Zwischen Schriftstellerischer Botschaft und Tabuisierung

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ZWISCHEN SCHRIFTSTELLERISCHER BOTSCHAFT UND TABUISIERUNG

(Zur Gestaltpoetik von Tibor Déry)

Endre Kiss, Budapest

Tibor Déry’s Der unvollendete Satz gilt als ein polyhistorischer Roman, dessen polyhistorischer Charakter zur gleichen Zeit transparent und verdeckt ist, während er dem Begriff dieser Romangattung trotzdem voll entspricht. Strukturell und demnach wahrnehmungsästhetisch lässt sich aussagen, dass Dérys Romankorpus „sachlicher” (stilmäßig gesagt: „neusachlicher”) als der idealtypische polyhistorische Roman ist, allgemein wahrnehmungsästhetisch bedeutet es, dass der Leser diesen Roman etwas „realistischer” als die klassischen polyhistorischen Romane erleben kann.

Mit voller Bewusstheit nimmt Déry in sein Romankonzept den umfas-senden politischen Kampf auf, der - auch als Klassenkampf kategorisiert – das Ungarn der Zwischenkriegszeit in zwei Teile spaltete. Von der Nähe gesehen ging es soziologisch nicht ganz um den klassischen Klassen-kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sondern zwischen einer auf freie Selbstentfaltung gerichteten gesellschaftlichen Aktivität und auf der einen Seite eines politischen Establishments und andererseits einer mächti-gen illegalen politischen Partei.

Die Thematisierung des politischen Elementes bedeutete eher einen relativen und nicht einen absoluten Unterschied zum klassischen Idealtypus des polyhistorischen Romans, denn auch dieser hat diese bestimmende politische Realität nicht ganz außer acht lassen können. Dieser relative Unterschied wird gerade in Dérys Fall durch einen Gang ins Absolute wieder im Relativen ankommen. Wir sehen, wie gerade das für den polyhistorischen Roman so charakteristische Motiv des Schlafwandelns im Roman sukzessive in die Domäne des rein Politischen hineinsickert und sie dann wie von innen auch transformiert.

Déry übernimmt auch diejenige Eigenschaft des polyhistorischen Ro-mandichters, dass er auch romantheoretische Reflexionen in den eigenen Texte hineinwebt. Das Ironische daran ist, dass dieser Roman nicht nur generell als ein realistischer gelesen worden ist, sondern sein „Realismus” im Laufe der stalinistischen Diskussion eben als ein „nicht richtiger” Re-alismus be- und verurteilt wurde. Wir können es für sicher halten, dass die Textur dieses Romans von vielen wachen Augen extrem gründlich durchgelesen worden ist. Um so charakteristischer ist es für die herme-neutisch-wissenssoziologisch fixierten Lesarten und Leserperspektíven, dass niemand in den früheren romantheoretischen Diskussionen auf jene Texte aufmerksam geworden ist, die im Rahmen der Konstituierung ei-nes polyhistorischen Romans auf die Möglichkeit einer Totalitaet im Kunstwerk gerichtet worden sind.

Kein Zweifel, Déry’s Hinwendung zu einer mehrheitlich polyhistorischen Romankonzeption ist die Folge eines konkreten historischen Augenblicks, der auch mit den Hauptkapiteln der europaeischen Geschichte und der psychologischen Entwicklung des Autors gleicherweise am engsten verbunden ist. Auch Déry möchte durch die Gattung des polyhistorischen Romans eine neue Einheit und Totalitaet schaffen. Unter der Suggestion dieses historischen Augenblicks interpretiert er aber das Moment des schriftstellerischen Allwissens, der narratíven Instrumentalisierung der philosophisch-theoretischen Elemente anders als sein zeitweiliger Meister Hermann Broch. Er bringt also eine andere Art derselben Gattung zur Welt, was aber stillschweigend auch schon von einem einmaligen Konzept so eines singulaeren Romansprojektes stillschweigend jederzeit toleriert, wenn nicht eben erwartet wurde.

Déry formuliert sein schriftstellerisches Grundprinzip von einem Ganzen, das nur durch die einzelnen Teile zusammengesetzt werden kann, wobei das Element des Schlafwandelns und die fast anarchistisch willkürlich anmutende schriftstellerische Narration die notwendige und suggestive Einheit unter diesen Teilen herbeischafft.

Déry will seine neue Totalitaet durch Relativierung von anderen Totalitaetskonzepten verwirklichen. Darüber hinaus, dass saemtliche realisierte Konzepte dieser Gattung als je eine konkrete Relativierung des klassischen Idealtypus aufgefasst werden können, fiel die neue Suggestion eines polyhistorischen Romankonzeptes für Déry insofern mit seinem Entwicklungsweg zusammen, dass für den seine avantgardistische Phase gerade erst hinter sich lassende Dichter ein akkurat auszuarbeitendes Ganzes schriftstellerisch noch nicht möglich (und sicherlich auch nicht erwünscht) gewesen sein dürfte.

Dieses modifizierte Konzept des polyhistorischen Romans erweis sich als faehig, die politische Thematik transparent als politische Thematik in sich aufzunehmen. Es ist sicherlich nicht so, dass diese Aufnahmefaehigkeit einzig wegen dieses Grundprinzips („das Ganze wird durch die Teile zu einem Ganzen”) möglich wurde. Es ist aber sicherlich so, dass diese Architektonik gerade durch ihre Offenheit und durch die nicht alles bestimmende Macht der Romanstruktur die Lebenswelt des Politischen viel einfacher und viel selbstverstaendlicher in sich aufnehmen konnte als der klassische Idealtyp des polyhistorischen Romans. Auf seine Weise hat auch Déry das Politische im Roman transformiert.

