Die Erbschaft der Praxis-Gruppe und die antitetische Solidarität
Zusammenfassung
Es wird am Anfang der historische, politische und philosophische Kontext der Genese der sogenannten Praxis-Gruppe dargestellt. In einer durch den Autoritarismus der monopolistischen Macht der dogmatischen Kommunistischen Partei geprägten Gesellschaft (es geht um das damalige Jugoslawien) kam es nach dem Bruch mit der Sowjetunion (1948) zu einer gewissen (obwohl, besonders bis zu den sechzigsten Jahren, klar begrenzten) Liberalisierung im Bereich der Ideologie, Kultur und Wissenschaft. Eine junge philosophische Generation, die besonders stark an der Universität Zagreb war, fing dann langsam an, sich mit der bislang offiziellen marxistisch-leninistischen Deutung des Marxismus und der Philosophie radikal auseinander zu setzen.
Die jungen Philosophen bestritten die Legitimität aller wesentlichen Bestandteile des dogmatischen Marxismus (in erster Linie des Dialektischen Materialismus und der Abbildtheorie). Aus dieser Kritik entstand der sog. schöpferische Marxismus. Es ging keineswegs um eine einheitliche und homogene philosophische und sozialwissenschaftlische Konzeption, sondern mehr um eine gemeinsame Tendenz, auf den Spuren Marxschen Philosophie (aber auch auf den Spuren des klassischen deutschen Idealismus und anderer gegenwärtiger Denkweisen) die wesentlichen Problemen der Welt, des Menschen und der Gesellschaft undogmatisch zu denken.
Durch die internationale philosophische Sommerschule auf der Insel Korčula (1964-1974) und die Zeitschrift Praxis (Zagreb, 1964-1974) wurde diese Gruppe ein Zentrum sozialkritischen (neomarxistischen, linksorientierten, usw.) Denkens. (Teilnehmer auf der Sommerschule und Mitarbeiter in der Zeitschrift waren u. a. Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas, Kostas Axelos, Agnes Heller, Leszek Kolakowski, Karel Kosík, usw. aber auch z. B. Eugen Fink, Ernesto Grassi, Gustav Wetter und andere prominente nicht-marxistisch orientierte Philosophen).
Die von den Protagonisten der Praxis proklamierte radikale "Kritik alles Bestehenden" provozierte eine Reaktion von der Seite der Machinhaber, mit doppelter Wirkung: die Schule und die Zeitschrift wurden abgeschaft und die dort kultivierte Denkweise marginalisiert. Obwohl die Mehrheit von der Praxis-Philosophen nicht die Idee des Sozialismus (besonders die Idee eines demokratischen und humanistischen Sozialismus) verleugnete, führte ihre Kritik und ihre Bejahung der geschichtlichen Notwendigkeit, den Sozialismus zu demokratisieren und zu entbürokratisieren zu der politischen Entscheidung, die destruktive Tätigkeit der Praxis-Gruppe zu unterbinden. Der Prozess dieser Abschaffung wurde durch eine antitetische Solidarität zwischen dogmatischen Marxisten und konservativen (am meistens ethnozentrisch orientierten) Intelelektuellen durchgeführt.
Nachdem die Legitimation des jugoslawischen Sozialismus (teilweise im Kontext des Endes des sog. real existierenden Sozialismus) nicht mehr gegeben war und die kommunistische Nomenklatur eine neue Legitimationquelle im Nationalismus fand (was besonders im Fall des „grosserbischen Projektes“ unter Milosević offensichtlich war), wurden einige Mitglieder dieser Gruppe aus Belgrad (Mihailo Marković, Ljubomir Tadić und Svetozar Stojanović) zu Ideologen, Apologeten und/oder Funktionären des kriegführenden Regimes und steuerten damit eigene Beiträge zur antitetischen Solidarität bei. Diese Wende könnte man entweder auf die Wirkung bestimmter psychologischer Faktoren zurückführen (z. B. des Willens zur Entmarginalisierung eigener sozialen Stelle) oder als Resultat eines moralisch schwachen Habitus der betreffenden Individuen sehen, aber keineswegs als eine logische Konsequenz ihrer bisherigen philosophischen Position. Ein Beweis dafür bietet auch die Beharrlichkeit der Mehrheit der Mitglieder dieser Gruppe.
Heute stellen die Philosophie und Sozialtheorie, die innerhalb dieser Gruppe elaboriert wurden, mehr oder weniger nur Geschichte dar. Die Frage, ob die Erbschaft der Praxis-Gruppe für die Zukunft der Menschheit und fürs gegenwärtige und zukunftsorientierte philosophische Denken nützlich oder relevant ist oder ob sie nur zur Historie des Denkens gehöre, sollte man versuchen, im Kontext der Gegenwart zu beantworten, also im Kontext einer Welt, die immer mehr durch den Fortschritt der Wirklichkeit antitethischer Solidarität charakterisiert wird.
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