Die kulturelle Identität Centropes

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Stephan-Immanuel Teichgräber
Die kulturelle Identität Centropes

 

Dieser Text ist ein Fragment und soll auch als solches gelesen werden. Natürlich kann man mir Schludrigkeit vorwerfen, dass ich Gedanken nicht zu Ende geführt habe oder unfertige nicht gelöscht habe, aber ich wollte diese Ansätze wie Synapsen nicht tilgen, sondern den Text offen lassen, sodass er jederzeit erweitert und fertiggestellt werden kann. Zugleich impliziert er eine praktische politische Fortsetzung, die wiederum auf den Text einwirken kann, solange er offen bleibt. Ich danke der Wiener Hochschuljubiläumsstiftung für die finanzielle Unterstützung dieser Studie und besonders Hubert Christian Ehalt.

 

Wenn wir über die Identität Centropes nachdenken, wollen wir keinem neuen Regionalismus das Wort reden, sondern zu einem neuen grenzüberschreitenden Denken in Europa kommen, das zugleich nicht zu große Einheiten, sondern überschaubare umschreibt. Österreich ist mit dem riesigen Osten, in den es auf einmal nach 1989 geraten ist, einfach überfordert und kann darum keinen Platz in Europa finden. Am liebsten würde es irgendwo zwischen Frankreich und England liegen, wobei diese Abstraktion zur Zeit des Kalten Krieges durchaus möglich war, um sich möglichst nur mit sich selbst zu beschäftigen.

Um aus diesem Dilemma herauszufinden, ist eine kleine übersichtliche Region wie Centrope, die sich zudem politisch als Einheit gegründet hat, ein willkommenes Modell für Europa, denn erst in diesen übersichtlichen grenzüberschreitenden Regionen kann sich Europa neu definieren. Der Nationalismus der vergangenen zwei Jahrhunderte hat sich als unbrauchbar erwiesen und zu den zwei Weltkriegen geführt. Die kapitalistische Weltordnung braucht heute zur Ausbeutung diese Nationalismen nicht mehr und die unterdrückten Klassen können sich durch das Klammern an die Nation nicht vor der Machtlosigkeit und Verarmung retten. Nach Wallerstein wird die kapitalistische Eroberung der Welt häufig in einer „theologischen Sprache“ oder in einer Sprache, die von einem säkularen Weltbild ausgeht, vorgebracht. (Wallerstein 2006, 1) Aber auch die Opfer und die Gegner dieser kapitalistischen Weltherrschaft benutzen mythologische Elemente, entwickeln eine eigene Mythologie, wie der Sozialismus im vergangenen Jahrhundert gezeigt hat, sodass die Kritik an der theologischen Sprache, an politischen Religionen wie bei Vögelin oder Mythologisierung des Sozialismus nicht den Kern trifft. Die Verlierer der Globalisierung und der Revolution von 1989 müssen sich über die Landesgrenzen zusammenschließen, um gemeinsame Gesellschaftsmodelle zu entwickeln und sie dann gemeinsam umzusetzen. Dies nicht zu tun, ist ein Fehler der heutigen Gewerkschaften, der ihre allgemeine Krise verstärkt. Sie brauchen nicht nur eine moralische Erneuerung, sondern ein Solidaritätsgefühl oder besser Solidaritätsbewusstsein, dass Streiks um höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen nicht an den Landesgrenzen halt machen dürfen.

Die Revolution von 1989 war keine „Wende“ und begann nicht mit Jan Pavel II., sondern mit der Perestrojka, die eine neue gerechte Gesellschaft aufbauen wollte, nur hat der Westen versäumt, dasselbe zu tun und so ist die Revolution zu einer Wende verkommen und gescheitert. Der Westen hat sich nur bemüht seine Ungerechtigkeiten möglichst weit nach Osten zu exportieren und dabei die Ansätze einer gerechten Gesellschaft, den Wohlfahrtsstaat, zerstört. Dies wird dann als „Sieg über den Kommunismus“ und „Wiedervereinigung Europas“ gefeiert, wobei zwei große europäische Völker, die Russen und die Türken ausgeschlossen werden, um so die Beute besser im Griff zu behalten. Das ist natürlich ein wunderbares Feld für postcolonial studies.

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Der kroatische Philosoph Žarko Paić weist darauf hin, dass mit der Globalisierung der Gegenstand der Soziologie infrage gestellt wird, als positive und kritische Analyse der Gesellschaft an sich, solange sie sich auf die regionale Grenzen beschränkt. Hier zeigt sich, dass das Durchbrechen der regionalen, nationalen Grenzen durch das Projekt Centrope auch sozialwissenschaftlich zur internationalen Kulturwissenschaft aufschließt. So sehen wir, dass in der Globalisierung das gegenwärtige Bild (oblik) des Imperialismus sichtbar wird. (Paić 2005, 47)

Anthony Giddens „dritter Weg“ war ursprünglich als Alternative zum Neoliberalismus der Globalisierung gedacht gewesen, was sich jetzt nach den Regierungen Blairs und Schröders als reine Illusion erwiesen hat. In Centrope hat nur Fico eine Zeitlang mit dem „dritten Weg“ geliebäugelt und ihn dann wieder ad acta gelegt. Doch verfolgt er eigentlich seinen „dritten Weg“, der eine Verbindung von westlicher Sozialdemokratie, die eine starke soziale Marktwirtschaft besitzt, und einem Nationalismus, der das Selbstbewusstsein der Slowaken stärken soll, darstellt. Der Begriff und das Phänomen der Globalisierung erfordert einen interdisziplinären Zugang, wie schon das gerade erwähnte Beispiel zeigt, wo nur Politologen und Slowakisten gemeinsam eine Einschätzung durchführen können, wegen der mehrdimensionalen Wirklichkeit, die sich in der Zeit der Globalisierung enthüllt. (Paić 2005, 53) Jedoch hat es auch vor der Globalisierung eine mehrdimensionale Wirklichkeit gegeben und es ist die Frage, ob die Menschen heute nicht mehr zur Eindimensionalität Marcuses tendieren; jedoch setzt die Identität Centropes diese Mehrdimensionalität voraus, sodass ein eindimensionaler Mensch diese Identität auch nicht erreichen kann.