Gerade diese Zwischenstellung zwischen grossen Romanmodellen ist es, was die Gestaltpoetik und die Praxis der Namensgebung in diesem Werk bestimmt. Polyhistorische Romane haben sowohl in der Gestaltpoetik wie auch in der Namensgebung das Exemplarische und das Allgemeine zum Ausdruck zu bringen. Die politische Thematik verlangt jedoch andere Prinzipien in der Gestaltpoetik und der Namensgebung. Dieses Element involviert aber auch schon in die Analyse diejenige von Déry’s zweitem grossen Roman (Antwort).

Im Kontext der Romanliteratur und der Romanpoetik des zwanzigsten Jahrhunderts spielen in der Gestaltpoetik und der Namensgebung der einzelnen dargestellten Gestalten drei grundsaetzliche Prinzipien eine Rolle. Zuerst ist es die Psychologie (ganz allgemein gesehen die psychologisch be-stimmten und vor allem psychologisch integrierten Evidenzvorstellungen des Autors bei der Konzipierung einer konkreten Romangestalt, auch die unbewussten Motivationen miteinbegriffen). Das zweite Prinzip entsteht durch die Integration von zahlreichen Inhalten und Motivationen der schriftstellerischen Botschaft (auch zweigeteilt in bewusst-rationale und unbewusste Elemente). Als drittes Prinzip kommt zu diesen die Integra-tion jener eben in Geltung seienden, zum Teil auch ewigen sozialen und politischen Tabus, die als funktionierende soziale Zwaenge die Darstel-lung gewisser Gestalten, gewisser Namen oder gewisser Erscheinungen in einem konkreten Wert durch die Kraft der gültigen Tabus einfach aus-schliessen. Selbst Tabus mögen dem Dichter bewusst, aber auch unbe-wusst vorkommen, sie beeinflussen die dichteriche Arbeit und in dieser Funktion müssen sie dem Autor nicht unbedingt jederzeit im Bewusst-sein praesent sein.

Unter der Geltung des psychologischen Aspektes verstehen wir die psycho-logische Integrationsarbeit des Schriftstellers, der es manchmal als „Zwang”, manchmal als „optimale Lösung” erlebt, eine konkrete Gestalt auf eine konkrete Weise zu gestalten und in einer Relation des Geradeso-seins und des Nichtandersseins Eigenschaften und Charakterzüge von le-bendigen Personen reflektiert, übernimmt und transformiert. Es gilt so-wohl für die Gestaltpoetik im Allgemeinen wie auch die Namensgebung im Konkreten. Diese psychologische Dimension besteht aus rationalen und nicht-rationalen Elementen, aus Diskursivitaet und Emotion, einen Teil von ihr kann der Schriftsteller jederzeit problemlos kommunizieren und en anderes Teil mag vor ihm selber auch verborgen bleiben. Es kann vorkommen, dass ein Name soziologisch oder historisch den schriftstel-lerischen Intentionen entspricht, solange er aber die schriftstellerische Erwartung nach innerer Evidenz nicht erfüllt, wird sich ein Schrifststeller nicht in der Lage sein, diesen Namen mit einer Romangestalt endgültig zu verbinden. Die Literaturgeschichtsschreibung versieht uns mit hun-derten, wenn nicht eben mit tausenden von Beispielen für diese Versio-nen. Diese Komponenten bewirken, dass die konkreten Entscheidungen der Gestaltpoetik und der Namensgebung wegen ihrer extremen Kom-plexitat und der ebenfalls extremen Diversitaet ihrer Elemente nie ganz adaequat rekonstruierbar werden können. Dieses Faktum darf aber nie-manden davor zurückhalten, jedes einzelne wichtig scheinendes Moment in diesen Zusammenhaengen zu sichten und diese Momente mit der ge-suchten Botschaft des untersuchten Werkes in Verbindung zu bringen.

Die genannte zweite, schon deutlich bewusstere Komponente der Ges-taltpoetik, bzw. Namensgebung ist der Bereich der schriftstellerischen Botschaft. Die (Gesamt)Botschaft eines Werkes wird als die Summe und Synergetik von allem Momenten eines Werkes realisiert. Es ist jedoch methodolo-gisch auch nicht ganz unmöglich zu sagen, die Botschaft eines Werkes setzt sich aus den vielfaeltigen Botschaften der einzelnen Gestalten zu-sammen. Das laesst sich deshalb sagen, weil die einzelnen Gestalten schon in sich als Schnitt- und Integrationspunkte der Botschaft des ganzen Werkes sind. Die von den einzelnen Romangestalten getragene Botschaft wird aber von der Namensgebung in grossem Masse bestimmt. Vom Phae-nomen der Sprachmagie des sprachlichen Zaubers bis etwa zu den kulti-schen Restphaenomenen der Namensgebung in den Familien zieht sich der ganze Bogen, der das komplexe System von Beziehungen zwischen Namens-gebung und Identitaet in jedem Zusammenhang markiert. Diese Komplexi-taet in ihrer jeweiligen aktuellen Realisierung macht die Eigenart von Kulturen und Subkulturen aus.

Die Welt der Namen hat eine Ordnung in Gesellschaft und Geschichte. Ein Ro-man muss auch dieser Ordnung folgen, auch wenn er einen freien Raum dabei hat und seine Kunst darin besteht, diesen freien Raum mit eigenen Botschaften auszufüllen.

