisch und wissenschaftlich nicht unterlegen, die slowakischen Ingenieure brauchen sich vor den tschechischen, ungarischen und österreichischen nicht zu verstecken. Ein Zusammenwachsen der Region scheint unausweichlich, sobald man sich sprachlich verständigen kann und es muss eigentlich nur vor der Gefahr gewarnt werden, dass sich Centrope nicht von den anderen Teilen ihrer Länder abkoppeln, weil sich diese wirtschaftlich nicht so schnell entwickeln.

Österreich ist seit der Waldheimaffäre damit beschäftigt, seine Identität neu zu bestimmen, da ein grundlegendes Element der Selbstbestimmung nicht mehr funktierte, Österreich als erstes Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands zu sehen. Die Slowakei ist seit der Samtenen Revolution (Sametová revolucia) mit der eigenen Identität beschäftigt. (Košťálová 2003, 7) Dagegen war Während in Frankreich schon in den siebziger Jahren die Identität ein Modethema war, wenn wir Lévi-Strauss Glauben schenken, ist das Thema der Identität erst Ende der achtziger Jahre in Mitteleuropa angekommen. (s. L’ identité 1977, 7)

 

Der philosophische Begriff der Identität

Der Begriff bei Aristoteles und „nous“ bei Platon als Vorwegnahme der Identität

Platons Identitätskonzeption bezieht sich auf eine deduktive Identität, sie ist auf eine Wahrheit ausgerichtet, die vor der Geburt liegt und durch Anamnesis gewonnen wird, durch ein Erinnern an eine Wahrheit, die vor der Geburt des einzelnen Individuums liegt. (Chen 2006, 26) Eine solche Konzeption wäre für Centrope durchaus denkbar und wird auch von nicht wenigen in Centrope vollzogen, indem sie auf sich auf Österreich-Ungarn oder auf ihre Ahnen in der Monarchie beziehen; genauso häufig wird gerade von Angehörigen der alternativen Szene, von politisch links und von dezidiert westlich Eingestellten, dieser Identitätsbezug vehement abgelehnt, weil sie sich ihn nur als eine rückwärtsgewandte Rekonstruktion vorstellen können. Eine solche deduktive Identität hat aber noch einen ganz anderen Fehler, Mangel, Nachteil, der darin besteht, dass alles, was zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute liegt, ausgeblendet und weder nachgeholt noch eingeholt wird. Eine induktive Identität verzichtet dagegen auf jede Habsburgnostalgie und auf das Vergessen der jüngsten Vergangenheit.

Wer legt in Centrope die Wahrheit fest? Was ist die Instanz, die diesen Anspruch stellen kann? Gibt es ganz verschiedene Wahrheiten, die scheinbar unberührt, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen, nebeneinander existieren?

Giovanni Leghissa verwandelt die Aufklärung, aus der Epoche wird ein Ethos, der Entwurf einer modernen Einstellung, ein Ethos, der von dem Ort definiert wird, den man Modernität nennen kann, all unser Reflektieren über die Gegenwart ist ihre Geschichtlichkeit. Hier spielt also die Postmoderne keine Rolle. Bei der Aufklärung in Centrope muss immer daran gedacht werden, dass damit weniger  Kant und die Weimarer Klassiker gemeint sind, sondern die Josephinische Aufklärung.

Bei der philosophischen Bestimmung der Identität dieser Region müssen wir diese auch in den anderen Sprachen Centropes durchführen und es ist schon ein Widerspruch, wenn wir diese Gedanken nur auf Deutsch niederschreiben. Denn wie können wir die „slovenskosť“ aufheben, wenn wir nicht über die „totožnosť“ von Centrope nachdenken. Es ist also unvermeidlich Begriffe wie „azonosság“, „totožnost“, «истоветност», «идентитет» und «aynılık» ebenso herauszuarbeiten, mitzudenken und zu fragen, ob sie wirklich nur eine Übersetzung des deutschen Begriffes Identität sind. Wenn wir von der Übersetzung von einer Kultur in eine andere zu der Übersetzung von einer wissenschaftlichen Disziplin in eine andere übergehen, was an sich ein ähnlicher Vorgang ist, stellt sich bei der Transformation einer Aussage aus einer Disziplin in eine andere die Frage, ob diese legitim ist, was wiederum eine Instanz ins Spiel bringt, die darüber entscheidet. (Leghissa 2005, 36) Genauso stellt sich die Frage, wer entscheidet, ob eine Übersetzung aus einer Kultur, aus einer Semiosphäre in eine andere gerechtfertigt ist und wo wir diese Instanz in Centrope finden.

Kultur und Technologie bleiben in Zeiten der Globalisierung keine getrennten Bereiche - was zuvor vielleicht auch  nicht waren – sondern bilden ein Ganzes (Leghissa 2005, 50); so ist die Automobilindustrie in Centrope genauso ein Bestandteil der Kultur wie die Informationstechnologie. Hier sieht man auch, dass die postindustrielle Gesellschaft in Centrope nicht angebrochen ist und die Abfolge Industriegesellschaft – Informationsgesellschaft keine brauchbare Vereinfachung ist. Was ist eigentlich Informationsgesellschaft? Sind die kläglichen Ergebnisses des Informationsaustausches in Centrope ein Bestandteil oder ein Ergebnis der Informationstechnologie? Leghissa verwendet statt postindustrieller Gesellschaft den Ausdruck „società industrialé avanzata“.

