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Magdaléna Platzová
Aarons Sprung
6.Kapitel ( Wien)
Im Herbst des Jahres 1927 zog Berta zurück nach Wien und mit dem geerbten Geld gründete sie ein eigenes Atelier: Berta Altmann – Tapisserie, Textilien, Interieurslösungen. Sie schaltete Inserate in Zeitungen, begann sich mit alten Bekannten zu treffen und schuf sich schön langsam ein Standbein, das ihr in Zukunft ständigen Zulauf an Kunden sichern würde.
Sie traf sich mit Meinlich und seiner kommunistischen Zelle, zeitweise besuchte sie die Zusammenkünfte im Arbeiterhaus und erklärte sich bereit einmal in der Woche, am Samstag Nachmittag die Arbeiterkinder in bildnerischer Erziehung zu unterrichten. Sie war mit dieser Entscheidung zufrieden. Die Vorbereitung für die Stunden zwang sie sich an ihre eigenen Erfahrungen zu erinnern und sie in irgendeine Methode zu verwandeln. Sie unterrichte umsonnst, in ihrer Freizeit und niemand hatte ihr da reinzureden. Meinlich überließ ihr sowieso alles, er selbst hatte mit seiner künstlerischen und pädagogischen Tätigkeit ganz aufgehört. Er hatte aufgehört zu glauben, dass man die Menschheit durch die Kunst retten kann, und alles was zu keinem Ziel führte, war für ihn verlorene Zeit.
Die Einladung kam per Post.
Ein Kärtchen teuren Handpapiers, mit schwungvollen Buchstaben beschrieben: Unlängst bekam ich aus dem Nachlass eines bekannten Kunstsammlers Ihre Skulptur der Heiligen Anna. Um so besser ich ihr Werk kennen lerne, um so mehr sehne ich mich ihre Schöpferin kennenzulernen. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie mich besuchen würden! Ich empfange Besuch jeden Donnerstag von vier bis sieben, in der Elisabethstraße 22, im vierten Stock.
Berta schnüffelte am Kärtchen, das leicht duftete. Nicht unangenehm.
Es kam ihr komisch vor, dass sie auf diese Art und Weise an die Skulptur erinnert wurde. Die heilige Anna blieb in ihrem Bewusstsein stecken wie ein Eckstein, sie teilte das Gelände in die Zeit vor Jauners Verrat und nach ihm. Berta hatte sich schon an ihre Gegenwart gewöhnt, sie empfand sie als Symbol. Die reale Gestalt der Statue konnte sie sich schwer vorstellen.
Es schmeichelte ihr, dass sie die berühmte Wiener Dame kennen lernen will, obwohl Berta und ihre Freunde auf die Gesellschaft, zu der sie gehörte, von oben herabschaute. Die Leute, die im Salon der Unsterblichen zusammenkamen, waren „alt“, ihre innere Einstellung entsprach nicht der neuen Zeit. Nach dem Zerfall der Monarchie fühlten sie sich heimatlos, waren nostalgisch und ständig in Moll gestimmt. Und was am wichtigsten war, dass sie sich mit Belanglosigkeiten beschäftigten.
Perverse Bourgeoisie, sagte Meinlich.
Berta gehörte zu den jungen.
Trotzdem: das von Duft erfüllte Kärtchen war aus dem verlorenem Paradies hergewandert, wo auch sie ihren Teil an Erinnerungen hatte. Und sollte sie ehrlich sein, diese Erinnerungen waren ihr wertvoller als all die Zusammenkünfte, die engagierte Kunst und die soziale Gerechtigkeit zusammen.
Die entzückend eingerichtete Wohnung der Meyers. Frau Irena am Klavier, Chopin und Mahlers Lieder, Tage, wo nichts anderes wichtiger war als nur die Kunst, die heilig war. Heilig war die Schönheit. Die Schönheit war eine unnahbare, edle, einzigartige und sonderbare, große und erhebende, exklusive, durch und durch ungerechte.
Sie erinnert sich weiter: Sommer am Semmering
Wie stellten sie sich damals die Zukunft vor? Als Kunst und Liebe. Aber beides nahmen sie nur als lebensgefährliches Spiel: in der Liebe alles geben oder sterben ist dasselbe. Auf Messersschneide leben. Nicht wie ihre sesshaften Väter und Mütter im Kaiserreich, wo sich Jahrhunderte nichts veränderte. Leben ohne Maß. Sie sehnten sich nach wilden Rhythmen und nach Bewegung!