Im Verhaeltnis zu dieser „Ordnung der Namen” laesst sich der relevante Unterschied zwischen dem klassischen und dem von Déry realisierten polyhistorischen Roman klar machen. Waehrend der klassische polyhis-torische Roman seine neuen Botschaften (und in diesem Faellen geht es um literarisch gesehen „abstrakten” Botschaften, die ihre eigene Heuris-tik tragen und realisieren) mit einer Gestaltpoetik und Namensgebung von hohem Freiheitsgrade verwirklichen kann, findet sich der von Déry modifizierte und dem traditionellen realistischen Roman auch ungewollt naeher gerückte polyhistorische Roman schon grösseren Schwierigkeiten konfrontiert. Gerade im Umfeld der schriftstellerischen Botschaft kommt der zweifache Charakter (rational-diskursiv, aber auch emotional-unbewusst) der Gestaltpoetik, bzw. der schriftstellerischen Namensgebung zur Geltung.

Die Situierung einer literarischen Gestalt in den Raeumen der Universali-taet und der Partikularitaet, des Symbolischen und des Trivialen, des Sozial-Konkreten und des Sozial-Abstrakten haengt in grossem Masse von der Gestaltpoetik und innerhalb derer von der Namensgebung ab. Die ganze Botschaft eines Werkes kann von diesen Aktionen verstaerkt, oder aber missgeleitet werden. Die soziale Identitaet (auch im Sinne von Erich Auerbach), bzw. das soziale Umfeld eines konkreten Protagonisten wird von einer falsch ge-waehlten und von der Gemeinschaft der Leser nicht bestaetigten Na-mensgebung unglaubwürdig. Die wahre Verbindung besteht zwischen der schriftstellerischen Absicht (der beabsichtigten Botschaft) und der tatsaechlich realisierten Botschaft. Keiner dieser Endpunkte kann voll aufgezeigt, geschweige denn voll verbalisiert werden. Trotz dem den spezifisch aesthetischen Charakter ausmachenden Zug der Nichtredu-zierbarkeit und Nichtverbalisierbarkeit besteht jedoch der Zusammen-hang zwischen schriftstellerischer Absicht und realisierter Botschaft un-veraendert.

Neben den umfassenden Bereichen der Psychologie und der schriftstel-lerischen Botschaft wird die Gestaltpoetik und Namensgebung im mo-dernen Roman auch von der Existenz und Geltung von sozialen Tabus be-stimmt. Die Problematik der Tabuisierung in der Gestaltpoetik schafft realisierte Interdisziplinaritaet. Sie schaltet die Literaturgeschichte, aber auch die Literaturtheorie ohne Schwierigkeiten in die breiteren Kontexte von der Sozialontologie, Anthropologie oder einfach der Soziologie oder Ethnographie ein. Auch die moderne Gesellschaft ist voll von Tabus, die

nicht jederzeit wahrgenommen und erlebt werden, denn sie sind in vielen Faellen hinter der Sozialisation, den nicht mehr hinterfragten sozialen Verhaltensregeln oder der ebenfalls nicht mehr reflektierten sozialen Normalitaet versteckt. Neben diesen nur selten erlebten und bewusst gemachten Tabus existieren auch offene soziale, sogar politische Verbo-te. Selbst diese offenen und expliziten Tabus und Verbote werden des öfteren nicht (mehr) als solche erlebt, weil wir die sozialen Verhaeltnisse gene-rell für sehr veraenderbar ansehen und deshalb auch selbst wirkliche Tabus und Verbote nicht mehr in ihren strukturell „absoluten” Position wahrnehmen.

Jener moderne Autor, der aus gestaltpoetischer Notwendigkeit gezwun-gen wird, seinen Gestalten im Roman je einen konkreten Namen zu ge-ben, wird die Macht der politischen und sozialen Tabus an seinem eige-nen Leibe erleben. Es gibt jederzeit direkt zensurale Fragen, auch wenn man sich nicht klar macht, dass solche Regulationen auch in den moder-nen Jahrzehnten existieren. Es gab und gibt ferner auch eher verdeckte Möglichkeiten von Tabubildungen. Und es werden von

Zeit zu Zeit auch neue Tabus erzeugt, wie die Diskussion um Mohammed als Karikatur oder als Spielbeerchen heute eines der aktuellesten Phaenome-ne der globalen Weltgesellschaft ausmacht.

Der Schriftsteller muss sich in jedem historischen Zeitalter damit ausei-nandersetzen, dass die öffentlich zu nennenden und die öffentlich zu niederschreibenden Namen bis zu einem gewissen Grade avant la lettre reguliert sind. Die Namen haben eine Ordnung und diese Ordnung ist in den sich stets wechselnden sozialen und politischen Verhaeltnissen verankert. Selbst zwischen den öffentlich auszusprechenden und den öffentlich niederzuschreibenden Namen gibt es manchmal einen Unterschied. Es zeigt die Tatsache, dass in manchen Laendern der Rundfunk weniger stark als die Produkte der gedruckten Presse kontrolliert werden.

In einem ungarischen Kabarett war der laut ausgesagte Name „Mátyás” imstande, im Nu eine Mischung von Angst und Heiterkeit herbeizufüh-ren, auch wenn es nicht explizit um Mátyás Rákosi, sondern um Mátyás (Matthias) Rex, also Mátyás Corvinus ging. Die Tatsache, dass der im Schauprozess verurteilte László Rajk einen Namen trug, der einer verun-garisierten Form von Reich gelesen werden konnte, gab reichlich Vermu-tungen Nahrung, wonach das Opfer dieses grössten politischen Prozes-ses in Ungarn von jüdischer Herkunft war. In viel kleinerem Ausmass wiederholte es sich auch im Falle des Mitte der achtziger Jahre zur Macht gekommenen Ministerpraesidenten Károly Grósz. Es war ferner auch ei-ne nicht gerade belanglose Tatsache, dass der in Ungarn in der Über-gangszeit zum Ruhm gekommene Schriftsteller eben Esterházy hiess, was unter anderen auch als ein Signal interpretiert werden konnte, dass ein weiterer Tabu aufgehoben ist.