Bei der Betrachtung Centropes sieht vrouwe und man, dass der österreichische Teil (Wien, Niederösterreich, Burgenland) sich wesentlich von den anderen Gebieten Österreichs unterscheidet, sowohl geographisch (es fehlen bis auf Rax, Schneeberg und Ötscher das für Österreich typische Hochgebirge) als auch demographisch. Das Gebiet ist wesentlich stärker industrialisiert, aber auch der Dienstleistungssektor und die öffentliche Verwaltung sind in Ostösterreich überproportional vertreten. Das wirtschaftliche Wachstum ist höher als in den anderen Regionen und ist nicht so stark vom Tourismus abhängig. Wenn wir uns nun die anderen Gebieten Centropes anschauen, so unterscheiden sich Bratislava, der Bratislavský und Trnavský kraj wesentlich von den anderen Gebieten der Slowakei. Ungefähr die Hälfte des Bruttosozialproduktes des Landes wird hier geschaffen. Die überregionalen Medien sind alle hier konzentriert, wobei es in Ostösterreich nicht anders aussieht, da hier alle überregionalen Medien Österreichs vertreten sind

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, wobei es jedoch keine Zeitung, kein Radio und kein Fernsehen gibt, die oder das diese Konzentration zusammenführt und überregional für Österreich und die Slowakei berichtet und sendet. Die ungarischen Komitate (Moson-Győr-Sopron megye und Vas megye) sind innerhalb Ungarns die reichsten Gebiete (nur Budapest und Umgebung ist reicher). Während die Industrie in Nordostungarn zusammengebrochen ist, prosperiert sie in diesen beiden Komitaten und zieht Arbeitskräfte aus den Nachbarländern an. Der tschechische Teil Centropes, Südmähren, unterscheidet sich durch Industrialisierung und Urbanisierung von den anderen Landesteilen Tschechiens nicht, da das Land traditionell ein Industrieland ist. Doch während Nordmähren eine Krisenregion ist, ist Südmähren eine Vorzeigeregion für die gelungene Transformation vom Staatskapitalismus

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(Tamás Gáspár Miklós) zum Privatkapitalismus. Südmähren unterscheidet sich jedoch landwirtschaftlich von dem größten Teil des Landes, indem es ein Weinland ist, wie fast die gesamte Region Centrope, was durchaus kulturell semantische Implikationen hat. Die historische Dimension, dass in Südmähren immer ein starker deutscher Bevölkerungsanteil war, der das Gebiet in allen Bereichen geprägt hat, stellt in Tschechien keine Ausnahmeerscheinung dar (das gilt auch für Südböhmen, Nordböhmen und Schlesien).

Es zeigt sich, dass Centrope aus industrialisierten und urbanisierten Gebieten besteht, die wirtschaftlich in der derzeitigen Marktwirtschaft sehr erfolgreich sind und außerdem durch eine ähnliche strukturierte Landwirtschaft gekennzeichnet werden. Die Vorurteile, die die einzelnen Nationen gegeneinander oder über einander haben, finden in Centrope keine Bestätigung. Die Österreicher in Centrope sind den Tschechen und Ungarn technisch und wissenschaftlich nicht unterlegen, die slowakischen Ingenieure brauchen sich vor den tschechischen, ungarischen und österreichischen nicht zu verstecken. Ein Zusammenwachsen der Region scheint unausweichlich, sobald man sich sprachlich verständigen kann und es muss eigentlich nur vor der Gefahr gewarnt werden, dass sich Centrope nicht von den anderen Teilen ihrer Länder abkoppeln, weil sich diese wirtschaftlich nicht so schnell entwickeln.

Österreich ist seit der Waldheimaffäre damit beschäftigt, seine Identität neu zu bestimmen, da ein grundlegendes Element der Selbstbestimmung nicht mehr funktionierte, Österreich als erstes Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands zu sehen. Die Slowakei ist seit der Samtenen Revolution (Sametová revolucia) mit der eigenen Identität beschäftigt. (Košťálová 2003, 7) Dagegen war Während in Frankreich schon in den siebziger Jahren die Identität ein Modethema war, wenn wir Lévi-Strauss Glauben schenken, ist das Thema der Identität erst Ende der achtziger Jahre in Mitteleuropa angekommen. (s. L’ identité 1977, 7)

 

Der philosophische Begriff der Identität

Der Begriff bei Aristoteles und „nous“ bei Platon als Vorwegnahme der Identität

Platons Identitätskonzeption bezieht sich auf eine deduktive Identität, sie ist auf eine Wahrheit ausgerichtet, die vor der Geburt liegt und durch Anamnesis gewonnen wird, durch ein Erinnern an eine Wahrheit, die vor der Geburt des einzelnen Individuums liegt. (Chen 2006, 26) Eine solche Konzeption wäre für Centrope durchaus denkbar und wird auch von nicht wenigen in Centrope vollzogen, indem sie auf sich auf Österreich-Ungarn oder auf ihre Ahnen in der Monarchie beziehen; genauso häufig wird gerade von Angehörigen der alternativen Szene, von politisch links und von dezidiert westlich Eingestellten, dieser Identitätsbezug vehement abgelehnt, weil sie sich ihn nur als eine rückwärtsgewandte Rekonstruktion vorstellen können. Eine solche deduktive Identität hat aber noch einen ganz anderen Fehler, Mangel, Nachteil, der darin besteht, dass alles, was zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute liegt, ausgeblendet und weder nachgeholt noch eingeholt wird. Eine induktive Identität verzichtet dagegen auf jede Habsburgnostalgie und auf das Vergessen der jüngsten Vergangenheit.