Natürlich ist das Christentum nicht die einzige Religion, die in Europa und in unserem Fall in Centrope mit Kultur und Bildung zu verbinden ist. (Leghissa 2005, 68) In Centrope ist es sogar sichtbar, dass der Holocaust für Kultur und Bildung eine gravierende Einbuße dargestellt hat. Aber für Centrope ist auch wichtig, wie stark der Islam auch historisch auf das Gebiet gewirkt hat. Darauf kommen wir noch einmal bei der Orientalik zu sprechen. Außerdem ist der Atheismus in Centrope eine so wichtige Angelegenheit, dass er bei der Behandlung der Religionen in Centrope unbedingt beachtet werden muss, da er in Südmähren von der Mehrheit vertreten wird, in Wien wird er als zweitstärkste Konfession angeführt, sodass er in Centrope neben dem Katholizismus der zweitwichtigste weltanschauliche Faktor ist, nur lässt sich der Atheismus nach dem Ende des realen Sozialismus schwer für ideologische Zwecke einspannen. Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist ja in erster Linie eine Angelegenheit des Atheismus, da sich politisch eher atheistische Gruppierungen und Parteien als christliche als Bundespartner anbieten. 

Jean-Francois Lyotard betont in „La condition postmoderne“, dass sich die Pilotwissenschaften seit Anfang des Zweiten Weltkrieges mit Sprache beschäftigen: in Phonologie und Linguistik allgemein (hier führt Lyotard einen Wissenschaftler  aus Centrope als Proponenten an, Nikolaj Trubetzkoy), bei Problemen der Kommunikation und der Kybernetik, in der Informatik, in der Programmierung und den Programmierungssprachen, Sprachübersetzung und die Vereinbarkeit von Automaten und Sprachen, bei Problemen der Speicherung und Datenbanken, die Telematik und die Perfektionierung intelligenter Terminals und die Paradoxologie. (Lyotard 1979, Ü: 20) Doch wurde dies in Centrope genutzt, die Vielfältigkeit der Sprachen, die in Centrope gesprochen werden? 

In Centrope werden vier Landessprachen gesprochen, demzufolge müssen wir bei der Ausarbeitung des philosophischen Begriffes dies auch in der tschechischen, slowakischen und ungarischen Sprache vollziehen (Identität, totožnost, totožnosť, személyazonosság) und auch in den Sprachen der großen Minderheiten serbisch «истоветност», «идентитет» und türkisch «aynılık». Dadurch werden auch diese Identitätsdiskurse einbezogen, wie auch darüber hinaus allgemein der europäische und außereuropäische Diskurs über Identität.

Wo ist nun der Gegenstand des Diskurses und zugleich das Subjekt desselben situiert und zwar in den bisher auseinanderstrebenden Diskursen Centropes, wobei dies sowohl eine Frage der Machtverhältnisse ist als auch der Komplexität der theoretischen Annahmen der Diversität der Kulturen? Hier stehen wir noch ganz am Anfang, aber vielleicht können wir es folgendermaßen umschreiben. Gegenstand und Subjekt können wir nicht anders beschreiben als die Bevölkerung und die Semiosphäre, in der sich der Einzelne bewegt. (s. Leghissa 2005, 78) Das Erfahrungsfeld dieses Subjektes hängt nun essentiell in seiner Zugehörigkeit zu einer Kultur und zu einer Differenz in der Kultur von der Zugehörigkeit zu einer Klasse und zu einem bestimmten Geschlecht ab. (s. ebd.)

Da in Centrope alle bis auf die deutschsprachige Bevölkerung in der Minderheit sind, wobei auch die deutschsprachige Bevölkerung nicht die absolute Mehrheit stellt, sondern nur die relative,[3] sodass die deutschsprachige Bevölkerung auch als die größte Minderheit bezeichnet werden könnte, stellt sich die Frage, wie diese Bevölkerung repräsentiert wird. Worin besteht überhaupt die Repräsentation? Eine ausschließliche Repräsentation der eigenen Bevölkerung in ihren Territorien steht eine völlig fehlende Repräsentation in den anderen Teilen gegenüber. Dort gibt es nicht ihre Zeitungen, in den Schulen wird nicht über sie berichtet, ihre Sprache ist nicht zu hören. Es geht sogar soweit, dass schon seit vielen Jahren kein Wörterbuch Tschechisch-Ungarisch im Buchhandel ist. Man wird aber auch in Österreich vergeblich ein brauchbares Wörterbuch Slowakisch-Deutsch Deutsch-Slowakisch. Es wird von den Österreichern aber auch nicht vermisst und der Markt hat bei Ihnen noch nicht das Bedürfnis danach geweckt. Wie soll bei einer so massiven Ausblendung eine gemeinsame Identität entstehen? Hybride Identitäten haben in Centrope schwer eine Chance und werden sofort stigmatisiert.

Wenn Multikulturalismus nicht nur das Nebeneinander-Bestehen von verschiedenen Kulturen ist, sondern ein gegenseitiges Befruchten, dann gibt es ihn in Centrope nicht. Was hat Centrope von der chinesischen Kultur bisher gelernt und übernommen, nachdem über dreißig Jahre eine nicht unbeträchtliche chinesische Minderheit in Centrope ist? Oder von der vietnamesischen, die noch länger in Centrope ist? Aus diesem Grunde können auch die Politiker in Centrope mit dem interkulturellen Dialog nichts anfangen. Aber das soll sie nicht rechtfertigen.

Homo Bhabha weist darauf hin, dass das Beispiel Serbiens zeigt, wohin ein ethnisch homogener Staat führt. Ein ethnisch homogener Stadt führt. „The hideous extremity of Serbian nationalism proves that the very idea of a pure, ethnically cleansed national identity can only be achieved through the death, literal and figurative, […]” (Bhabha 1994, 7) Centrope, das gerade während der Kriege auf dem Balkan für Bosnier, Kroaten aber auch Serben ein Zufluchtsort war, ist somit eine Möglichkeit, den Nationalismus zu überwinden.[4]      