Sie denkt an den Nachmittag im Cafe Central, wo Maja die am meisten bewunderte Frau Wiens als Zuckerhut bezeichnet hat. Als sie hinauskamen, war es schon dunkel. Rudi bestand darauf, dass sie Berta begleiten. Sie hängten sich jeder von einer Seite bei ihr ein. Sie waren größer als sie, aber sie gingen im Gleichschritt, schnell und leicht. Die gemeinsame Bewegung rief in ihnen Freude hervor. Niemand und nichts durfte ihnen im Wege stehen.
In einem Moment nahm Rudi sie bei Hand und ließ sie bis zum Haustor nicht mehr los.
Sie läutete am Donnerstag Nachmittag um fünf Uhr an der Tür der Luxuswohnung in der Elisabethstraße.
Sie war entschlossen, ganz kurz zu bleiben: sie bedankt sich für die Einladung, vielleicht kann sie paar Kontakte knüpfen, die ihr später nützlich sind. Bei dieser Frau treffen sich die reichsten Leute aus Wien, es wäre nicht schlecht unter ihnen ein paar Kunden zu gewinnen. Nur dass diese Menschen einen entsetzlich beschränkten Geschmack haben. Ihre Wohnungen sind altmodisch vollgestellt, mit protzigen Bildern in vergoldeten Rahmen, Spiegeln, Fauteuils und Kredenzen, die an Särge erinnern. Sie leben zwischen Gerümpel, auf dem sich Staub ablagert, wo sich niemals ordentlicher Sonnenstrahl oder ein frisches Lüftchen hinverirrt. Ihre Wohnungen sind vollgekramt wie ihre Köpfe, vom modernen Raum und dem modernen Leben haben sie keine Ahnung, denkt Berta.
Der Salon der Unsterblichen unterschied sich von anderen Salons nur dadurch, dass an den Wänden neben den kitschigen Bildern Hans Makarts und den Wiener Sezessionisten einige frühe Werke des Malers Kokoschka hingen. Nichts Abstraktes. In der Ecke die Büste des verstorbenen Gatten von Auguste Rodin und eine Frauenhand aus derselben Werkstatt. Nirgendwo sieht Berta ihre Anna, höchstwahrscheinlich ist sie an einen weniger bedeutsamen Platz geräumt gemeinsam mit den Werken der übrigen unbekannten Künstler, welche eines Tages vielleicht berühmt werden (in diesem Fall rücken sie ins Empfangszimmer oder in den Salon vor), oder wenn der Ruhm einen Bogen um sie macht (ins Gästezimmer, in dunkle Ecken der Vorzimmer, das definitive Abrücken in den Keller oder auf den Dachboden.
In den letzten zehn Jahren, wo sie sie nicht gesehen hatte, war die Unsterbliche enorm dick geworden. Sie empfing Berta persönlich, in einem reich bestickten Hausgewand, gleich einem königlichem Umhang, der über die mächtigen Brüste herabwallte und verdeckte, was sich verdecken ließ.
Aber über die unförmige Masse, auf dem Hals, der nicht mehr der glatten Alabastersäule glich, erhobt sich ein Kopf, der auch in den schlaffen geradezu verschmierten Konturen immer noch imposant und wunderschön war, nicht schön im geläufigen Sinne des Wortes, sondern kühn, stolz, wobei er an Häupter griechischer Skulpturen erinnerte. Kleine, fein geschnittenen Lippen, die Oberlippe bildete den vollendeten Bogen, den man den Bogen Amors nennt. Zwischen der Unterlippe und dem runden, ausdrucksvollen Kinn, ein kleines Grübchen, das seiner Zeit die Männer verrückt gemacht hat. Adlernase, nicht zu klein. Die hohen Backenknochen sind unter der dicken Fettschicht nicht zu erkennen, aber die Augen sind schön, dunkel grau, glänzende, klare, von dichten dunklen Wimpern umrahmt. Sie ist nicht geschminkt und wenn, dann ist es nicht zu erkennen.