Wer legt in Centrope die Wahrheit fest? Was ist die Instanz, die diesen Anspruch stellen kann? Gibt es ganz verschiedene Wahrheiten, die scheinbar unberührt, ohne sich gegenseitig ins Gehege zu kommen, nebeneinander existieren?

Giovanni Leghissa verwandelt die Aufklärung, aus der Epoche wird ein Ethos, der Entwurf einer modernen Einstellung, ein Ethos, der von dem Ort definiert wird, den man Modernität nennen kann, all unser Reflektieren über die Gegenwart ist ihre Geschichtlichkeit. Hier spielt also die Postmoderne keine Rolle. Bei der Aufklärung in Centrope muss immer daran gedacht werden, dass damit weniger  Kant und die Weimarer Klassiker gemeint sind, sondern die Josephinische Aufklärung.

Bei der philosophischen Bestimmung der Identität dieser Region müssen wir diese auch in den anderen Sprachen Centropes durchführen und es ist schon ein Widerspruch, wenn wir diese Gedanken nur auf Deutsch niederschreiben. Denn wie können wir die „slovenskosť“ aufheben, wenn wir nicht über die „totožnosť“ von Centrope nachdenken. Es ist also unvermeidlich Begriffe wie „azonosság“, „totožnost“, «истоветност», «идентитет» und «aynılık» ebenso herauszuarbeiten, mitzudenken und zu fragen, ob sie wirklich nur eine Übersetzung des deutschen Begriffes Identität sind. Wenn wir von der Übersetzung von einer Kultur in eine andere zu der Übersetzung von einer wissenschaftlichen Disziplin in eine andere übergehen, was an sich ein ähnlicher Vorgang ist, stellt sich bei der Transformation einer Aussage aus einer Disziplin in eine andere die Frage, ob diese legitim ist, was wiederum eine Instanz ins Spiel bringt, die darüber entscheidet. (Leghissa 2005, 36) Genauso stellt sich die Frage, wer entscheidet, ob eine Übersetzung aus einer Kultur, aus einer Semiosphäre in eine andere gerechtfertigt ist und wo wir diese Instanz in Centrope finden.

Kultur und Technologie bleiben in Zeiten der Globalisierung keine getrennten Bereiche - was zuvor vielleicht auch  nicht waren – sondern bilden ein Ganzes (Leghissa 2005, 50); so ist die Automobilindustrie in Centrope genauso ein Bestandteil der Kultur wie die Informationstechnologie. Hier sieht man auch, dass die postindustrielle Gesellschaft in Centrope nicht angebrochen ist und die Abfolge Industriegesellschaft – Informationsgesellschaft keine brauchbare Vereinfachung ist. Was ist eigentlich Informationsgesellschaft? Sind die kläglichen Ergebnisses des Informationsaustausches in Centrope ein Bestandteil oder ein Ergebnis der Informationstechnologie? Leghissa verwendet statt postindustrieller Gesellschaft den Ausdruck „società industrialé avanzata“.

Natürlich ist das Christentum nicht die einzige Religion, die in Europa und in unserem Fall in Centrope mit Kultur und Bildung zu verbinden ist. (Leghissa 2005, 68) In Centrope ist es sogar sichtbar, dass der Holocaust für Kultur und Bildung eine gravierende Einbuße dargestellt hat. Aber für Centrope ist auch wichtig, wie stark der Islam auch historisch auf das Gebiet gewirkt hat. Darauf kommen wir noch einmal bei der Orientalik zu sprechen. Außerdem ist der Atheismus in Centrope eine so wichtige Angelegenheit, dass er bei der Behandlung der Religionen in Centrope unbedingt beachtet werden muss, da er in Südmähren von der Mehrheit vertreten wird, in Wien wird er als zweitstärkste Konfession angeführt, sodass er in Centrope neben dem Katholizismus der zweitwichtigste weltanschauliche Faktor ist, nur lässt sich der Atheismus nach dem Ende des realen Sozialismus schwer für ideologische Zwecke einspannen. Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist ja in erster Linie eine Angelegenheit des Atheismus, da sich politisch eher atheistische Gruppierungen und Parteien als christliche als Bundespartner anbieten. 

Jean-Francois Lyotard betont in „La condition postmoderne“, dass sich die Pilotwissenschaften seit Anfang des Zweiten Weltkrieges mit Sprache beschäftigen: in Phonologie und Linguistik allgemein (hier führt Lyotard einen Wissenschaftler  aus Centrope als Proponenten an, Nikolaj Trubetzkoy), bei Problemen der Kommunikation und der Kybernetik, in der Informatik, in der Programmierung und den Programmierungssprachen, Sprachübersetzung und die Vereinbarkeit von Automaten und Sprachen, bei Problemen der Speicherung und Datenbanken, die Telematik und die Perfektionierung intelligenter Terminals und die Paradoxologie. (Lyotard 1979, Ü: 20) Doch wurde dies in Centrope genutzt, die Vielfältigkeit der Sprachen, die in Centrope gesprochen werden? 

In Centrope werden vier Landessprachen gesprochen, demzufolge müssen wir bei der Ausarbeitung des philosophischen Begriffes dies auch in der tschechischen, slowakischen und ungarischen Sprache vollziehen (Identität, totožnost, totožnosť, személyazonosság) und auch in den Sprachen der großen Minderheiten serbisch «истоветност», «идентитет» und türkisch «aynılık». Dadurch werden auch diese Identitätsdiskurse einbezogen, wie auch darüber hinaus allgemein der europäische und außereuropäische Diskurs über Identität.

Wo ist nun der Gegenstand des Diskurses und zugleich das Subjekt desselben situiert und zwar in den bisher auseinanderstrebenden Diskursen Centropes, wobei dies sowohl eine Frage der Machtverhältnisse ist als auch der Komplexität der theoretischen Annahmen der Diversität der Kulturen? Hier stehen wir noch ganz am Anfang, aber vielleicht können wir es folgendermaßen umschreiben. Gegenstand und Subjekt können wir nicht anders beschreiben als die Bevölkerung und die Semiosphäre, in der sich der Einzelne bewegt. (s. Leghissa 2005, 78) Das Erfahrungsfeld dieses Subjektes hängt nun essentiell in seiner Zugehörigkeit zu einer Kultur und zu einer Differenz in der Kultur von der Zugehörigkeit zu einer Klasse und zu einem bestimmten Geschlecht ab. (s. ebd.)