Diese drei umfassendste Komponenten der schriftstellerischen Gestalt-poetik und Namensgebung stehen nicht nur in den engsten konkreten Beziehungen zueinander, sie können auch gegen einander gerichtet sein (etwa: die ursprüngliche psychologische Evidenz kann wegen eines gültigen Tabus nicht verwirklicht werden, demzufolge die schriftstellerische Bot-schaft modifiziert wird ).

Angesichts der Ganzheit der ungarischen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts sind die Bereiche der Aristokratie und des Adels in der Gestaltpoetik und Namensgebung am wenigsten problematisch. Gestal-ten und Namen etwa wie bei Dezső Kosztolányi Kornél Vízy und Ákos Vajkay oder bei Mihály Babits eine Gestalt mit dem Namen Imre Sátordy lassen im Umfeld von Psychologie, Botschaft und Tabu(isierung) keine nennenswerten Probleme aufkommen. Ein im wesentlichen ebenfalls problemloses soziales Feld stellt das Milieu der Arbeiter und der Bauern-schaft (da „hilft” auf eine wirklich paradoxe Weise auch das ursprünglich nicht unproblematische Moment, dass für Gestaltpoetik und Namensge-bung dieser sozialen Gruppen eine Reihe von Vorformen, Traditionen, wenn eben nicht gerade Klischees schon zur Verfügung stehen).

Eine sehr intensive schriftstellerische Anstrengung verlangen aber die Mittelschichten. Es kommt daher, dass diese Mittelschichten die verschie-denste Genealogie, den verschiedensten Berufshintergrund, je ein eigenes soziales Schicksal, andere historische Erlebensformen und dazu noch auch einen sehr bunten und vielfaeltigen ethnischen Hintergrund (vom Jüdischen bis zu den zahlreichen nicht-ungarischen Nationalitaeten in der ehemaligen zweiten Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Mo-narchie) aufweisen. Gerade als Mittelschichten öffneten sie sich aber in den von Déry beschriebenen Jahrzehnten schon sowohl vor dem mögli-chen freien Intellektuellendasein, wie auch vor dem in diesen Jahrzehnten das ganze politischen Feld beherrschenden politischen Engagement. Auf diese Weise entstanden solche bürgerlichen Grossfamilien, in denen die Narrativen wie die der Familie Parczen-Nagy wie natürlich, wenn nicht selbstverstaendlich vorgekommen sind. Zu diesen Kriterien gehörte noch – ebenfalls selbstverstaendlich – die aktuelle finanzielle Lage der Familie und in ihr diejenige der einzelnen Mitglieder.

In der konkreten schriftstellerischen Arbeit schlagen sich konkrete sozia-le Prozesse und Verhaeltnisse nieder. Von der einen Seite her hat der Schriftsteller die Schwierigkeit, seine Gestalt in jenen Teil des sozialen Raumes zu placieren, wo sie der schriftstellerischen Botschaft tatsaech-lich dienen kann. Die jüdischen Wurzeln der Familie Parzen-Nagy dürf-ten verschwiegen oder nicht verschwiegen werden, darüber war damals kein Tabu angehaengt. Darüber urteilt zu Déry’s Zeit allein die schrift-stellerische Botschaft. Will der Schriftsteller eine jüdische Familie darstel-len, die auch allgemeine Züge der Mittelklasse in diesem konkreten Zeit-raum darstellt, so muss er sich damit auseinandersetzen, dass er diese Familie doch nicht explizit als eine jüdische darstellt, weil diese Vorstel-lung würde seinem ganzen Roman (seiner ganzen Botschaft) die erfor-derte und erwartete Allgemeingültigkeit (und dabei denken wir nicht an die philosophische Allgemeingültigkeit eines klassischen polyhistorischen Romans) nehmen. Die gestaltpoetische und namensgebende Wahl des Schriftstellers erfolgt aus einer Logik der Botschaft. Denke man nur dar-an, dass die von vielen Kritikern und Literaturhistorikern als evident jü-disch angesehene Familie Parczen-Nagy im Text selber kaum je in irgend einer Hinsicht jüdisch erkennbar gemacht wird, in manchen eher peri-pheren Stellen sogar noch schwache Spuren eines kleinbürgerlichen An-tisemitismus vernehmbar werden.

Mit seiner endlich realisierten Lösung gewinnt Déry er die von ihm er-wünschte bürgerlich-bourgeoise Allgemeingültigkeit, verliert jedoch die Farbe, dass diese „allgemein” bürgerliche-bourgeoise Familie eben eine jüdische ist. Mit der anderen Lösung haette er allerdings die erwünschte typische Beschaffenheit dieser Familie von Anfang an nicht zu zeigen vermocht.

Der Zwang und die Notwendigkeit einer konkreten Gestaltpoetik und Namensgebung zwingt naemlich den Schriftsteller, zu entscheiden. Die Gestaltpoetik und die Namensgebung konkretisiert und deshalb homogeni-siert. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Es gab in den zwanziger Jah-ren in Budapest bürgerlich-bourgeoise Familien (die alle die einmalig grausame Geschichte des Landes mit Zusammenbruch, Trianon, Raete-republik, Horthys Machtübernahme, Wirtschaftskrise und spanische In-fluenza mitgemacht haben, über die mit den Kriegsanleihen verbundene massenhafte Verarmung gerade solcher Familien ganz zu schweigen). Je-der Soziologie weiss, dass es unter diesen Familien sowohl jüdische wie auch nicht-jüdische Familien gab.