Heute scheint es nach den Texten von Foucault, Derrida, Deleuze, Lacan, Ricoeur unmöglich an dem traditionellen Konzept der Identität und Differenz festzuhalten. Wie sieht dieses traditionelle Konzept überhaupt aus? (s. Leghissa 2005, 9) Das Subjekt, das über die Identität reflektiert, muss die Differenz von „wir“ und den „anderen“, „eigen“ und „fremd“, «свой» und «чужой», „il proprio“ >< „l’ altro“ oder „il medesimo“ >< „l’altro“ überwinden, überbrücken, durchdringen und unterlaufen. Dafür ist Centrope ein hervorragendes Beispiel, denn das Subjekt ist hier mehrfach gespalten und konstituiert sich erst durch die Überwindung dieser Spaltung. Die Identität wird in eine Vielzahl von Bestandteilen zerstückelt, deren Sythese ein Problem darstellt. (L’ Identité 1977, 8) Erst wenn der Österreicher in Centrope in dem Ungarn in Centrope nicht mehr den Anderen, sondern das Eigene in ihm sieht, entsteht das Subjekt und die eigentliche Identität Centropes. Das ist gerade das, was heute die mehrfachen Identitäten des postmodernen, des rezenten Menschen ausmacht. Dies trifft nun für jedes Subjekt jeder Sprache, Nationalität und Kultur zu. Erst wenn der Slowake oder Türke sich als Teil Centropes sieht, wenn der Slowake in sich den Türken entdeckt, wie das neueste Buch von Svetlana Žuchová zeigt, wenn der Unterschied zwischen Mehrheitsgesellschaft und MigrantInnen[5] überwunden ist, wenn der Österreicher in Centrope begreift, dass er die türkische, tschechische, ungarische Komponente in seine eigene Identität hineinnehmen muss, kann das Subjekt in Centrope realisiert werden. Dieses Durchdringen ist die Zirkulation der Differenzen, durch die nach Deleuze Identität erzeugt wird. (Chen 2006, 31) Dies produziert eine Streuung, eine Dessemmination der Formen, in denen sich das Subjekt in seiner Identität zeigt, ausdrückt und reproduziert. Doch stehen diese Formen nicht einzeln in verschiedene Identitäten zersplittert da, sondern werden zu einem Subjekt, das Centrope eigen ist, integriert. Kann die Identität heute von Außen zugeschrieben werden? Das dies nicht funktioniert, lässt sich in Centrope anschaulich nachvollziehen. Die Zuschreibung Osten für die Anderen in Centrope von Seiten der Österreicher, kann von den Slowaken, Ungarn und Tschechen nicht nachvollzogen werden, was dazu führt, dass das Bildungsniveau der Zuschreibenden in Zweifel gezogen wird. Nach Wallerstein sprechen „die Führer der paneuropäischen Welt von den nichteuropäischen Ländern als den anderen.“ (Wallerstein 2006, XIII) Die österreichische Öffentlichkeit meint jedoch mit dem Anderen seine europäischen Nachbarn, freilich nicht alle, sondern die, die unter dem Kollektivum „Osten“ subsummiert werden. Im Falle Centropes die Slowakei, Ungarn und Tschechien. Damit schließt sich Österreich entweder aus dem europäischen Kontext aus, wird zu einem nicht europäischen Land; oder es nimmt eine postkoloniale Position ein, die Wallerstein bei den europäischen Führern im Verhältnis zu den nichteuropäischen Ländern konstatiert.[6] Giovanni Leghissa spricht von einem osmotischen Verhältnis zwischen den kolonialen Praktiken und den diskursiven Praktiken, die das Ziel haben, den Ort zu bestimmen, wo sich das Anderes des Orients auftut. (Leghissa 2005, 56) Eine osmotische Scheidewand gab es und gibt es in Centrope entlang des früheren Eisernen Vorhangs, da jedoch dem steigenden Wissen in den Transformationsländern nicht eine entsprechende Zunahme des Wissens in Österreich gegenübersteht, wird der Wissensunterschied immer kleiner, andererseits brauchen die anderen Teile Centrope nicht mehr zur Gewinnung internationalen Wissens die Vermittlung Österreichs. Wenn Österreich also kein neues Wissen produziert, wird es als Informationsvermittler uninteressant, gerade wenn es selbst nicht das Wissen, das alte und das neu produzierte in den Nachbarländern aufnimmt. Dieses osmotische Verhältnis hebt sich somit nach einer gewissen Sättigung selbst auf und müsste durch eine Diffusion ersetzt werden. Solange dies nicht passiert, droht diesem Teil Centropes die intellektuelle Auszehrung. Also auch aus diesem Grunde ist es wichtig das Projekt Centropes voranzutreiben.

Können die Teile Centropes, die von Österreich heute postkolonial behandelt werden, nicht sprechen? Doch, nur Österreich kann nicht zuhören und darum wenden sie sich lieber nach Brüssel. Dieses zwanzigjährige Taubstellen hat vielleicht eine stille Ausplünderung ermöglicht, hat aber dazu geführt, dass der österreichische Teil Centropes sich nicht mehr artikulieren kann, ist doch auch das Bildungsniveau in den anderen Teilen viel höher; wie soll man sich gegenüber jemanden äußern, den man nicht kennt und den man auch nicht kennenlernen will. 

Orientalik

Versuchen wir eine gewagte These: Centrope kann auf eine längere Tradition des Orientalismus verweisen und zurückgreifen und deren Fortsetzung ist die heutige Vorstellung vom Osten in Centrope, die in Österreich etwas bizarre Züge annimmt. Eigentlich wäre es dem Deutschen angemessener von Orientalik zu sprechen und da diese Tradition etwas anderes ist als der Orientalismus Saids, werden wir vielleicht besser dieses Wort verwenden. Die Orientalik ist in Centrope hauptsächlich mit dem Barock verbunden – wir dürfen ja nicht vergessen, dass bis 1683 ein Viertel Centropes der Goldenen Pforte unterstanden – und hielt sich noch bis in den Rokokko und hat damit nicht so sehr exotische als nostalgische Züge. So wurden hundert Jahre später Deckenfresken von ruhmreichen Siegen gegen die Osmanen geschaffen. Die Orientalik bezog sich also auf eine ehemalige Spaltung Centropes, die dann im 20. Jahrhundert wieder erneuert wurde. Da der Barock für Centrope eine der bestimmenden Epochen ist, ist darum auch die mit ihm einher gehende Orientalik sehr wichtig und müsste grundlegend untersucht werden. Dabei müssen auch die zahlreichen Mythologisierungen, die damit verbunden sind, berücksichtigt werden, die letzten Endes den Sieg des Abendlandes in Centrope rechtfertigen sollen.