Da in Centrope alle bis auf die deutschsprachige Bevölkerung in der Minderheit sind, wobei auch die deutschsprachige Bevölkerung nicht die absolute Mehrheit stellt, sondern nur die relative,

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sodass die deutschsprachige Bevölkerung auch als die größte Minderheit bezeichnet werden könnte, stellt sich die Frage, wie diese Bevölkerung repräsentiert wird. Worin besteht überhaupt die Repräsentation? Eine ausschließliche Repräsentation der eigenen Bevölkerung in ihren Territorien steht eine völlig fehlende Repräsentation in den anderen Teilen gegenüber. Dort gibt es nicht ihre Zeitungen, in den Schulen wird nicht über sie berichtet, ihre Sprache ist nicht zu hören. Es geht sogar soweit, dass schon seit vielen Jahren kein Wörterbuch Tschechisch-Ungarisch im Buchhandel ist. Man wird aber auch in Österreich vergeblich ein brauchbares Wörterbuch Slowakisch-Deutsch Deutsch-Slowakisch. Es wird von den Österreichern aber auch nicht vermisst und der Markt hat bei Ihnen noch nicht das Bedürfnis danach geweckt. Wie soll bei einer so massiven Ausblendung eine gemeinsame Identität entstehen? Hybride Identitäten haben in Centrope schwer eine Chance und werden sofort stigmatisiert.

Wenn Multikulturalismus nicht nur das Nebeneinander-Bestehen von verschiedenen Kulturen ist, sondern ein gegenseitiges Befruchten, dann gibt es ihn in Centrope nicht. Was hat Centrope von der chinesischen Kultur bisher gelernt und übernommen, nachdem über dreißig Jahre eine nicht unbeträchtliche chinesische Minderheit in Centrope ist? Oder von der vietnamesischen, die noch länger in Centrope ist? Aus diesem Grunde können auch die Politiker in Centrope mit dem interkulturellen Dialog nichts anfangen. Aber das soll sie nicht rechtfertigen.

Homo Bhabha weist darauf hin, dass das Beispiel Serbiens zeigt, wohin ein ethnisch homogener Staat führt. Ein ethnisch homogener Stadt führt. „The hideous extremity of Serbian nationalism proves that the very idea of a pure, ethnically cleansed national identity can only be achieved through the death, literal and figurative, […]” (Bhabha 1994, 7) Centrope, das gerade während der Kriege auf dem Balkan für Bosnier, Kroaten aber auch Serben ein Zufluchtsort war, ist somit eine Möglichkeit, den Nationalismus zu überwinden.

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Heute scheint es nach den Texten von Foucault, Derrida, Deleuze, Lacan, Ricoeur unmöglich an dem traditionellen Konzept der Identität und Differenz festzuhalten. Wie sieht dieses traditionelle Konzept überhaupt aus? (s. Leghissa 2005, 9) Das Subjekt, das über die Identität reflektiert, muss die Differenz von „wir“ und den „anderen“, „eigen“ und „fremd“, «свой» und «чужой», „il proprio“ >< „l’ altro“ oder „il medesimo“ >< „l’altro“ überwinden, überbrücken, durchdringen und unterlaufen. Dafür ist Centrope ein hervorragendes Beispiel, denn das Subjekt ist hier mehrfach gespalten und konstituiert sich erst durch die Überwindung dieser Spaltung. Die Identität wird in eine Vielzahl von Bestandteilen zerstückelt, deren Sythese ein Problem darstellt. (L’ Identité 1977, 8) Erst wenn der Österreicher in Centrope in dem Ungarn in Centrope nicht mehr den Anderen, sondern das Eigene in ihm sieht, entsteht das Subjekt und die eigentliche Identität Centropes. Das ist gerade das, was heute die mehrfachen Identitäten des postmodernen, des rezenten Menschen ausmacht. Dies trifft nun für jedes Subjekt jeder Sprache, Nationalität und Kultur zu. Erst wenn der Slowake oder Türke sich als Teil Centropes sieht, wenn der Slowake in sich den Türken entdeckt, wie das neueste Buch von Svetlana Žuchová zeigt, wenn der Unterschied zwischen Mehrheitsgesellschaft und MigrantInnen

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überwunden ist, wenn der Österreicher in Centrope begreift, dass er die türkische, tschechische, ungarische Komponente in seine eigene Identität hineinnehmen muss, kann das Subjekt in Centrope realisiert werden. Dieses Durchdringen ist die Zirkulation der Differenzen, durch die nach Deleuze Identität erzeugt wird. (Chen 2006, 31) Dies produziert eine Streuung, eine Dissemination der Formen, in denen sich das Subjekt in seiner Identität zeigt, ausdrückt und reproduziert. Doch stehen diese Formen nicht einzeln in verschiedene Identitäten zersplittert da, sondern werden zu einem Subjekt, das Centrope eigen ist, integriert. Kann die Identität heute von außen zugeschrieben werden? Das dies nicht funktioniert, lässt sich in Centrope anschaulich nachvollziehen. Die Zuschreibung Osten für die Anderen in Centrope von Seiten der Österreicher, kann von den Slowaken, Ungarn und Tschechen nicht nachvollzogen werden, was dazu führt, dass das Bildungsniveau der Zuschreibenden in Zweifel gezogen wird. Nach Wallerstein sprechen „die Führer der paneuropäischen Welt von den nichteuropäischen Ländern als den anderen.“ (Wallerstein 2006, XIII) Die österreichische Öffentlichkeit meint jedoch mit dem Anderen seine europäischen Nachbarn, freilich nicht alle, sondern die, die unter dem Kollektivum „Osten“ subsummiert werden. Im Falle Centropes die Slowakei, Ungarn und Tschechien. Damit schließt sich Österreich entweder aus dem europäischen Kontext aus, wird zu einem nicht europäischen Land; oder es nimmt eine postkoloniale Position ein, die Wallerstein bei den europäischen Führern im Verhältnis zu den nichteuropäischen Ländern konstatiert.