Die schriftstellerische Absicht kann aber nicht nur von dieser Seite aus mit den Möglichkeiten der Gestaltpoetik und der Namensgebung in Konflikt treten. Auch die einzelnen Protagonisten können Probleme be-reiten, denn die schriftstellerisch anziehendsten Persönlichkeiten sind Produkte einer aeusserst komplexen sozialen und intellektuellen Differenzie-rung. Eben ihre so entstandene Individualitaet, wenn man will, Singulari-taet kann in Hinsicht auf Gestaltpoetik und Namensgebung oft nur am schwierigsten wiedergegeben werden. Die extreme Komplexitaet und Singularitaet führt oft ungewollt zur Darstellung eines Sonderlinges. Fast noch schlimmer ist die Lage mit der Namensgebung. Dem Schriftsteller stehen viel weniger Namen zur Verfügung, als dass er die so entstandete Vielfalt und Komplexitaet mit einem adaequaten Namen ausdrücken könnte. Mit den individuellen Grössen kann also sich leicht wiederholen, was vorhin mit der von Déry intendierten Familie der Fall gewesen ist: Der Name weist den Antlitz der Protagonisten einem engeren sozialen Kreis zu, als er (der Protagonist) der ursprünglichen schriftstellerischen Botschaft gemaess gehört haben dürfte.

Der Schriftsteller vermittelt zwischen der sozialen Welt und der Welt des Werkes. Dabei soll er viele Unvereinbarkeiten wenn nicht direkt mitein-ander vereinen, so doch in dem Werk sie zu einer Lösung verhelfen. Es heisst auch in verallgemeinerter Form, dass er zahlreiche Regeln und Vor-schriften vor Augen halten muss (über eine grosse Anzahl von noch nicht-artikulierten, „weichen”, noch nicht als Regel zusammenzufassenden O-rientierungen ganz zu schweigen).

Das Phaenomen der Tabuisierung ist auch ein durch und durch ausserlite-rarisches Phaenomen mit ausserliterarischen Regeln, die aber auch für den Schriftsteller in der allergrössten Mehrheit der Faelle verbindlich sind. Ein ganzer Netz komplizierter Regeln bestimmt es, in welcher Umge-bung, mit welchem Inhalt sich jemand über das eigene Judentum oder über das Judentum von anderen aeussern kann. Vor wie neuen und prae-zedenzlosen Schwierigkeiten sich ein Schriftsteller in diesem Zusam-menhang wiederfinden kann, zeigt jener breite Strom der spezifisch mo-dernen Literatur, in welcher der jüdische Protagonist gerade in seiner Partikularitaet (d.h. seinem Judentum) das Paradigmatische, das mensch-lich Allgemeine auszudrücken sich berufen ist. Berühmt ist James Joyce’s Beispiel, der in der Gestaltpoetik des Ulysses den Protagonisten auf eine transparente Weise in Irland eine jüdische Gestalt portraetiert, durch welche er eine in der Literatur bis dahin kaum erzielte menschliche Allge-meingültigkeit und einen ebenfalls bis dahin kaum intendierten exemplari-schen Charakter darstellen kann.

Tibor Déry’s Dilemma wird auch durch den Namen Parczen-Nagy als gordischer Knoten zerschnitten. Zum einen, wie wir in mehreren Arbei-ten die Aufmerksamkeit darauf lenkten, ist es eine in jenen Jahren sehr vielsagende Übernahme von Hermann Brochs titelgebender Gestalt und von deren Namen (Pasenow). Es war sicherlich Déry’s Ziel, damit der die neuesten Entwicklungen der Romangattung verfolgende Leser die be-stimmende Anlehnung des Unvollendeter Satz an Brochs Schlafwandler-Trilogie auch auf dieser Ebene wahrnimmt. In seiner Seltenheit und sei-ner gleichzeitigen Plausibilitaet ist erweist sich dieser Name letztlich als ein Volltreffer. Er beseitigt den soziokulturellen Verdacht des Lesers. Gerade die nicht ganz bestehende Eindeutigkeit dieses Namens (unter den vielen möglichen Gruppen der Mittelklasse) dient den schriftstellerischen Zwe-cken Déry’s, denn er, auch als Inaugurator einer neuen Variante des Brochschen polyhistorischen Romans, eine allgemeine und kraft ihrer soziologischen Allgemeinheit auch eine allgemein gültige Familie in Sze-ne setzen wollte.

Die Gestaltpoetik und Namensgebung der proletarischen Klasse (diesmal lassen sich die Beispiele eher aus dem Roman Antwort holen)

demonstrieren das übliche politische und soziale Bild über die Budapes-ter Arbeiterklasse jener Zeit. Die soziale Palette ist reich und vollstaen-dig. Sie reicht von der Arbeiteraristokratie und den kleinbürgerlichen Ar-beitern, die in der Produktion ihre eindeutige Macht haben bis zu den bewussten und den noch nicht bewussten anderen kaempferischen Ar-beitern, wobei die Spaltung zwischen den Kommunisten und den Sozial-demokraten die politische Szene auch beherrscht. Unter den Arbeitern erscheinen in grossem Variationsreichtum die Repraesentanten der ur-sprünglichen ethnischen Vielfalt der Budapester Arbeiterschaft (Brányik, Neisel, Ocsenás (waehrend der Jungarbeiter-Progatonist Köpe den histo-rischen Weg der ungarischen Nation durch die Arbeiterklasse heraufbe-schwört, der Roman wird erst nach 1945 angefangen, als die Arbeiterbe-wegung schon zum konkreten nationalen Problem und auch Programm wird).