Spivak zeichnet den Unterschied zwischen Kolonialland und kolonialisiertem Land prägnant, dabei gab es zwar in Centrope niemals eine Kolonie, aber der Westen verhielt sich nach 1989 zu den Transformationsländern wie zu ehemaligen Kolonien, sodass Spivaks Unterscheidung auch für Centrope fruchtbar ist: das Kolonialland hat das Kapital und investiert es in das kolonialisierte Land. (Spivak 2008b, 57) Scheinbar übernimmt in Centrope Österreich die Rolle des Koloniallandes gegenüber den anderen Ländern, so haben die österreichischen Banken in der Slowakei, in Tschechien und Ungarn einen Großteil der Banken gekauft und im Banken und Versicherungswesen ungeheures Kapital angehäuft.[7] Auch die Klein- und Mittelbetriebe aus Österreich haben sich in Mitteleuropa breitgemacht und sind teilweise zu Großbetrieben geworden. Aber warum hat Österreich soviel an diesen Ländern verdient und so wenig investiert? Es ist natürlich auch ein Kolonialland denkbar, das nur Rohstoffe und Sklaven herausholt, ohne zu investieren. Aber die Ursache liegt woanders. Österreich befand sich vor 1989 in der Rolle eines Landes, das sich um die Investionen des Westens bemühte. Nach der Samtenen Revolution erhielt es auf einmal eine neue ungewohnte Rolle, die es auch bald nicht mehr spielen wird, da die expandierten österreichischen Betriebe von größeren internationalen übernommen werden (siehe Billa von Rewe, die Austria Bank von UniCredit Group). Ein letzter Versuch, sich als Postkolonialherr aufzuspielen, ist der Versuch der ÖMV die ungarische MOL zu übernehmen. So wird Centrope über kurz oder lang eine Region sein, die auf das Kapital von außen angewiesen ist, dass es in Centrope investiert wird. Dann wird es auch viel leichter sein, eine gemeinsame Identität auszubilden. Aber ist es in Zeiten der Globalisierung, angesichts der internationalen Konzerne noch sinnvoll von einzelnen Ländern und nationalen Besitzern zu sprechen? Sind Siemens und Volkswagen wirklich deutsch, Samsung koreanisch und die VOEST österreichisch?[8]

Die Tschechen sehen in Österreich ein mehr oder weniger sozialistisches Land, was wiederum von den Österreichern entweder nicht akzeptiert oder viel häufiger völlig ignoriert wird. Diese Identitätszuschreibungen sind heute nicht mehr möglich, weil sie von den Betroffenen nicht akzeptiert werden, doch werden sie weiterhin durchgeführt und laufen darum ins Leere, wobei sie der Findung einer gemeinsamen Identität penetrant im Wege stehen. Die Identität muss erst bewusst gemacht und herausgearbeitet werden, wobei sie nicht von Außen zugeschrieben oder aufgedrückt werden kann, sondern von jedem Subjekt selbst konstruiert werden muss und so von Innen heraus entsteht. Dies ist das Projekt der nächsten zehn oder zwanzig Jahre, das unverzüglich in Angriff genommen werden muss.

Haben sich die ehemals sozialistischen Länder, in denen Centrope liegt, in den Westen integriert? Dies haben sie zweifellos in vorbildlicher Weise erfüllt, Centrope ist keine Krisenregion und die ehemals sozialistischen Gebiete helfen heute, dass  die westlichen Konzerne und die Klein- und Mittelbetriebe ihr Kapital akkumulieren (VW, Bombardier, Samsung, Peugeot). Doch offensichtlich haben sich die einzelnen Teile Centropes separat in den Westen integriert, sodass sie jetzt wie zufällig nebeneinander liegen. Dies führt dann auch dazu, dass sich jedes Land allein nach Brüssel wendet. Was also aussteht, ist die Integration Centropes. Ein Versuch zu einer mitteleuropäischen Zusammenarbeit stellt die Visegrádgruppe dar, aus der sich aber Österreich immer bewusst herausgehalten und dagegen strategische Partnerschaften vorgeschlagen hat, wo es nur zu offensichtlich war, dass Österreich den Führungsanspruch stellte. Ein andere Versuch war die Zentraleuropäische Initiative, die zwar eine mächtige internationale Organisation geworden ist, aber in der Bevölkerung und in der medialen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird und so scheinbar zu einem sich selbst genügenden Beamtenapparat wird.  

Heute wird niemand, der von Außen kommt, den Centropäer als solchen erkennen und ein Centropäer der sich nach Außen begibt, wird nicht als solcher erkannt, was durchaus im Verhältnis zu den anderen Identitäten von Vorteil ist.[9] Andererseits unterliegt er falschen Zuschreibungen wie „Leute aus dem Osten“ (was innerhalb Österreichs nur auf die Ostösterreicher zutrifft, während die Westslowaken und Westungarn innerhalb ihres Landes Menschen aus dem Westen sind). Das Klischee des Ostens, das es in Österreich gibt, ist eine Metonymie, das was ich selbst bin, schreibe ich dem anderen zu, um mich selbst davon zu befreien. So wünscht sich jeder Ostbajuware ein Westbajuware zu sein oder hält sich sogar dafür und kann von diesem Wunsch nur durch eine neue Identität in Centrope erlöst werden.[10]

