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Radka Bzonkova
Graduiertenkolleg
„Die Figur des Dritten“
Universität Konstanz
Die Hauptsache ist die Dreistigkeit zu haben, zu wissen, dass es Verse sind…
(Konflikt in der russischen Kultur der 1960er und 70er Jahre in der Sowjetunion)
In der Forschung über und in Erinnerungen an den Widerstand in der ehemaligen Sowjetunion dominieren bis heute zwei grundsätzliche Zugänge:
Auf der einen Seite gibt eine Widerstandsauffassung, die sich auf die Dissidentenbewegung bezieht; Konflikt oder Widerstand wird hier begriffen als ethische und moralische Kategorie.
Auf der anderen Seite gibt es einen Widerstandsbegriff, der sich auf die Ebene der künstlerischen Produktion bzw. des Kunstwerks bezieht; hier geht es um Widerstand als etwas, das eine neue Poetik oder allgemeiner – eine neue Ästhetik hervorbringt
In meiner Dissertation widme ich mich vor allem den Widerstandsstrategien in der Kultursphäre der sechziger und siebziger Jahre in der Sowjetunion, und das sowohl im Hinblick auf die offizielle Kultursphäre als auch im Hinblick auf die „inoffizielle“, die „andere“, die Literatur des „Untergrundes“. Ich verstehe beide Komponenten der russischen Kultursphäre (auch die „Grauzone“ zwischen beiden) als ein Ganzes, in dem die Kommunikation erschwert oder sogar versucht wurde, sie unmöglich zu machen, was zu einem Aufeinanderprallen und zu Konflikten als Ausdruck der eigenen Standpunkte und Bedürfnisse führte. Der Konflikt ist also – in der Situation der sechziger und siebziger Jahre in der Sowjetunion – eine spezifische und zugespitzte Art der Kommunikation[1].
Beide Zugänge zum Widerstand – der rein ethische und rein ästhetische – tragen noch eine tiefere Ebene des Konflikts in sich. In beiden Formen kann Widerstand als Ausdrucksform eines allgemeinen kulturellen, anthropologischen Problems verstanden werden, das in jeder Gesellschaft und Kultur anwesend ist und das in der Problematik des Wechsels der Generationen begründet liegt.
Die psychoanalytische Kulturtheorie behandelt das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen. Schon auf der elementaren Ebene familiärer Verhältnisse spielen Widerstand und Kampf eine entscheidende Rolle: in der ödipalen Konstellation hat ein Sohn zwei Möglichkeiten, ein Konflikt zwischen sich und seinem Vater zu überwinden: Der Weg der Identifikation mit dem Vater, oder der Weg der Auflehnung und des Wunsches nach Tötung des Vaters.
Diese Theorie entwickelt Rene Girard auf einem kultur-anthropologischen Niveau weiter und koppelt sie an eine neue Auffassung der Mimesis. Bei Girard ist Mimesis kein rein literarischer Begriff; vielmehr sieht Girard in der Mimesis eine Chance: „to bind together literary and anthropological questions“[2]. Girard entwickelt eine Theorie des „Rivalen“ und betont, dass Mimesis nicht nur Imitation in bedeutet, sondern dass auch Aneignung und Kampf darin steckt. In unserem Fall handelt es sich um einen speziellen Mechanismus der Kultur. Genau wie in einer Familie kommt nach einer Phase der Imitation (des Vaters durch den Sohn) eine Phase der Ablehnung und Strafe (des Sohns durch den Vater). Diese Situation mündet dann in einen Konflikt. Wenn wir über eine Kultur nachdenken, dann sehen wir eine sehr ähnliche Situation beim Wechsel der Generationen. Das Neue entsteht in einer Kultur im Moment des Konflikts und des Widerstands der Söhne gegen die kulturellen und gesellschaftlichen Kanons, Institutionen und Vorbilder der „Väter“. Unter dem Gesichtpunkt dieser kultur-anthropologischen Mimesis ist jede Kultur auf einer Wiederholung, einer Imitation und einer nachfolgenden Ablehnung, Innovation und einem neuem Ausholen gegründet. Durch diesen Konflikt werden kulturelle Werte weiter gegeben und, in Rahmen der Mimesis, Kontinuität hergestellt.
