Die Fahne

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Die Fahne

 

Im Juni 1953 wurde in der Tschechoslowakei eine Währungsreform durchgeführt. Der ungünstige Wechselkurs, der zu Gunsten der Staatskasse die Ersparnisse der üblichen Sparer verminderte, rief also Unwillen beim großen Teil der Bevölkerung hervor. Zur stürmischsten Reaktion kam es in Pilsen, wo die Arbeiter der Škodawerke in den Streik traten; ihr Protest verwandelte sich bald in eine massive antikommunistische Demonstration, die erst die aus Prag beorderten Sicherheitskräfte auseinandertrieben. In seiner Diplomarbeit beschäftigt sich 2009 der Student der Geschichte an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Ondřej Šmid mit den sogenannten Pilsner Ereignissen. In Gesprächen mit Zeitzeugen gelang es ihm folgende Zeugnisse aufzuzeichnen: 

Ich bin mir nicht sicher, dass das nach so vielen Jahren irgendjemanden interessieren wird. Aufrichtig, ich glaube nicht, dass das heute jemanden interessieren sollte.

     –

     Falls Sie sagen, dass es nur um eine Reform ging, dann gut. Aber wirklich nur um eine Reform, nicht mehr.

     –

Als ich in Pilsen wohnte, arbeitete ich bei der Bahn in der Lohnverrechnung, unser Büro war nur ein kleines Stück vom Hauptbahnhof entfernt.

Die neue Währung kam am ersten Juni, aber so eine Sache lässt sich nicht verheimlichen. In die Buchhaltung kamen schon reichlich vor Mitte Mai Leute, Lokomotivführer, Fahrdienstleiter, um unauffällig zu fragen, ob wir Frauen nicht irgendetwas wissen. Wir wussten nichts, wie sollten wir auch. Wir kannten nur Gerüchte, die unter den Leuten kursierten.

     –

Welche? Dass anstelle der Krone der Rubel eingeführt wird. Dass es gut ist, die Ersparnisse auf mehrere Sparbücher aufzuteilen, damit sie einen vorteilhafteren Kurs bekommen, denn umso niedriger die Einlagen, umso günstiger der Tausch. Das hat auch schlussendlich eine Kollegin wirklich getan, aber es half ihr nicht.

Überdies, ich hatte keinen Grund mich darum zu kümmern, auf dem Sparbüchel hatte ich nicht viel Gespartes. Sie sind noch jung, Sie haben keine Erfahrung, aber wo einmal ein kleines Kind ist, dort beginnt eins, zwei, drei das Geld zu rollen. Überdies habe ich einfältig geglaubt, dass keine Reform kommt. Vergessen Sie nicht, dass auch der Präsident im Rundfunk verkündete, dass eine Reform nicht vorbereitet wird und das unsere Währung stabil sei. Wenn er lieber, pardon, die Klappe gehalten hätte.

 An das Verhältnis wie sich die Krone änderte, erinnere ich mich heute nicht mehr genau, aber die Entwertung war größer, als erwartet.

     –

     Ich erinnere mich nur, dass ich .... Dass ich mit dem, was ich im Geldbörsel hatte, dem Bub neue Schuhe anschaffen wollte. Und ich schaffte nichts an. In den leer gekauften Geschäften ließ sich nicht einmal ein Ei ergattern, wie dann erst Kinderschuhe, und nicht einmal das Geld für sie war übriggeblieben. Zu dieser Zeit kränkte mich das ziemlich. Aber darauf werden wir nicht wieder zurückkommen.

     –

Ich war jung. Jung und naiv, auch wenn ich mich schon allein um Fanouš, ich meine meinen Sohn, kümmerte. Aber ich hatte im Ernst geglaubt, dass unser Rufen irgendwer oben erhört. Nicht, dass sie die Reformen aufheben, so dumm war ich wieder nicht, aber dass die Kommunisten darauf kommen, dass eine Menge Leute Probleme bekommen werden und dass es zusätzlich notwendig ist,  irendwelche Erleichterungen zu veranlassen. Sodass ich mich, als am Vormittag ein Spalier von den Škodawerken in Doudlevce in die Stadt kam und johlte “was steht ihr auf der Straße, kommt mit uns aufs Rathaus!”, ihnen anschloss.

Die Škoda-Werker waren schrecklich lieb, echt. Zwei von ihnen, beide wie ein Berg, stellten sich sogar nebeneinander, fassten sich bei den Armen und ein dritter setzte mich auf ihre vereinigten Arme wie auf ein Bänkchen. “Puppe Sonnenblume,” sagten sie zu mir, “Sie werden uns die Fahne machen”. Eine junge, schlanke Blondine in gelber Bluse, das ist klar, dass ich ihnen gefallen musste. So trugen sie mich auf den Armen in Front des Zuges durch die halbe Stadt bis zu den Kasernen “Fünfunddreißiger”, das erinnerte mehr an einen Erste-Mai-Umzug als an irgendeine Demonstration.