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Giovanni Leghissa spricht von einem osmotischen Verhältnis zwischen den kolonialen Praktiken und den diskursiven Praktiken, die das Ziel haben, den Ort zu bestimmen, wo sich das Anderes des Orients auftut. (Leghissa 2005, 56) Eine osmotische Scheidewand gab es und gibt es in Centrope entlang des früheren Eisernen Vorhangs, da jedoch dem steigenden Wissen in den Transformationsländern nicht eine entsprechende Zunahme des Wissens in Österreich gegenübersteht, wird der Wissensunterschied immer kleiner, andererseits brauchen die anderen Teile Centrope nicht mehr zur Gewinnung internationalen Wissens die Vermittlung Österreichs. Wenn Österreich also kein neues Wissen produziert, wird es als Informationsvermittler uninteressant, gerade wenn es selbst nicht das Wissen, das alte und das neu produzierte in den Nachbarländern aufnimmt. Dieses osmotische Verhältnis hebt sich somit nach einer gewissen Sättigung selbst auf und müsste durch eine Diffusion ersetzt werden. Solange dies nicht passiert, droht diesem Teil Centropes die intellektuelle Auszehrung. Also auch aus diesem Grunde ist es wichtig das Projekt Centropes voranzutreiben.

Die Vermittlung des Wissens dient nicht dazu eine Elite zu bilden, um Centrope in seine Emanzipation zu führen, obwohl dies für Teile Centropes durchaus verlockend wäre – weg von dem Zentralismus aus Prag und Budapest – denn dies wäre nichts anderes als ein versteckter Zentralismus, der von Wien ausgeht. Wovon sollte Centrope denn befreit werden? Hier zeigt sich, wie bisher der Begriff Nation missbraucht wurde und dass er überhaupt eine sehr zweifelhafte Sache ist, weil Emanzipation im Rahmen einer Nation meist Rückschritt, Reaktion bedeutet, wie das deutsche Beispiel 1989 zeigt.

Wenn Lyotard darauf hinweist, dass es in der Vermittlung des Wissens einzig und allein darauf ankommt, Kompetenzen zu bilden, dann sind wir bei dem Kernpunkt Centropes, denn bisher gibt es nur eine „Elite“, der diese Kompetenzen für Centrope völlig fehlen. Darum liegen auch millionenschwere EU-Projekte auf Eis. Es genügt aber nicht kompetente Ärzte, Professoren, Ingenieure usw. heranzubilden, sie müssen dann aber auch die Möglichkeiten haben, ihre Fähigkeiten in den richtigen Positionen einzusetzen; denn häufig werden entsprechende Fachleute in Centrope falsch oder gar nicht eingesetzt. (s. Lyotard 1993, 142)

Können die Teile Centropes, die von Österreich heute postkolonial behandelt werden, nicht sprechen? Doch, nur Österreich kann nicht zuhören und darum wenden sie sich lieber nach Brüssel. Dieses zwanzigjährige Taubstellen hat vielleicht eine stille Ausplünderung ermöglicht, hat aber dazu geführt, dass der österreichische Teil Centropes sich nicht mehr artikulieren kann, ist doch auch das Bildungsniveau in den anderen Teilen viel höher; wie soll man sich gegenüber jemanden äußern, den man nicht kennt und den man auch nicht kennenlernen will. 

Orientalik

Versuchen wir eine gewagte These: Centrope kann auf eine längere Tradition des Orientalismus verweisen und zurückgreifen und deren Fortsetzung ist die heutige Vorstellung vom Osten in Centrope, die in Österreich etwas bizarre Züge annimmt. Eigentlich wäre es dem Deutschen angemessener von Orientalik zu sprechen und da diese Tradition etwas anderes ist als der Orientalismus Saids, werden wir vielleicht besser dieses Wort verwenden. Die Orientalik ist in Centrope hauptsächlich mit dem Barock verbunden – wir dürfen ja nicht vergessen, dass bis 1683 ein Viertel Centropes der Goldenen Pforte unterstanden – und hielt sich noch bis in den Rokokko und hat damit nicht so sehr exotische als nostalgische Züge. So wurden hundert Jahre später Deckenfresken von ruhmreichen Siegen gegen die Osmanen geschaffen. Die Orientalik bezog sich also auf eine ehemalige Spaltung Centropes, die dann im 20. Jahrhundert wieder erneuert wurde. Da der Barock für Centrope eine der bestimmenden Epochen ist, ist darum auch die mit ihm einher gehende Orientalik sehr wichtig und müsste grundlegend untersucht werden. Dabei müssen auch die zahlreichen Mythologisierungen, die damit verbunden sind, berücksichtigt werden, die letzten Endes den Sieg des Abendlandes in Centrope rechtfertigen sollen.

Spivak zeichnet den Unterschied zwischen Kolonialland und kolonialisiertem Land prägnant, dabei gab es zwar in Centrope niemals eine Kolonie, aber der Westen verhielt sich nach 1989 zu den Transformationsländern wie zu ehemaligen Kolonien, sodass Spivaks Unterscheidung auch für Centrope fruchtbar ist: das Kolonialland hat das Kapital und investiert es in das kolonialisierte Land. (Spivak 2008b, 57) Scheinbar übernimmt in Centrope Österreich die Rolle des Koloniallandes gegenüber den anderen Ländern, so haben die österreichischen Banken in der Slowakei, in Tschechien und Ungarn einen Großteil der Banken gekauft und im Banken und Versicherungswesen ungeheures Kapital angehäuft.