Jede Kultur muss Mechanismen und Strategien entwickeln, mit dem Problem des Generationswechsels umzugehen. In diesem Sinne bietet gerade die Kultursphäre einen Raum für noch nicht institutionalisierte Formen und Gedanken. Sie kann eine Sphäre der Diskussion und Definition verschiedener Probleme der Gesellschaft sein, eine Sphäre des „gefahrlosen Konflikts“. Das Problem der Sowjetische Gesellschaft und Kultur hat nun gerade darin gelegen, dass sie offensichtlich Schwierigkeiten gehabt hat, solche Mechanismen und eine solche „sichere Zone“ einzubauen. Die Problematik des Wechsels der Generationen mündet deshalb im Konflikt, und fast jeder Generationskonflikt wurde aus der Sphäre der Kultur in eine andere Sphäre übertragen, z.B. in die des Rechts oder der Ethik, wie man es bei den Gerichtprozessen gegen Josif Brodskij (im Jahr 1964) oder gegen Andrej Sinjavskij (im Jahr 1965) beobachten kann.
In der sowjetischen Kultur der 60-er und 70-er Jahre gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, wie die „neue“ Generation oder eine „neue“ Poetik Ausdruck für ihren Aufstand finden kann. Von der Skala dieser Möglichkeiten möchte ich hier nur zwei Extremstrategien, sozusagen die zwei Pole dieser Skala herausgreifen und Ihnen vorstellen.
Die erste Strategie bespricht ein postmodernistischer Autor und Literaturkritiker, Viktor Erofeev, in seinen Überlegungen über russische inoffizielle Literatur und Underground. Es handelst sich um eine Strategie der Attacke; Viktor Erofeev nennt sie „жизнь бунтом“ /ein Leben im Aufruhr/.[3]
Man kann zwei verschiedene Realisationen des Aufruhrs beobachten. Die erste liegt in einer „Ästhetik der Teenagerzeit“. Als ersten bewussten Schritt ins Leben bezeichnet Viktor Erofeev Zweifel über gültigen Regeln: „Этика, эстетика тинейджерства – это прежде всего поставить под сомнение то, что сделалось до тебя.“ /Die Ethik und Ästhetik der Teenagerzeit liegt vor allem darin, dass man in Frage stellt, was bis dahin gemacht wurde./ In der russischen Literatur der 60er-70er Jahre gibt es ein Beispiel für diese Tendenz in einer literarischen Gruppe mit der Name „SMOG“, was auf Russisch heißt: „Самое Молодое Общество Гениев“ /Die Jüngste Gruppe der Genies/.
Schon in der Benennung hört man die Betonung der Jugend der Autoren: sie sind die Jüngsten, die „Frischsten“, mit ganz neuen Ideen. Sie präsentieren sich als eine Gruppe, was ebenfalls symptomatisch für eine Ästhetik der Teenagerzeit ist: „Sich in ein Kreis zu vereinigen, der auf dem Widerstand gegen: в противостоянии чему-то темному и могучему“ /etwas Dunkles und Mächtiges/ gegründet ist. (Jurij Abramov)[4] In dem Manifest von SMOG aus dem Jahr 1965 ist auch ein deutliches Verachten gegenüber der älteren Generation der institutionalisierten sowjetischen Schriftsteller zu bemerken: „Мы можем выплеснуть душу в жирные физиономии «советских писателей». Но зачем? Что они поймут?“ /Wir könnten unsere Seele in die fetten Gesichte der „sowjetischen Schriftsteller schleudern. Aber wozu? Was können sie begreifen?/.
Das interessanteste an SMOG ist, dass sie keine eigene Poetik erschaffen haben. Das wichtigste für Smog war es, laut die Existenz zu verkünden, ihren Protest auszudrücken und ihre Distanz von der Kultur der Väter zu proklamieren. Die jungen Generationen „fressen“ die älteren, es geht um – in den Worten Viktor Erofeevs – um „literarischen Kannibalismus“.