     –

     Bei den “Fünfunddreißigern” verband sich der Umzug aus Doudlevce mit dem aus dem Hauptwerk, da gingen wir schon nicht mehr in Front.

     –

     Auf dem Hauptplatz war Tschorbeis. Da gibt es auch nichts zu wundern, wenn tausende Menschen zusammenkommen und keine Führung haben. Die Burschen vom Škodawerk schickten zwar eine Delegation ins Rathaus, aber das half ihnen nicht, denn die Polizei führte sie nicht zum Vorsitzenden des Nationalausschusses, sondern stattdessen in die Zellen des Gerichts. Als sich das herumsprach, gab es einen Boro. Die vollständig betrunkenen Škodawerker stürmten in das Rathaus, begannen die Schreibmaschinen aus den Fenstern zu werfen und die Büsten Lenins und riefen über den Straßenfunk freie Wahlen aus. Naiv warteten sie auf die Amerikaner, dass sie Pilsen wieder zu Hilfe kommen, wie am Ende des Krieges, aber an ihrer Stelle kamen unsere Soldaten auf… auf grünen Tatralastwagen.

     –

     Ich weiß nicht, was sich weiter tat. Ich musste zur Arbeit zurückkehren.

Es wurde nicht geschossen, das bestimmt nicht. Das würde nicht gehen. Die älteren Frauen fielen gleich über die Soldaten her, aber keineswegs im Bösen, sie sagten ihnen, dass sie doch ebenso alt seien, wie ihre Burschen, gerade wie die Arbeiter vom Škodawerk, warum sollten sie auf sie zielen, warum sollten sie auf sie schießen? Aber was danach war, weiß ich nicht. Ich sage, dass ich weiter nicht dabei war.

Die Folge war, dass ich gekündigt wurde.

Die Leitung erklärte dies mit meiner Teilnahme an den Pilsner Ereignissen. So nannte man das offiziell. 

An weitere Einzelheiten erinnere ich mich nicht.

Nein, ich weiß tatsächlich nichts.

     –

     Bei Christi Wunden! Was würden Sie noch alles wissen wollen? Dass ich mich heute nicht mehr den Škodaarbeitern anschließen würde? Ist das notwendig? Dass wir in die bespuckte Schäferhütte in Lomnica umziehen mussten, dass sie mir produktive Arbeit in der Teppichweberei  in Sokolov gaben und dass ich zur Arbeit eine Stunde zu Fuß gehen musste, im Winter noch weiter [dýl]? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mich damit nicht abgeben will! práce hodinu pěšky, v zimě ještě dýl? Já vám přece říkala, že se o tom bavit nechci! Vždyť to nebyl ani rok, co se mi na dráze zabil muž, a voni mě kvůli tomu průvodu z Doudlevec postavili před dělnickej soud, nikdo se mě slovem nezastal, ani ženský, se kterejma jsem dělala, a vyrazili mě, i když věděli, že nebudu mít pro sebe a pro kluka ani na chleba. Fanouš přece chodil teprve do školky, nebylo mu ani pět… Stačí? Nebo byste chtěl vědět, jak večer pár dní nato zazvonili u našich dveří na Petrohradě a hrozili mi, že když se do rána nesbalim a nevystěhuju, tak mě pošlou za katr a dítě daj do děcáku? Chtěl byste vědět, že zrovna v tu chvíli, kdy mi v kuchyni mezi vypranym a ještě mokrym prádlem stál ten upocenej chlap s úřednim rozhodnutim, že zrovna v tu chvíli Fanouš čapnul rodinnou fotku, co mi stála na kredenci, a říká tomu ouřadovi: „Tohle je máma, tohle jsem já… a tátu už nemám…?“ To taky nutně potřebujete vědět, viďte! Přece ta věta… ta poslední věta maličkýho, hloupýho dítěte… já se celou tu dobu přemáhala, ale po ní mně vyhrkly slzy… já nedokázala stát a jenom jsem smrkala do ubrusu a… všechno, co bylo dál, mam do dneška jak v mlze. Pamatuju si jenom ty rance z bílejch prostěradel, co jsem měla ve vejbavě a do kterejch jsem nám balila věci a oblečení, a potom rameno vojáka, kterej mně ved před barák k náklaďáku… Fanouš ťapal vedle mě, na hlavě měl ná… nádražáckou čepici… a… a… až někde za městem jsem si všimla, že má na nohou jenom bačkory.

     –

    Že jste to ve mně nechtěl jitřit? Že ne? Pochybuju, že nechtěl, jinak byste se furt neptal! Ale hlavně, tady nejde o vás! Tady přece vůbec nejde o vás – ale o ně! O to jak se chovali, jak se jenom chovali… ty nejodpornější věci dělali vždycky Češi Čechům!

     –

    Ne…

     –

    Já… Promiňte, to nejde…

     –

    Ne, nechci kapesník… to je dobrý. Když já… já se k tomu… hrozně nerada vracim.

 

Author

Vratislav Maňak

VRATISLAV MAŇÁK (nar.