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Auch die Klein- und Mittelbetriebe aus Österreich haben sich in Mitteleuropa breitgemacht und sind teilweise zu Großbetrieben geworden. Aber warum hat Österreich so viel an diesen Ländern verdient und so wenig investiert? Es ist natürlich auch ein Kolonialland denkbar, das nur Rohstoffe und Sklaven herausholt, ohne zu investieren. Aber die Ursache liegt woanders. Österreich befand sich vor 1989 in der Rolle eines Landes, das sich um die Investitionen des Westens bemühte. Nach der Samtenen Revolution erhielt es auf einmal eine neue ungewohnte Rolle, die es auch bald nicht mehr spielen wird, da die expandierten österreichischen Betriebe von größeren internationalen übernommen werden (siehe Billa von Rewe, die Austria Bank von UniCredit Group). Ein letzter Versuch, sich als Postkolonialherr aufzuspielen, ist der Versuch der ÖMV die ungarische MOL zu übernehmen. So wird Centrope über kurz oder lang eine Region sein, die auf das Kapital von außen angewiesen ist, dass es in Centrope investiert wird. Dann wird es auch viel leichter sein, eine gemeinsame Identität auszubilden. Aber ist es in Zeiten der Globalisierung, angesichts der internationalen Konzerne noch sinnvoll von einzelnen Ländern und nationalen Besitzern zu sprechen? Sind Siemens und Volkswagen wirklich deutsch, Samsung koreanisch und die VOEST österreichisch?

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Die Tschechen sehen in Österreich ein mehr oder weniger sozialistisches Land, was wiederum von den Österreichern entweder nicht akzeptiert oder viel häufiger völlig ignoriert wird. Diese Identitätszuschreibungen sind heute nicht mehr möglich, weil sie von den Betroffenen nicht akzeptiert werden, doch werden sie weiterhin durchgeführt und laufen darum ins Leere, wobei sie der Findung einer gemeinsamen Identität penetrant im Wege stehen. Die Identität muss erst bewusst gemacht und herausgearbeitet werden, wobei sie nicht von außen zugeschrieben oder aufgedrückt werden kann, sondern von jedem Subjekt selbst konstruiert werden muss und so von innen heraus entsteht. Dies ist das Projekt der nächsten zehn oder zwanzig Jahre, das unverzüglich in Angriff genommen werden muss.

Haben sich die ehemals sozialistischen Länder, in denen Centrope liegt, in den Westen integriert? Dies haben sie zweifellos in vorbildlicher Weise erfüllt, Centrope ist keine Krisenregion und die ehemals sozialistischen Gebiete helfen heute, dass die westlichen Konzerne und die Klein- und Mittelbetriebe ihr Kapital akkumulieren (VW, Bombardier, Samsung, Peugeot). Doch offensichtlich haben sich die einzelnen Teile Centropes separat in den Westen integriert, sodass sie jetzt wie zufällig nebeneinander liegen. Dies führt dann auch dazu, dass sich jedes Land allein nach Brüssel wendet. Was also aussteht, ist die Integration Centropes. Ein Versuch zu einer mitteleuropäischen Zusammenarbeit stellt die Visegrádgruppe dar, aus der sich aber Österreich immer bewusst herausgehalten und dagegen strategische Partnerschaften vorgeschlagen hat, wo es nur zu offensichtlich war, dass Österreich den Führungsanspruch stellte. Ein andere Versuch war die Zentraleuropäische Initiative, die zwar eine mächtige internationale Organisation geworden ist, aber in der Bevölkerung und in der medialen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird und so scheinbar zu einem sich selbst genügenden Beamtenapparat wird.  

Heute wird niemand, der von außen kommt, den Centropäer als solchen erkennen und ein Centropäer der sich nach außen begibt, wird nicht als solcher erkannt, was durchaus im Verhältnis zu den anderen Identitäten von Vorteil ist.

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Andererseits unterliegt er falschen Zuschreibungen wie „Leute aus dem Osten“ (was innerhalb Österreichs nur auf die Ostösterreicher zutrifft, während die Westslowaken und Westungarn innerhalb ihres Landes Menschen aus dem Westen sind). Das Klischee des Ostens, das es in Österreich gibt, ist eine Metonymie, das was ich selbst bin, schreibe ich dem anderen zu, um mich selbst davon zu befreien. So wünscht sich jeder Ostbajuware ein Westbajuware zu sein oder hält sich sogar dafür und kann von diesem Wunsch nur durch eine neue Identität in Centrope erlöst werden.