Können wir uns diesen falschen Zuschreibungen durch die Annahme einer abstrakten, neutralen und asexuellen Identität entziehen? Im Kontext der politischen Kämpfe wird eine Reflexion der Intellektuellen nicht erwartet bzw. widmet man sich nicht der interkulturellen Reflexion. (Leghissa 2005, 10) Dies verhindert die Entwicklung der neuen Identität in Centrope und lässt befürchten, dass diese Identität, wenn sie sich entwickelt hat, von den Politikern nicht aufgegriffen und vielleicht sogar bekämpft wird, da diese von einem Denken in Wahlkreisen beherrscht sind. Thomas Pynsent spricht davon, dass Identitäten gerade von Dissidenten besonders authentisch vertreten werden und meint dabei Václav Havel. Centrope ist noch zu jung, um die ersten Märtyrer zu haben, aber die Überwindung der nationalstaatlichen Engstirnigkeit wird wahrscheinlich auf hartnäckigen Widerstand stoßen. Die Verquickung von Staatsbürgerschaft und Nation verhindert eigentlich die Annahme und Aneignung der gemeinsamen Identität, sei es in der Slowakei oder in Österreich, in Ungarn oder in Tschechien. Aus diesem Dilemma von Staatsbürgerschaft > Nation > Identität kann eine „global citizenship“ hinausführen. Im Falle von Centrope würde auch eine Citizenship der EU oder eigentlich nur der vier beteiligten Staaten dazu führen. Die Unausweichlichkeit der centropischen Identität zeigt, wenn wir einzelne Konstellationen betrachten. Wenn ich in der Slowakei lebe, soll ich die Identität der Slowakei annehmen, auch wenn ich z.B. ein Ungar bin, darf ich zwar ungarischer Nationalität sein, soll mich aber nicht unbedingt mit dem ungarischen Staat oder der ungarischen Nation identifizieren. Trotzdem bleibe ich ein Ungar in der Slowakei (es sei denn, ich lege alles ab und werde ein hundertprozentiger Slowake), der im Alltag zwar alle Rechte des Staatsbürgers hat, trotzdem sozial, im Berufsleben benachteiligt ist. Auch für die Roma bietet Centrope eine Chance, nicht nur Rassismus und Appartheit zu überwinden, sondern auch ihre Kultur zu entwickeln, ihre Sprache zu kodifizieren und zu unterrichten, nicht nur den Roma, sondern allen Centrope Bewohnern. In Österreich sieht das nicht anders aus. Ein erfolgreich integrierter Türke, der also die Staatsbürgerschaft bekommen hat, soll nun aus diesem Grunde ein Österreicher sein. Die nationale Identität wird ihm also eher aufgezwungen als angeboten, umso besser stärker er sich mit Österreich identifiziert, umso besser für ihn. Das Hereintragen von türkischen Problemen nach Österreich sollte er tunlichst unterlassen. Die Identität Centropes enthält ein evolutionäres Potential, das für die nationalen Politiker sehr störend werden kann und werden muss, wenn der Politiker nicht selbst diese neue Identität verkörpert. Dann finden Parteien, die auf Xenophobie setzen, keine Wähler und eine Politik, die für die „Ängste unserer Bevölkerung Verständnis haben“, wird dann überflüssig, denn diese Ängste wird es dann nachweislich nicht geben, denn der Centropäer, der die verschiedenen alten Identitäten integriert hat, in sich aufgenommen und zu einer neuen Identität umgestaltet hat, müsste dann vor sich selbst Angst haben. Nicht nur in postkolonialen Gesellschaften, sondern in Europa selbst müssen neue Identitäten entwickelt werden, wie es der Fall Centropes nicht besser zeigen könnte. Eine freigewählte Identität kann nur entstehen – und die Centropes kann nur aus einer eigenen Entscheidung kommen – wenn die Rechte für alle Menschen verbürgt sind und nicht nur den Staatsbürgern zustehen. 

Wird die Identität Centropes eine multiple, also eine plurale sein oder eine einheitliche, die sich dann gegen die anderen Identitäten wenden wird; also nicht nur räumlich, sondern in jeder Hinsicht. Also, ein Zusammenschweißen, wie es dem Nationalismus gelingt? Das ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern würde auch einem alten Identitätskonzept entsprechen, das in der Zeit der Globalisierung obsolet geworden ist, obwohl es heute weiterhin sorgsam gepflegt wird. Durch die Realisierung der Identität Centropes, wird eine zeitgemäße Identität in die Tat umgesetzt. Dann wird es nur dann möglich sein, ein Österreicher zu sein, wenn vrouwe/man oder kint auch ein Centropäer ist, dasselbe wird für Kroaten, Polen, Serben, Slowaken, Tschechen, Türken und Ungarn gelten. Die bizarre Auseinandersetzung zwischen Brünn (Brno) und Prag, ob Brünn eine zweite tschechische Metropole sein kann oder nicht, wird dann gegenstandslos, da sich der Brünner in seiner neuen Identität auf Prag genauso bezieht wie auf Budapest und Wien. Wenn sich Brünn heute als Alternative zu Prag sieht, so wird es morgen auch eine zu Budapest und gerade Wien sein. Schon heute ist Brünn im Verlagswesen und in den Printmedien wesentlich stärker als Wien. Dasselbe trifft auch auf die anderen Städte in Centrope zu, so ist Bratislava (Pressburg/Pozsony) als Fernseh- und Filmstadt eine echte Alternative zu Wien. Auch die soziale Bestimmung hört nicht bei Mittelstand, Oberschicht, Proletariat und prekären Intellektuellen auf, sondern zugleich gibt es die gemeinsame Identität in Centrope. Dann können nicht wie heute durch die sogenannten Beschäftigungsfristen die Facharbeiter innerhalb Centropes gegeneinander ausgespielt werden. Der Arbeiter oder Handwerker aus der Slowakei oder aus Tschechien muss im österreichischen Teil als schwarz Arbeitender oder als Scheinselbstständiger seine Haut zu Markte tragen. Dadurch werden die österreichischen Beschäftigten in eine postkoloniale Haltung getrieben und immer mehr Beschäftigte sind nicht mehr wettbewerbsfähig und verschwinden vom Arbeitsmarkt. Dieses führt unmittelbar zu einer Senkung des Bildungsniveaus und der Qualifikation, denn wie soll sich jemand bei der ständigen Jagd nach Arbeit wirklich weiterqualifizieren. Außerdem zieht jede höhere Qualifikation ein Recht auf einen höheren Lohn nach sich, was wiederum die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verringert. Was bedeutet nun das neue Identitätsbewusstsein in Centrope? Streiken die Arbeiter in einem Teil Centropes z.B. die Eisenbahner, dann wird das diesen nicht gleichgültig sein, sondern sie werden sich im besten Fall daran beteiligen. Heute sagen die Eisenbahngewerkschafter, wenn jemand in Centrope streikt, besteht unsere Solidarität darin, dass wir nicht mit unseren Zügen dort hinfahren. Die Medien vermeiden nach Möglichkeit von solchen Streiks zu berichten, da es noch kein Identitätsbewusstsein von Centrope gibt. Da der identitätsbewusste Centropäer über die entsprechenden Sprachkenntnisse verfügen wird und über das Internet Zugang zu allen Medien in Centrope hat, kann er sich rechtzeitig informieren und zeitgerecht handeln. Dies wird dann entweder zu einer entsprechenden Bewegung am Medienmarkt führen, sodass Medien, die nur über einen Ausschnitt der Welt berichten, nicht mehr gekauft werden, oder zu einer grundlegenden Umgestaltung der Medien. Die neue Identität wird dazu führen, dass niemand eine Initiative unterstützen wird, wenn die Facharbeiter schlecht ausgebildet sind, die z.B. nur slowakische Arbeiter besser qualifiziert.