Die Namensgebung von dem Genossen István im Unvollendeten Satz gilt als ein weiteres Beispiel für die sich stets aendernde Wirklichkeit des Zu-sammenspiels zwischen Psychologie, schriftstellerischer Botschaft und Tabu(isierung). Der illegal durchreisende hohe Funktionaer hat keinen Familiennamen, nicht einmal einen illegalen. Darin ist diese Wahl reali-taetsgerecht, dass selbst die Gastgeber des hohen Genossen den wahren Namen nicht erfahren durften. Auch die Konvention der Romanschrei-bung wirkte in dieser Richtung aus. Für Déry galt auch der Befehl der Illegalitaet: Selbst im Roman erschien es ihm nicht erlaubt zu sein, eine Spur für die Polizeit zu hinterlassen (er mochte sicherlich nicht gewusst haben, dass der ganze Roman erst nach 1945 erscheinen wird).

All diese Bedenken erschöpfen aber alle Seiten der Tabuisierung noch überhaupt nicht. Kaum weniger maechtige Tabus wurden naemlich auch von der Seite der Kommunistischen Partei aufgestellt. Versieht Déry den Genos-sen István mit einem Familiennamen (ob mit wahrem, mit illegalem oder – es gibt auch eine dritte Möglichkeit: ob mit einem in der Arbeiterbewe-gung bereits früher aufgenommenen illegalen Namen, der einige Jahre spaeter schon als „legaler” Familienname gelten kann), situiert er damit ihn auch im Universum der Fraktions- und Machtkaempfen der damali-gen Kommunistischen Partei. Tut der Schriftsteller es, so positioniert er die Gestalt auch schon „realpolitisch”, ungewollt assoziiert er mit einem Kommunisten eine „Linie”, eine „Genealogie” und eine politische Gegen-wart, von der man nicht wissen kann, in welcher politischen Zukunft diese Gegenwart führen wird. Das Herausretuschieren von ehemaligen führenden Kom-munisten aus den feierlichen Photos zeigt das Problem in seiner vollen Bedeutung.

Eine Gestaltpoetik und Namensgebung, die einen führenden ungari-schen Kommunisten 1933 oder 1934 mit vollem Namen und Lebensge-schichte in der illegalen Arbeit zeigt, waere von der Kommunistischen Partei unmittelbar nicht unbedingt tabuisiert. Was aber heute kein Tabu ist, kann morgen Tabu werden. Der führende Genosse von heute kann der Ver-raeter von morgen werden! Wir werden bald sehen, Genosse István ret-tete Déry vor diesem Dilemma keineswegs.

Interpretiert man den Unvollendeten Satz und die Antwort als zwei einander eng zusammenhaengende Konzepte (wie es praktisch stets und von jeder Seite her passierte), so wird es möglich sein, relevante Symmetrien, aber auch Asymmetrien zwischen ihrer Gestaltpoetik und Namensgebung wahrzunehmen.

Waehrend die Protagonistin des Unvollendeten Satzes, Évi Krausz, in ges-taltpoetischer und namensgeberischer Sicht als eine Frau jüdischer Her-kunft portraetiert ist, ist die Forschung in der seltenen Lage, ganz eindeu-tige Beweise dafür in der Hand zu haben, dass das Modell dieser Gestalt (Etel Nagy, die Tochter der Rezitierkünstlerin Jolán Simon und die Stief-tochter des Avantgardenpapstes Lajos Kassák) nicht jüdischer Herkunft war. Diese Modifizierung galt im Kontext der frühen dreissiger Jahre in Ungarn als keine Frage von Tabus. Daraus folgt, dass die Erklaerung für diese Modifizierung im Bereich der schriftstellerischen Botschaft zu suchen ist Diese Gestalt der modernen Bewegungskünstlerin und illegalen Kom-munistin wies auf der soziokulturellen Landkarte des damaligen Ungarns unvergleichlich intensiver auf eine jüdische als auf eine christlich-bürgerliche, baeurliche oder proletarische Herkunft. Waehrend also Déry angegriffen war, die jüdischen Wurzeln der im Mittelpunkt des Romans stehenden Familie Parczen-Nagy zu verwischen, stellt er im Falle von Évi Kraus eine Gestalt von jüdischer Herkunft auf die Bühne des Ro-mans, die nicht jüdischer Herkunft war. Zu diesem Zweck laesst er jene in der künstlerischen Arbeit von Etel Nagy praktizierte Thematik ver-schwinden, mit welcher sie ungarische Volkskunst mit den Mitteln der modernen Bewegungskunst inmitten eines alternatív-linken künstleri-schen Milieus auf die Bühne brachte. Kein Zweifel, im Falle von Etel Nagy – Évi Krausz hat Déry wieder glückliche Hand gehabt. Das Modell (Etel Nagy) war eine sehr berühmte und allseits mit Sympathie angese-hene Person, ihre ursprüngliche Identitaet war aber in dem Masse singu-laer und einmalig, dass ihre Darstellung mit dem auf Allgemeingültigkeit hinstrebenden Konzept des ganzen Romans schier als inkompatibel er-wies.