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Können wir uns diesen falschen Zuschreibungen durch die Annahme einer abstrakten, neutralen und asexuellen Identität entziehen? Im Kontext der politischen Kämpfe wird eine Reflexion der Intellektuellen nicht erwartet bzw. widmet man sich nicht der interkulturellen Reflexion. (Leghissa 2005, 10) Dies verhindert die Entwicklung der neuen Identität in Centrope und lässt befürchten, dass diese Identität, wenn sie sich entwickelt hat, von den Politikern nicht aufgegriffen und vielleicht sogar bekämpft wird, da diese von einem Denken in Wahlkreisen beherrscht sind. Thomas Pynsent spricht davon, dass Identitäten gerade von Dissidenten besonders authentisch vertreten werden und meint dabei Václav Havel. Centrope ist noch zu jung, um die ersten Märtyrer zu haben, aber die Überwindung der nationalstaatlichen Engstirnigkeit wird wahrscheinlich auf hartnäckigen Widerstand stoßen. Die Verquickung von Staatsbürgerschaft und Nation verhindert eigentlich die Annahme und Aneignung der gemeinsamen Identität, sei es in der Slowakei oder in Österreich, in Ungarn oder in Tschechien. Aus diesem Dilemma von Staatsbürgerschaft > Nation > Identität kann eine „global citizenship“ hinausführen. Im Falle von Centrope würde auch eine Citizenship der EU oder eigentlich nur der vier beteiligten Staaten dazu führen. Die Unausweichlichkeit der centropischen Identität zeigt, wenn wir einzelne Konstellationen betrachten. Wenn ich in der Slowakei lebe, soll ich die Identität der Slowakei annehmen, auch wenn ich z.B. ein Ungar bin, darf ich zwar ungarischer Nationalität sein, soll mich aber nicht unbedingt mit dem ungarischen Staat oder der ungarischen Nation identifizieren. Trotzdem bleibe ich ein Ungar in der Slowakei (es sei denn, ich lege alles ab und werde ein hundertprozentiger Slowake), der im Alltag zwar alle Rechte des Staatsbürgers hat, trotzdem sozial, im Berufsleben benachteiligt ist. Auch für die Roma bietet Centrope eine Chance, nicht nur Rassismus und Apartheit zu überwinden, sondern auch ihre Kultur zu entwickeln, ihre Sprache zu kodifizieren und zu unterrichten, nicht nur den Roma, sondern allen Centrope Bewohnern. In Österreich sieht das nicht anders aus. Ein erfolgreich integrierter Türke, der also die Staatsbürgerschaft bekommen hat, soll nun aus diesem Grunde ein Österreicher sein. Die nationale Identität wird ihm also eher aufgezwungen als angeboten, umso besser stärker er sich mit Österreich identifiziert, umso besser für ihn. Das Hereintragen von türkischen Problemen nach Österreich sollte er tunlichst unterlassen. Die Identität Centropes enthält ein evolutionäres Potential, das für die nationalen Politiker sehr störend werden kann und werden muss, wenn der Politiker nicht selbst diese neue Identität verkörpert. Dann finden Parteien, die auf Xenophobie setzen, keine Wähler und eine Politik, die für die „Ängste unserer Bevölkerung Verständnis haben“, wird dann überflüssig, denn diese Ängste wird es dann nachweislich nicht geben, denn der Centropäer, der die verschiedenen alten Identitäten integriert hat, in sich aufgenommen und zu einer neuen Identität umgestaltet hat, müsste dann vor sich selbst Angst haben. Nicht nur in postkolonialen Gesellschaften, sondern in Europa selbst müssen neue Identitäten entwickelt werden, wie es der Fall Centropes nicht besser zeigen könnte. Eine freigewählte Identität kann nur entstehen – und die Centropes kann nur aus einer eigenen Entscheidung kommen – wenn die Rechte für alle Menschen verbürgt sind und nicht nur den Staatsbürgern zustehen. 

Wird die Identität Centropes eine multiple, also eine plurale sein oder eine einheitliche, die sich dann gegen die anderen Identitäten wenden wird; also nicht nur räumlich, sondern in jeder Hinsicht. Also, ein Zusammenschweißen, wie es dem Nationalismus gelingt? Das ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern würde auch einem alten Identitätskonzept entsprechen, das in der Zeit der Globalisierung obsolet geworden ist, obwohl es heute weiterhin sorgsam gepflegt wird. Durch die Realisierung der Identität Centropes, wird eine zeitgemäße Identität in die Tat umgesetzt. Dann wird es nur dann möglich sein, ein Österreicher zu sein, wenn vrouwe/man oder kint auch ein Centropäer ist, dasselbe wird für Kroaten, Polen, Serben, Slowaken, Tschechen, Türken und Ungarn gelten. Die bizarre Auseinandersetzung zwischen Brünn (Brno) und Prag, ob Brünn eine zweite tschechische Metropole sein kann oder nicht, wird dann gegenstandslos, da sich der Brünner in seiner neuen Identität auf Prag genauso bezieht wie auf Budapest und Wien. Wenn sich Brünn heute als Alternative zu Prag sieht, so wird es morgen auch eine zu Budapest und gerade Wien sein. Schon heute ist Brünn im Verlagswesen und in den Printmedien wesentlich stärker als Wien. Dasselbe trifft auch auf die anderen Städte in Centrope zu, so ist Bratislava (Pressburg/Pozsony) als Fernseh- und Filmstadt eine echte Alternative zu Wien. Auch die soziale Bestimmung hört nicht bei Mittelstand, Oberschicht, Proletariat und prekären Intellektuellen auf, sondern zugleich gibt es die gemeinsame Identität in Centrope. Dann können nicht wie heute durch die sogenannten Beschäftigungsfristen die Facharbeiter innerhalb Centropes gegeneinander ausgespielt werden. Der Arbeiter oder Handwerker aus der Slowakei oder aus Tschechien muss im österreichischen Teil als schwarz Arbeitender oder als Scheinselbstständiger seine Haut zu Markte tragen. Dadurch werden die österreichischen Beschäftigten in eine postkoloniale Haltung getrieben und immer mehr Beschäftigte sind nicht mehr wettbewerbsfähig und verschwinden vom Arbeitsmarkt. Dieses führt unmittelbar zu einer Senkung des Bildungsniveaus und der Qualifikation, denn wie soll sich jemand bei der ständigen Jagd nach Arbeit wirklich weiterqualifizieren. Außerdem zieht jede höhere Qualifikation ein Recht auf einen höheren Lohn nach sich, was wiederum die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verringert. Was bedeutet nun das neue Identitätsbewusstsein in Centrope? Streiken die Arbeiter in einem Teil Centropes z.B. die Eisenbahner, dann wird das diesen nicht gleichgültig sein, sondern sie werden sich im besten Fall daran beteiligen. Heute sagen die Eisenbahngewerkschafter, wenn jemand in Centrope streikt, besteht unsere Solidarität darin, dass wir nicht mit unseren Zügen dort hinfahren. Die Medien vermeiden nach Möglichkeit von solchen Streiks zu berichten, da es noch kein Identitätsbewusstsein von Centrope gibt. Da der identitätsbewusste Centropäer über die entsprechenden Sprachkenntnisse verfügen wird und über das Internet Zugang zu allen Medien in Centrope hat, kann er sich rechtzeitig informieren und zeitgerecht handeln. Dies wird dann entweder zu einer entsprechenden Bewegung am Medienmarkt führen, sodass Medien, die nur über einen Ausschnitt der Welt berichten, nicht mehr gekauft werden, oder zu einer grundlegenden Umgestaltung der Medien. Die neue Identität wird dazu führen, dass niemand eine Initiative unterstützen wird, wenn die Facharbeiter schlecht ausgebildet sind, die z.B. nur slowakische Arbeiter besser qualifiziert.