Es gibt aber noch eine andere Form der Strategie der Attacke, des Lebens im Aufruhr. Dies ist eine Ästhetik: вечного бунтаря /des ewigen Rebellen/, in der das Pathos der Entdeckung, des Wegwerfens, der Ablehnung in den Vordergrund tritt. Zu diesem Typ gehört zum Beispiel der Autor Eduard Limonov, ein Schriftsteller und Politiker, der in extremistischen Parteien in Frankreich und Russland tätig war (und immer noch ist). Er baut seine Texte immer auf Opposition auf und propagiert eine Theorie des Helden. Limonov meint einen Helden, der immer in der Opposition bleibt, nie auf einen Kompromiss eingeht, ein Revolutionär bleibt und immer aktiv, tätig ist.
Dieser Typ von Schriftsteller gründet sich auf einer Opposition, die sich jeweils aus der Situation ergibt. Das Widerstand zielt nicht gegen etwas „Dunkles und Mächtiges“, sondern das Ziel des Widerstands verändert sich schnell in verschiedene Richtungen, und das bringt auch etwas neues und unerwartetes in die Texte. Ein exemplarischer Roman dieser Tendenz ist Limonovs Werk aus der 70-er Jahre „Это я, Эдичка“ /in der deutschen Übersetzung heißt das Buch „Fuck off, Amerika“/.
Die erste Extremstrategie in einer Skala des Widerstands liegt in der direkten Orientierung auf ein Objekt, auf einen Gegner, auf die Generation der Väter oder auf institutionalisierte Posten und Kanons der Kultur. Die andere Extremposition auf dieser Skala ist dadurch charakterisiert, dass der Widerstand scheinbar auf kein Objekt zielt. Man kann diesen Typ des Widerstands als Ästhetik des Abwendens bezeichnen. Auch hier gibt es zwei verschiedene Formen dieses Abwendens. Für die erste hat Ivan Achmetev eine Benennung gefunden, als er Verse von Nikolaj Glazkov zur Beschreibung einer ganzen Literaturströmung benutzt: „Какие стихи хорошие? / Те которые непохожие…“ /Welche Verse sind gut? / Die, die unähnlich sind…/[5] Die erste Frage des Lesers ist: unähnlich wem oder was? Und Ivan Achemtev antwortet: „Непохожие на советскую поэзию.“ /Unähnlich der sowjetischen Lyrik./ Diese Schriftsteller betonen eine Ignoranz gegenüber dem Kanon, mit dem sie nicht einverstanden sein. In ihren Werken ist eine „andere“ Tradition akzentuiert, die sich selbständig entwickelt, mit eigenen Klassikern und mit eigenen ästhetischen Werten. Zu diesem Typ der Schriftsteller behört auch Jan Satunovskij, nach dem ich auch meinen Vortrag benannt habe: „Главное иметь нахальство знать, что это стихи.“ /Die Hauptsache ist es, die Dreistigkeit zu haben, zu wissen, dass es Verse sind/. Jan Satunovskij steht als Autor dem Beginn des russischen Postmodernismus sehr nah, er war ein Mitglied der Gruppierung der sog. „Lianozovo Schule“. Keiner der Dichter der „Lianozovo Schule“ wurde in sowjetischen Zeitungen publiziert, sie wurden nur im tamizdat – d.h. in Periodika, die im Ausland veröffentlicht wurden – bekannt. Für diese Autoren war es klar, dass sie nicht teilhaben wollten an der sowjetischen Literatur. Das Objekt in diesem Typ des Widerstands ist durch eine Ablehnung gekennzeichnet, aber es ist klar, worum es geht. Das Hauptinteresse lag aber nicht auf dem Widerstand. Das wichtigste hier ist es, eine eigene Tradition und eine eigene Poetik zu entwickeln. Sehr oft ist dieser Typ des Autors mit einer territorialen, sozialen oder künstlerischen Dislokation verbunden.
Der letzte Typ des Widerstands, über den ich heute sprechen möchte, liegt nicht in einer territorialen Dislokation; vielmehr bezieht sich das Abwenden hier auf eine schöpferische, künstlerische Strategie. Der Kreis der Moskauer Konzeptualisten hat eine Strategie der „subversiven Affirmation“ entwickelt. Das Objekt für diese Autoren ist, auch sichtbar – der Sozialistische Realismus. Sie zielen in ihrem Schaffen aber gar nicht gegen diesen, sondern umgekehrt: „Der Sozialistische Realismus wird REALISIERT, d.h. sein Sprechen wird als Strategie, als Opfer an die Macht entlarvt und ad absurdum geführt“[6]. Das Objekt oder der Gegner wird hier von innen zerbrochen, mit seinen eigenen Worten, mit seinen eigenen Kanons, mit seinen eigenen Klischees usw. In der soc-art orientieren sich die Künstler besonders auf diese Art der Zerstörung des Gegners: wir lachen vor den Bildern von Komar und Melamid, oder vor den genialen Collagen von Vagric Bahcanjan. Wir lachen durch ihre Werke hindurch über den Sozialistischen Realismus. In diese Richtung geht auch die Ode über einen sowjetischen Milizionär von Alexandr Dmitrievic Prigov.