Die neue Identität entsteht dadurch, dass das Andere in seine Welt («свой мир») einbricht, in unsere Semiosphäre, sei es die slowakische, ungarische,[11] tschechische in die österreichische, sei es die slowakische in die ungarische oder die österreichische wiederum in die slowakische, ungarische und tschechische Semiosphäre. Dieses Einbrechen ist sozial konnotiert, sind es in Österreich die slowakischen Pflegerinnen, so sind es in der Slowakei, in Ungarn und Tschechien die österreichischen Banken und Unternehmer.[12] Dabei ist dieses Einbrechen an sich nichts neues, sondern stellt einen früheren Zustand, der bis 1918 existierte, wieder her. Trotzdem ist die Semiosphäre, die bis vor 1918 eine gewesen ist, doch eine ganz andere, als die, die seit 1989 entsteht. Diese Differenz zu beschreiben, ist die Aufgabe dieser Studie. So ist gerade die Philosophie[13] von dem Wunsch erfüllt, ein neues Instrumentarium ins Treffen zu führen, um dieses Andere, seine Stimme aufzunehmen, um den Gegensatz zwischen „чужой“ und „свой“ aufzuheben, um das Fremde, das eigentlich schon einmal Dagewesene, zum Eigenen werden zu lassen. Darum muss ein radikaler Schritt getan werden, um hier im Kleinen ein globales Neuüberdenken der philosophischen Probleme in einer kulturellen Perspektive zu vollziehen. (s. Leghissa 2005, 17) Dies erlaubt ein globales Neudurchdenken des Verhältnisses von Philosophie und westlicher Tradition, es erlaubt auch das Fragen nach der privilegierten Natur dieses Verhältnisses. (s. auch Chen 2006, 12) Geht die Schaffung einer neuen Identität von der österreichischen Seite in erster Linie von den Unternehmern aus, so treiben die Bildung der neuen Identität von slowakischer und ungarischer Seite eher die Unselbstständigen und Scheinselbstständigen voran. In Südmähren bezieht sich die neue Identität weniger auf die anderen Teile Centropes als auf die Ausbildung eines eigenen regionalen Selbstbewusstseins im Gegensatz zu Prag.[14] Dies schließt jedoch den Einbruch, das Eindringen österreichischer Unternehmen/er nicht aus, sodass allgemein die Ausbildung eines Centropebewusstseins zu einer sozial und klassenbedingten gespaltenen Einstellung führt. Unterstützt in Österreich die sogenannte Wirtschaft, also ein wesentlicher Teil der Oberschicht diesen Prozess, wird er von slowakischer und ungarischer Seite, aber auch von den Migranten in ganz Centrope, von den Machtlosen unterstützt.[15]

Ist es nun so, dass in jedem Individuum in Centrope eine virtuelle Plurikulturalität schlummert, wie Chen behauptet? (Chen 2006, 17) Dies würde für Centrope große Hoffnungen wecken und aus diesem Grunde greifen wir auch auf diesen jungen Philosophen zurück, weil er geradezu ein Konzept für Centrope entwirft. Bisher scheint der Mensch in Centrope noch nicht für alle Kulturen empfänglich zu sein und es ist nur eine Avantgarde im kulturellen Sinne, die diese Haltung einnimmt.

Jeder Gesprächsteilnehmer sollte bei dem anderen in diesem neuen Raum der Identität voraussetzen, dass dieser über einen wahren Diskurs verfügt, wie er selbst. Dies setzt zuerst und vor allem voraus, dass sie dieselbe Sprache sprechen. Die Sprechenden sollten in der Lage sein, Meinungen, Überzeugungen, Positionen, Lebenseinstellungen auszudrücken, die unabhängig von ihnen existieren. Dies öffnet nun Stereotypen Tür und Tor, wenn die Sprechenden nicht fähig oder willens sind, diese loci cummuni zu überprüfen. (s. Leghissa 2005, 24) Gibt es überhaupt die Endoxa als herrschenden öffentlichen Bedeutungs- und Auslegungshorizont einer kulturellen Handlungswirklichkeit, einen gemeinsamen kulturellen Wissensbereich, in Centrope? Offensichtlich gibt es diese nicht und es ist eine Aufgabe der Identitätsfindung diese herauszubilden; die Medien nehmen in Centrope nicht ihre Funktion war, ein Diskussions- und Diskursforum zu sein, sondern bilden partikulare Öffentlichkeiten heraus, die sich gegenseitig nicht wahrnehmen, wodurch eine recht bizarre Situation entsteht. Es herrschen in den einzelnen Öffentlichkeiten Überzeugungen, die von den anderen überhaupt nicht geteilt werden. Es werden auch parallel öffentliche Diskussionen über dasselbe Thema geführt, ohne das es die einzelnen sich selbst genügenden Gesellschaften bemerken.