Sie reichte Berta beide Hände.
Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind und grade ist niemand hier, das ist entzückend, so haben wir ein Augenblick für uns. Aber kommen Sie, zu aller erst zeige ich Ihnen, wohin ich ihre Plastik gestellt habe. Ihre beachtenswerte Plastik, sagte die Frau. Sie senkte die Stimme und schloss die Augen. Sie versuchte so offensichtlich ihre Bewunderung anzudeuten. Ihre heilige Anna hat mich begeistert, sagt sie und führt Berta durch den langen Gang, entlang einer Reihe weißer hohen Türen mit goldenen Klinken und Glasscheiben mit nackten Nymphen.
Ich muss Ihn gestehen, dass mich zu aller erst nicht einmal einfiel, dass dies ein Werk einer jungen Frau, beinahe eines Mädchens, sein könnte. Sie haben doch vor fünf Jahren noch studiert. Ich dachte, dass sie ein alter Mann, der in sie seine ganze Lebenserfahrung mit Schmerzen und Einsamkeit gelegt hatte, geschaffen hat und also, Sie! Sie müssen etwas sehr Schmerzvolles erlebt haben, wenn Sie in der Lage sind eine so wahrhaftige, so....schmerzhaft lebendige Figur zu schaffen. Ach, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken, ich versuche Ihnen nur zu sagen, wie nah mir ihre Plastik steht. Sie ist ein Bild meiner eigenen Seele. Und die weiß, was Leiden ist.
Sie öffnete eine der Türen und sie standen in einem Zimmer, das von der rosaroten Nachmittagssonne durchflutet war, in ihrem Schlafzimmer.
Im Schlafzimmer der Unsterblichen
Die heilige Anna, das waren nur Gesicht und Hände. Die engen Handrücken mit den Fingern fest verbunden, gespannt, nach oben gewendet, brannten in finster ruhigen Flammen. Die Hände rahmten von beiden Seiten ein weibliches Gesicht. Und so wie sie zum Himmel gerichtet waren, schnellte das Gesicht nach draußen, auf den Zuschauer, streckte sich und füllte sich, das geschlossene Augenlid drohte zu platzen, der fest geschlossene Mund trotzte dem Ansturm, der Lawine der Worte.
Es ist ein Gesicht des Schmerzes, aber ein übertriebenes, ekstatisches, das sich selbst in den Mittelpunkt stellt, erhebt und dramatisiert, denkt Berta.
Sie sieht, dass die heilige Anna durch den Ausdruck überholt, zu stark vom Expressionismus beeinflusst ist.
Sie fühlt, wie sie in den fünf Jahren gealtert ist.
Wie konnte die Unsterbliche glauben, dass diesen Ausdruck der Verzweiflung ein alter Mann ausgemeißelt hat? Sieht sie denn nicht, wie jung dieser dargestellte Schmerz ist. Ohne Hintertüren, ohne Bitterkeit, ohne Müdigkeit, rein und scharf wie ein Schnitt.
Wie können hier bleiben, schlägt die Unsterbliche vor und läutet. Sie trägt dem Zimmermädchen auf, dass sie Kaffee und Mehlspeisen ins Schlafzimmer bringt und dass sie andere Gäste an der Tür abweist, damit, dass der gnädigen Frau unwohl sei.
Sollen sie ein anderes Mal kommen.
Die Frau schaut versunken über Bertas Kopf, aus dem Fenster. Sie spricht fließend, als hätte sie die ganze Rede vorbereitet:
Wir Frauen müssen einander helfen. Es ist so schwer, unser Schicksal. Wie gelingt es ihnen, sich mit ihm abzufinden? Das würde mich interessieren. Darum wollte ich mit ihnen sprechen. In der letzten Zeit denke ich viel nach und meine Überlegungen enden meistens bei einer Frage. Warum, sagen Sie mir, haben die Christen einen Mann gekreuzigt? Das Symbol des menschlichen Leidens ist ein Mann, aber am Kreuz hängt in Wirklichkeit eine Frau. Ausgeblutet, von den Geburten aufgerissen, um alles beraubt, erschöpft, von Mann und Kindern verlassen, das ist das Bild des Entsetzlichsten, womit uns die Natur oder Gott schlagen konnte. Das ist eine Strafe. Das Kreuz. Und es trägt eine Frau, kein Mann. Aber warum? Warum sind wir so gestraft? Was haben wir verschuldet? Wenn Sie einen Mann fragen, beginnt er gleich mit der Schlange und dem Apfel im Paradies.