Die Lage wendet sich im Falle der Antwort! Die historische Zeit dieses Romans ist im grossen identisch mit der historischen Zeit des Unvollende-ter Satz. Das heisst, dass sich die relevantesten soziokulturellen Dimensi-onen des Landes kaum geaendert haben mochten. Hier erscheint die Ge-liebte des Protagonisten Zénó Farkas, Júlia Nagy, als eine Gestalt von nicht jüdischer Herkunft. Aus diesem Grunde sollten wir konsequent denken, dass was für Etel Nagy gelten konnte, auch für Júlia Nagy gelten wird. Es könnte gehiessen haben, dass (im Falle von Júlia Nagy) eine voll e-manzipierte, selbstaendige, betont modern eingestellte Naturwisseschaft-lerin, in den dreissiger-vierziger Jahren eine engagierte und illegale Akti-vistin der Kommunistischen Partei, dürfte auf die gleiche Weise eher von jüdischer als nicht-jüdischer Herkunft gewesen sein. Die soziokulturelle Wahrscheinlichkeit (was angesichts der schriftstellerischen Botschaft so ent-scheidend ist) spricht auch im Falle Júlia Nagy für eine gestaltpoetische und namensgeberische Entscheidung für die Darstellung der jüdischen Herkunft. In Antwort entsteht aber trotzdem der umgekehrte Fall. Waeh-rend in Der unvollendete Satz ein Modell nicht-jüdischer Herkunft als Jüdin dargestellt, wird in Antwort ein Modell jüdischer Herkunft als Nichtjüdin gestaltpoetisch im Werk geschaffen. Diese Wendung ist auch allgemein-romanaesthetisch vom Interesse, weil die beiden Frauengestalten in der Struktur und in ihren Weltbildern dieselbe Inhalte und Funktionen in den bei-den Romanen vertreten.

Wir gehen davon aus, dass die schriftstellerische Botschaft, die soziale Wahrheit und die Treue zur Realitaet auch im Falle Júlia Nagys zur ges-taltpoetischen Darstellung einer Gestalt jüdischer Herkunft haette führen müssen. Dagegen sprachen aber zwei neue Bedenken, die – unserer Ka-tegorisierung voll entsprechend – gerade auf dem Wege waren, neue Ta-bus zu werden. Zum einen fing gerade nach 1945 die Interpretation sich durchzusetzen, dass sich die wahre Trennungslinie in der ungarischen Gesellschaft zwischen Kommunisten und den Anderen (und nicht zwi-schen den einzelnen Gruppen der Intellektuellen, bzw. der Mittelschich-ten) gezogen ist. In dieser Logik würde plötzlich gerade die jüdische Her-kunft der Júlia Nagy die Allgemeingültigkeit der Aussage beeintraechtigt haben. Aus dem Allgemeinen würde ein Partikulaeres entstanden sein. Das ande-re Bedenken laesst sich überhaupt nur rekonstruieren, wenn man sich auch noch daran erinnert, dass die Antwort als der erste Band einer ge-planten Trilogie (vielleicht sogar Tetralogie) erschien, so dass die Hand-lung des ersten Doppelbandes nach der Absicht Déry’s linear weiter ge-führt worden waere. In diesem Fall haette eine Protagonistin jüdischer Herkunft auch den Holokaust erlebt haben, was – wie man es anneh-men, aber nicht beweisen kann – die schriftstellerische Botschaft auch haette beeinflussen müssen.

Am vielschichtigsten verknoten sich jedoch die Momente der Psychologie, der schrift-stellerischen Botschaft und der Tabuisierung in der Gestalt von Zénó Farkas, dem Protagonisten des Antwort. Auffallend wenig redet Déry von dieser Fra-gestellung, zum Teil wird es gleich verstaendlich, wenn man an die tiefe schriftstellerische Depression und Frustration denkt, die er nach der so-genannten Antwort-Diskussion Anfang der 50-er Jahre erlebt und in de-ren Wellen er dann zu einem der schaerfsten Systemkritiker wird.

Die Antwort ist nicht mehr der in der Richtung der Politik eröffnete mo-difizierte polihistorische Roman. Er wird als nicht ideologisch verstandene rea-listische Roman konzipiert, der wegen der grossen historischen Themen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr als eine romanpoetische Ent-scheidung, vielmehr als eine evidente „Antwort” auf die Geschichte ge-dacht wird. Die Konstruktion dieses Romanes baut auf die zwei, einan-der ergaenzenden Protagonisten, auf den Professoren Zénó Farkas und den seinen Weg gehenden Arbeiterjungen Bálint Köpe.

Diese Struktur enthaelt in sich auch die (freilich nur sehr allgemein formulier-te) Botschaft des ganzen Romans. Der Roman Antwort liefert das Modell einer „volksdemokratischen” Reintegration des Landes, wobei das Attribut „volksdemokratisch” noch in seinem ursprünglichen engagierten, aber noch nicht dogmatisierten Sinne verstanden werden muss. Zwar berühr-te sich dieses Konzept mit der damaligen Propaganda der Partei, hatte es jedoch kurz nach dem Krieg auch noch einen authentischen Charakter des demokratischen Wiederaufbaus. Als letzterer hatte dieses Konzept – trotz der bereits existenten politischen Beschlagnahmung – auch einen allgemeinen Konsenscharakter in der ganzen Bevölkerung.

Diese schrifstellerische Botschaft (der Tandem von Zénó Farkas und Bálint Köpe) kann man ohne diesen damals nachweisbaren breiten sozialen Kon-sens überhaupt nicht verstehen. Die Gestalt von Bálint Köpe waere in dieser Konzeption nicht detailliert erklaerungsbedürftig vorkommen (was nicht heisst, dass nicht interessente gestaltpoetische Details auch bei ihm aufzufinden waeren). Von der Natur dieser Konstruktion folgt es aber, dass bei der Gestalt von Zénó Farkas dieser allgemeine Konsens viel begründeter und sozial authentischer gewesen sein dürfte als es bei dem Jungarbeiter Köpe der Fall war.