So sind die herrschenden Ideen, die allgemein akzeptierten Überzeugungen äußerst widersprüchlich, sodass ein gemeinsamer Diskurs in Centrope erst hergestellt werden muss, der – und das ist gerade das interessante daran – nicht der mainstream sein kann, da dieser schon existiert. Kann es verhindert werden, dass dieser Diskurs wieder die Ideen und Überzeugungen der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie sind? (s. Bauer 1975, 100) Da stellt sich die interessante Frage, ob sich in Centrope seit 1989 überhaupt eine Bourgeoisie herausgebildet hat.

Die Freiheit des Individuums wird nach Bataille nicht nur durch die Freiheit der anderen eingeschränkt, sondern durch die Grenzen des Volkes. (Bataille 2005, 17) Aber auch Chen und Paić meinen, dass sich eine Kultur nicht in die Grenzen einer Nation oder Gesellschaft zwingen lässt. (Paić 2005, 50) Diese Grenze werden aber durch die künftige Identität Centropes gesprengt  und die partikularen Öffentlichkeiten aufgelöst. Erst dann kann eine Endoxa entwickelt werden, wenn alle in Centrope ein Interesse haben, in ihrem Denken von gemeinsamen Prämissen auszugehen. Nicht die Differenzen sind Grenzen, sondern durch die Differenzen der Kulturen entstehen die Grenzen des Volkes, die Grenzen der Semiosphäre, durch sie werden Übersetzungsmechanismen in Gang gesetzt. Würde vrouwe/man diesseits und jenseits Grenzen nur das Verbindende, das Gemeinsame, das Gleiche, die Invarianten suchen und finden, käme es zu keiner Übersetzung und damit auch nicht zu neuem Wissen und zur Akkumulation neuen Wissens. Das Wissen entsteht nur, wenn es versucht an dem Anderen teilzunehmen. Dies ist eine Erfahrung, die tagtäglich in Centrope gemacht wird oder auch versäumt wird. (s. Leghissa 2005, 53)

Unlängst hat Václav Bělohradský ein Buch über das Unwohlsein, den Ekel in und an der Globalisierung herausgebracht. (Bělohradský  2007) Die Unbestimmtheit der Freiheit des Subjektes oder des Akteurs in der kosmopolitischen Zivilgesellschaft ist nur die andere Seite des Unwohlseins (nevolnost) in der Globalisierung. (Paić 2005, 58)

Wenn wir in den Kulturen, an denen Centrope Anteil hat, Invarianten finden, können wir nicht dabei stehen bleiben, diese festzustellen, wie Chen ganz richtig sagt,[16] sondern müssen danach fragen, worin sie sich doch von einander unterscheiden, und das können wir nur, wenn wir nach ihrem Hintergrund fragen, der in den einzelnen Fällen, Kulturen, Semiosphären ein anderer ist. Darin liegt das Wesen der interkulturellen Philosophie. (Leghissa 2005, 26) Auf diesem Hintergrund wird die Theorie aufgebaut, was sich grundsätzlich von der Überbautheorie des dialektischen Materialismus unterscheidet; wobei es sowohl um eine Frage nach dem Hintergrund, um ein Erforschen geht, als auch um ein Infragestellen des eigenen Hintergrundes. Auf diese Weise wird der in der politischen Alltagssprache heute so häufig genannte migrantische Hintergrund zu einer praktischen Herausforderung, denn im politischen Alltag ist heute der migrantische Hintergrund eher etwas Dunkles, Verdächtiges und nicht etwas, was man erleben und selbst nachvollziehen soll, um seine eigene Identität zu bereichern und um die Identität Centropes zu erweitern. Wenn in den letzten Jahren eine nicht geringe Anzahl Tschetschenen nach Centrope gekommen sind, so steht der Bewohner in Centrope vor der Aufgabe diesen Hintergrund aufzuarbeiten und in seine Identität zu integrieren.[17]

Die Entwicklung der Identität Centropes tritt aber nicht mit dem Anspruch einer universellen Gültigkeit auf, sondern lässt nur die Möglichkeit offen, ein Beispiel zu sein, für ähnliche Identitätsbildungen, die der Keim für eine europäische Identität sein können. Leghissa weist darauf hin, dass es ausreicht, die Aufmerksamkeit auf die Zeckmäßigkeit zu richten, die Handlungen in den Systemen des Glaubens und der Theorie des ethisch normativen Typs nicht als Krankheit der philosophischen Sprache abzutun. (Leghissa 2005, 27)

In dem Zustand, in dem Stadium, in dem sich Centrope jetzt am Anfang des dritten Jahrtausend befindet, kann es keinen Diskurs im Sinne der interkulturellen Philosophie geben, denn die diskursive Praxis geht immer aus einer institutionalisierten linguistischen Gemeinschaft hervor und ist für diskursive Praktiken, die das Funktionieren anderer Institutionen bestimmen und reglementieren, undurchlässig.[18] Dieser Diskurs wird erst möglich sein, wenn sich Centrope als eine linguistische Gemeinschaft konsolidiert hat, wenn es eine gemeinsame Sprache gefunden hat, sei dies eine natürliche Sprache oder sei es, dass die Gemeinschaft über mehrere natürliche Sprachen gemeinsam verfügt. (s. Leghissa 2005, 27) Die Institutionen (Schulen, Hochschulen, Massenmedien, kulturelle Institutionen, Kirchen), die die Identität bilden sind in einer Gramcsischen Lesart die Hegemonieapparate der bürgerlichen Gesellschaft. (Albers 1983, 41)