Bei den Werken des Dichters Vsevolod Nekrasov und denen des Malers Ilja Kabakov handelt sich um eine Orientierung auf etwas anderes: Nekrasov ist immer auf der Suche nach einer von der Ideologie nicht beschmutzten Sprache, und er findet sie in der Sprache der Straße, in der Sprache des Alltags, einer Sprache mit vielen Bindewörtern, Seufzern, Pronomen usw. Er erreicht durch seine Verse den Effekt einer Rede, die selbständig, ohne ihrem Autor lebt; sie wächst aus dem Kontext, der sowjetisch ist. Beide – der Kontext und auch die Rede von Vsevolod Nekrasov – sehen leer aus, sie sind entfremd und abgestorben.
Eine sehr ähnliche Ästhetik produziert in seinen „Alben“ und „Installationen“ Ilja Kabakov. Seine Helden sind sehr oft Jungen, seine Zeichnungen sehen wie aus einem Schulbuch aus. Er betont seine „Sohnesposition“ um zu zeigen, wie leer die „Vaterposition“ ist. Ilja Kabakov sieht nichts, wogegen ein Künstler kämpfen soll. Er ist mit Vsevolod Nekrasov einverstanden, dass die sowjetische Kultur der 70-er Jahre schon ein verknöchertes und abgestorbenes Modell war. Er macht diese Leere in seinen Installationen mit Müll und nutzlosen Dinge aus der sozialistischen Welt sichtbar.
Alle Künstler, die eine Strategie der subversiven Affirmation benutzen, zerbrechen den Kanon. Jetzt, in unserer Zeit, taucht immer wieder die Frage auf, ob ihre Abhängigkeit vom ursprünglichen Kontext so stark ist, dass sie nach zwanzig Jahre nicht mehr zu verstehen sind. Obwohl diese Künstler besonders ihre Ästhetik betonen (und nicht den Widerstand), ist es gut möglich, dass nach ein paar Jahren von diesen Autoren nur die Geste des Zerbrechens des Gegners bleibt.
Zum Schluss möchte ich wiederholen, dass ich hier nur über zwei Möglichkeiten gesprochen habe, wie Künstler in der ehemaligen Sowjetunion ihren Widerstand ausgedrückt haben. Es gab viele andere Möglichkeiten, die auch von der historischen Situation abgehangen haben – in den 60-er Jahren wurden andere Strategien benutzt als in der 70ern. Ich habe hier versucht, über die möglichst allgemeinen Strategien zu sprechen, die auch ohne lange Erläuterungen ihres Kontexts verständlich sind. Ich glaube, dass diese Methoden und Strategien bis heute aktuell sind und zu den Kämpfen in allen Kulturen gehören.
[1] Widerstand immer ein Widerstand gegen etwas ist, immer eine Reaktion ist. In einem Konflikt sind immer zwei Seiten anwesend. Zwischen den entsteht ein Feld der Kommunikation.
[2] Girard, R.: To double business bound. Essays on Literature, Mimesis and Anthropology. The Johns Hopkins University Press, Baltimor, London 1978. C. vii
[3] Eroveev, Viktor: In der Diskussion „Russischer Underground als ästhetischer Mainstream. 9.10.2003, Frankfurt am Mein. Protokolliert auf einer Kassette.
[4] Арабов, Ю.: Шинель андеграунда. Знамя №6/ 1998. С.6
[5] Ахметьев, И.: О неофициальной поэзии в «Самиздате века». // НЛО №34/ 1998. С.308
[6] Sasse, S; Schramm, C.: Totalitäre Literatur und subversive Affirmation. // Die Welt der Slaven XLII/ 1997. C.308
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