Nicht literarische oder gestaltpoetische, sondern soziale und politische Gründe diktierten es, dass ein ohne ein allgemein bekanntes Modell auf-gebauter Farkas als gewichtslose schriftstellerische Fiktion kurzerhand unmöglich geworden ware. So haette er die aussergewöhnlich grosse Last der schriftstellerischen Botschaft nicht tragen können. In diesem Fall se-hen wir uns also mit einer Konstellation konfrontiert, dass ein ausserlitera-risch existierendes Modell überhaupt erst die Bedingung zur gestaltpoetischen Ver-wirklichung der schriftstellerischen Botschaft werden sollte.

Der Chemieprofessor Albert Szent-Györgyi war in der Tat so ein exzellen-tes soziales Modell. Er machte es zuwege, die Konsensbildung zwischen einer sich „volksdemokratisch” definierenden Kommunistischen Partei und einer auf einen Neuanfang aufrichtig, wenn auch nicht ganz ohne Aengste hoffenden ungarischen Gesellschaft durch sein zum Modell ge-wordenes Beispiel zu bestaetigen. Szent-Györgyi galt in jenen Jahren als Mr. Hungary. Er war Nobelpreistraeger in der Chemie (und der erste, der die für diesen Preis vollzogene Entdeckung nicht im Ausland, sondern in Ungarn erzielte). Er war eine gefeierte Persönlichkeit, Maezen in Thea-terkunst und Sportaktivitaeten, Kaempfer des Widerstandes, den der Gestapo verhaften wollte, ein berühmter und begehrter Liebhaber, von dem Hunderte von Geschichten in der Gesellschaft herumliefen. Für seine Modellenrolle war es nicht nebensaechlich, dass er als demokrati-scher Repraesentant Ungarns 1945 auch zu einem Praesidenten der da-mals noch demokratischen Organisation der Ungarisch-Russischen Freundes-gesellschaft gewaehlt wurde und Anfang 1948 noch (in einem Akt mit Ti-bor Déry selbst) mit Kossuth-Preis geehrt wurde. Ohne Zweifel war er das fleischgewordene positive Selbstbild des soeben befreiten Nachkriegsungarn. Mit anderen Worten könnte man auch sagen, dass zur Verwirklichung seiner schriftstellerischen Botschaft Déry keinen einzigen anderen als eben Al-bert Szent-Györgyi zu seinem Modell gewaehlt haben müsste. Und der Zénó Farkas des Romans traegt auch tatsaechlich die bestimmendsten und wichtigsten Eigenschaften der genialen Extravaganz des Albert Szent-Györgyi.

Es scheint somit eine gestaltpoetische Erfolgsgeschichte zu sein. Eine sehr gut fun-dierte und in jeder Hinsicht historisch relevante Botschaft fand sein scheibar einziges und dazu noch allgemein anerkanntes Modell.

Dieser Albert Szent-Györgyi hat aber das Land kurz nach der Übernah-me des Kossuth-Preises verlassen. Was anfangs kein Tabu war, ist nunmehr höchster Tabu geworden. Von Mr. Hungary wurde der öffentliche Staatsfeind ersten Ranges.

Déry fand sich im Nu in einer verzweifelnden Situation (und in nicht ge-ringer eigener Gefahr). Er hatte seine Konzeption auf Szent-Györgyi auf-gebaut, er musste sein ganzes Konzept umarbeiten. Das tat er auch zum Teil. Er nahm Kontakt mit Győző Zemplén und dessen Schülern an, um die aeusseren Züge des Modells nun auf ihn umzustellen. Er verwischte alle sichtbaren Spuren von Szent-Györgyi, er vermied jeden Hinweis auf die ursprüngliche Genese. Auf der anderen Seite bewahrte er das Zentrum der Persönlichkeit in seiner gestaltpoetischen Arbeit. Die Anekdoten der genialen Extravaganz sind in grösserem Teil verschwunden, in einem deutlich ge-ringeren Teil wurden sie mit Geschichten über Győző Zemplén (und Zénó Terplán) ersetzt.

Angesichts auch der heute schon zur Verfügung stehenden Literatur ü-ber Zemplén und Terplán laesst sich feststellen, dass ihre Züge im Ro-man nicht einmal in die Naehe der Grössenordnung der Eigenschaften von Szent-Györgyi kommen können. Szent-Györgyi blieb also der Pro-tagonist der Antwort, und das zeugt von nicht geringerer Courage von Déry.

Zu dieser gestaltpoetischen Situation gehört noch, dass beide Professoren in ihrer Grundattitüde mit Szent-Györgyi tatsaechlich verwandt waren (Zemplén beispielsweise in seiner mutigen Stellungnahme des Widerstandes, als die Vertreter der Wehrmacht vor dem Schlacht um Budapest erreichen wollten, dass sich die kriegstechnologisch und politisch gleich relevante Professorenkörperschaft der TU Budapest geschlossen nach Westen flieht). Der Leser wird auch wahrnehmen, dass zu dieser gestaltpoetischen Umarbeitung des Protagonisten auch die Namensgebung einen Beitrag geliefert hat. Der hier in Frage kommende und ebenfalls relevante Terplán lieh Zénó Farkas seinen Vornamen. Das trug zu dieser Modifizierung auch bei.

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Author

Kiss, Endre

Professor am Lehrstuhl für Philosophi