Die Institution ist im weiteren Sinne eine sozial legitimierte Gruppe; also auch die, deren Legitimation nachträglich infrage gestellt wird und bald darauf nicht mehr denkbar ist oder auch die, die heute noch nicht denkbar ist oder allgemeiner gesagt vorher nicht denkbar ist. So waren das Kaisertum Napoleons, Konzentrationslager, und Guantanamo erst nicht denkbar und wurden später sozial akzeptiert und legitimiert, um später diese Legitimation wieder zu verlieren. Ja später wird diese Akzeptanz oder sogar ihre Existenz bestritten. Aber dies sollte nicht nur in die Richtung der Bedrohung gehen, was alles Furchtbares auf uns zukommen kann und sozial legitimiert wird, sondern auch auf neue befreiende Institutionen gerichtet sein. z. B. ein Gesundheitssystem, das von allen finanziert wird und allen zugänglich ist, wo die Großverdiener die Gesundheit der Kleinverdiener garantieren.

Bisher ist Centrope durch die Willenserklärung von Kittsee (declaration, prohlášení, prehlásenie, nyilatkozat) legitimiert, was eine verhältnismäßig schwache Grundlage ist. Eine weitere Legitimation entsteht aus der Förderung durch die Europäische Kommission. Aber es gibt bisher keinerlei demokratische Legitimierung und in der Bevölkerung, also bei denen, die Centrope aufbauen sollen, ist Centrope so unbekannt, dass es beinahe verdächtig ist. Centrope ist eine Institution, die wiederum zahlreiche weitere hervorrufen wird und hervorrufen muss. Ob dies zu den bedrohlichen oder den glückverheißenden Aussichten gehört, sei dahin gestellt. Diese Institution werden notgedrungen mit den nationalen in einer ständigen Auseinandersetzung stehen, um die nationalen Forderungen und Bedürfnisse in übernationale zu transformieren. Dadurch werden im Kleinen Institutionen europäischer Dimension aufgebaut, wie dies auch in anderen Europaregionen (Benelux, Alpen-Adria) passiert, die die antagonistischen nationalen Interessen überwinden. Das heißt, Centrope kommt dann eine Rolle der Vermittlung zwischen den nationalen Institutionen zu. z.B. gibt es im Moment eine Schulreform in Österreich und in der Slowakei, in Tschechien wurde gerade eine durchgeführt. Nur die slowakischen Institutionen setzen sich mit den Erfahrungen der tschechischen Reform auseinander. Die anderen Länder arbeiten (natürlich schaut die österreichische Ministerin nach Finnland) allein auf sich selbst gestützt, so als ob die Arbeitskräfte von morgen sich an die Grenzen von heute halten würden.

Nun zu der Rolle der Universitäten und Akademien, die daran besteht, das Wissen[19] zu kanonisieren, auszuarbeiten und zu archivieren (Leghissa 2005, 28), so ist das Kanonisieren zweifellos in Centrope nicht abgeschlossen und auf manchen Gebieten noch nicht einmal begonnen. Es kann natürlich gefragt werden, ob das Kanonisieren überhaupt notwendig ist, wo doch Freud und Jakobson, beide wirkten auf dem Boden Centropes, bereit waren, auf dieses kanonisierte Wissen, das in universitären und staatlichen Institutionen zu Hause ist, zu verzichten. (Hansen-Löve// Jakobson 2007, 3) Dieses Kanonisieren kann auch erst einsetzen, wenn sich eine Endoxa ausgebildet hat, die jedoch ebenso aus dem Kanonisieren besteht, das kanonisiertes Wissen, das nur partielle Gültigkeit besitzt, entkanonisiert wird. Für alle, die sich diesem Prozess der Identitätsbildung nicht anschließen, wird eine große Verunsicherung ausbrechen, da sie keine wahren Aussagen mehr treffen können und selbst mit Aussagen konfrontiert sind, die ihrer Meinung nach keinen doxastischen Charakter tragen.

Was heißt das rearrangement of desire in der Unterrichtssituation. (Spivak 2008, 3) Die Bedürfnisse der Schüler und Studenten sollen nicht mehr unterdrückt werden. So sollen sie ihre Sprachkenntnisse nicht unterdrücken und verlieren, wie es heute in Centrope der Fall ist. Bestimmte Schultypen, aber auch Studien sind eher restriktiv und verhindern die Bildung. Durch das Überschreiten der Grenzen werden neue Bedürfnisse geweckt: neue Sprachen zu erlernen, neues Radio zu hören und neues Fernsehen zu sehen, neue Musik zu hören, neue Landschaften und Sehenswürdigkeiten kennenzulernen und neue Literaturen zu entdecken. Auf die Rolle der Literatur weist Spivak extra hin, was auch nicht wundert, da sie wie Bhabha von der Vergleichenden Literaturwissenschaft kommt. (Spivak 2008, 4) Durch die postcolonial studies ist die allgemeine Literaturwissenschaft überhaupt stärker in das Zentrum der Kulturwissenschaften gerückt. Sind die Lehrer und Hochschullehrer durch diese neuen Bedürfnisse überfordert und können sie die Schüler und Studenten nur repressiv auf ihr Niveau herabziehen oder noch tiefer? z.B. Schüler aus Znojmo (Znaim) möchten mehr die ungarische Geschichte wissen. Die betreffende Schule kann einen Geschichtslehrer aus Ungarn anheuern, nur muss dieser schon vorher so gut Tschechisch gelernt haben, dass er das den Schülern in Znaim vermitteln kann. Oder eine Schule in Meidling will so guten Mathematikunterricht wie in Petržalka (Engerau/ Ligetfalu), doch muss der Mathematiklehrer aus Engerau schon entsprechend gut Deutsch können. Um dieses rearrangement of desire zu realisieren, muss ein entsprechendes Bildungsprogramm vorbereitet werden.

Was nach Bhabha innovativ ist, über die ursprünglichen Denkmuster hinauszugehen und die kulturel

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