Worin besteht meine Sünde? Ich habe auf mein Herz gehört, nur auf mein Herz. War mein Herz diese Schlange? War es eine Sünde darauf zu hören? Wenn ja, dann habe ich dafür hundertmal gebüßt. Ich war der Liebe erlegen und zerstörte so alle meine Fähigkeiten. Meine Lehrer sagten, dass ich großes Talent habe. Bevor ich meinen ersten Mann kennen gelernt habe, war ich von der Arbeit besessen, atmete nur für die Kunst, nur für sie.
Jetzt wird von mir gesagt, dass ich von genialen Männern besessen sei. Angeblich bin ich eingebildet und schmücke mich mit fremden Federn. Es stimmt aber nicht. Ich musste meinem ersten Mann alles zu Füßen legen, worauf es mir im Leben ankam. Ich kämpfte, aber er hat mich besiegt. Als Künstler wusste er, was das Werk vom Menschen verlangt und so wollte er mich nicht mit ihr teilen. Er war überzeugt, dass er dazu, dass er komponieren kann mich ganz braucht. Er hat überhaupt nicht daran gezweifelt, dass sein Werk vor meinem Vorzug hat. Als er starb, war der Rückweg verweht. Was blieb mir übrig? Wenn sie sich nicht im eigenen Werk verkörpern können, benutzen sie das Werk anderer. Alle ihr Empfindsamkeit, ihren Intellekt, ihre Imagination, Begeisterung, ihre ganze Liebe richten sie auf das Werk, das ihres sein könnte und müsste, aber nicht ist. Oder auf sich.
Wann ist eine Frau unwiderstehlich, was glauben Sie? Nicht, wenn sie liebt, wenn sie sich hingibt und opfert. Nein. Eine Frau ist am anziehendsten, wenn sie nur an sich selbst denkt, sich selbst verschlungen hat, wenn sie ihre ganze Energie und schöpferische Kraft in die eigene Person investiert. Dann verführt sie, inspiriert sie, fasziniert sie. Nach dem Tod meines ersten Mannes, habe ich diese Macht gehabt. Bis ich meinen Dichter traf.
Jetzt lebe ich nur für ihn, ich werde älter, ich verliere mich, aber das macht nichts. Ich bin dort, wo ich sein muss. Ich bin der Brennstoff im Kamin des Genies, dem Glück näher, als ich je war. Glauben Sie nicht, ich rede mir ein, dass ich werweißwas erreichen könnte. Ich bereue nicht, dass ich meine Kräfte den Männern, die mich überragten, geopfert habe. Ich habe mir selbst längst vergeben. Aber es existiert eine Macht, vielleicht ist das Schicksal, die mir nicht vergeben will. Warum wären sie mir denn sonst alle gestorben? Wie viel Kinder habe ich geboren und alle sind tot. Wie oft ist in mir alles verbrannt, wie oft bin ich aus der Asche auferstanden, aber niemals ganz, immer mit einem Herzen etwas ausgekühlterem, verbitterterem, dem Tode näher. Warum meine schönen, unschuldigen Kinder? Warum nicht ich?
Vielleicht bin ich wirklich für das Werk geschaffen und nicht für die Liebe und Mutterschaft. Vielleicht hätte ich nicht dem ersten Hindernis ausweichen sollen, das mir das Herz als Falle gelegt hat. Und mein Körper. Die Sehnsucht nach Lust ist bei mir sehr stark. Schwer kann ich sie überwinden, auch wenn sie mit solchem Leiden erkauft ist. Aber ist das vielleicht meine Schuld? Was ist das für ein seltsames Spiel, Blenden, das immer wieder neu beginnt und die Sinne und den Kopf verwirrt so sehr, dass man auf alles vergisst, was wird. Was für eine böse Macht verhüllt die Hölle des Zeugens, des Gebärens und des Todes mit einem duftenden Schleier der Sehnsucht? Ach, ich habe versucht zu flüchten.
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