Die neue Identität entsteht dadurch, dass das Andere in seine Welt («свой мир») einbricht, in unsere Semiosphäre, sei es die slowakische, ungarische,

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tschechische in die österreichische, sei es die slowakische in die ungarische oder die österreichische wiederum in die slowakische, ungarische und tschechische Semiosphäre. Dieses Einbrechen ist sozial konnotiert, sind es in Österreich die slowakischen Pflegerinnen, so sind es in der Slowakei, in Ungarn und Tschechien die österreichischen Banken und Unternehmer.

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Dabei ist dieses Einbrechen an sich nichts neues, sondern stellt einen früheren Zustand, der bis 1918 existierte, wieder her. Trotzdem ist die Semiosphäre, die bis vor 1918 eine gewesen ist, doch eine ganz andere, als die, die seit 1989 entsteht. Diese Differenz zu beschreiben, ist die Aufgabe dieser Studie. So ist gerade die Philosophie

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von dem Wunsch erfüllt, ein neues Instrumentarium ins Treffen zu führen, um dieses Andere, seine Stimme aufzunehmen, um den Gegensatz zwischen „чужой“ und „свой“ aufzuheben, um das Fremde, das eigentlich schon einmal Dagewesene, zum Eigenen werden zu lassen. Darum muss ein radikaler Schritt getan werden, um hier im Kleinen ein globales Neuüberdenken der philosophischen Probleme in einer kulturellen Perspektive zu vollziehen. (s. Leghissa 2005, 17) Dies erlaubt ein globales Neudurchdenken des Verhältnisses von Philosophie und westlicher Tradition, es erlaubt auch das Fragen nach der privilegierten Natur dieses Verhältnisses. (s. auch Chen 2006, 12) Geht die Schaffung einer neuen Identität von der österreichischen Seite in erster Linie von den Unternehmern aus, so treiben die Bildung der neuen Identität von slowakischer und ungarischer Seite eher die Unselbstständigen und Scheinselbstständigen voran. In Südmähren bezieht sich die neue Identität weniger auf die anderen Teile Centropes als auf die Ausbildung eines eigenen regionalen Selbstbewusstseins im Gegensatz zu Prag.

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Dies schließt jedoch den Einbruch, das Eindringen österreichischer Unternehmen/er nicht aus, sodass allgemein die Ausbildung eines Centropebewusstseins zu einer sozial und klassenbedingten gespaltenen Einstellung führt. Unterstützt in Österreich die sogenannte Wirtschaft, also ein wesentlicher Teil der Oberschicht diesen Prozess, wird er von slowakischer und ungarischer Seite, aber auch von den Migranten in ganz Centrope, von den Machtlosen unterstützt.

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Ist es nun so, dass in jedem Individuum in Centrope eine virtuelle Plurikulturalität schlummert, wie Chen behauptet? (Chen 2006, 17) Dies würde für Centrope große Hoffnungen wecken und aus diesem Grunde greifen wir auch auf diesen jungen Philosophen zurück, weil er geradezu ein Konzept für Centrope entwirft. Bisher scheint der Mensch in Centrope noch nicht für alle Kulturen empfänglich zu sein und es ist nur eine Avantgarde im kulturellen Sinne, die diese Haltung einnimmt.

Jeder Gesprächsteilnehmer sollte bei dem anderen in diesem neuen Raum der Identität voraussetzen, dass dieser über einen wahren Diskurs verfügt, wie er selbst. Dies setzt zuerst und vor allem voraus, dass sie dieselbe Sprache sprechen. Die Sprechenden sollten in der Lage sein, Meinungen, Überzeugungen, Positionen, Lebenseinstellungen auszudrücken, die unabhängig von ihnen existieren. Dies öffnet nun Stereotypen Tür und Tor, wenn die Sprechenden nicht fähig oder willens sind, diese loci cummuni zu überprüfen. (s. Leghissa 2005, 24) Gibt es überhaupt die Endoxa als herrschenden öffentlichen Bedeutungs- und Auslegungshorizont einer kulturellen Handlungswirklichkeit, einen gemeinsamen kulturellen Wissensbereich, in Centrope? Offensichtlich gibt es diese nicht und es ist eine Aufgabe der Identitätsfindung diese herauszubilden; die Medien nehmen in Centrope nicht ihre Funktion war, ein Diskussions- und Diskursforum zu sein, sondern bilden partikulare Öffentlichkeiten heraus, die sich gegenseitig nicht wahrnehmen, wodurch eine recht bizarre Situation entsteht. Es herrschen in den einzelnen Öffentlichkeiten Überzeugungen, die von den anderen überhaupt nicht geteilt werden. Es werden auch parallel öffentliche Diskussionen über dasselbe Thema geführt, ohne dass es die einzelnen sich selbst genügenden Gesellschaften bemerken.

So sind die herrschenden Ideen, die allgemein akzeptierten Überzeugungen äußerst widersprüchlich, sodass ein gemeinsamer Diskurs in Centrope erst hergestellt werden muss, der – und das ist gerade das interessante daran – nicht der Mainstream sein kann, da dieser schon existiert. Kann es verhindert werden, dass dieser Diskurs wieder die Ideen und Überzeugungen der herrschenden Klasse, also der Bourgeoisie sind? (s. Bauer 1975, 100) Da stellt sich die interessante Frage, ob sich in Centrope seit 1989 überhaupt eine Bourgeoisie herausgebildet hat.

Die Freiheit des Individuums wird nach Bataille nicht nur durch die Freiheit der anderen eingeschränkt, sondern durch die Grenzen des Volkes. (Bataille 2005, 17) Aber auch Chen und Paić meinen, dass sich eine Kultur nicht in die Grenzen einer Nation oder Gesellschaft zwingen lässt. (Paić 2005, 50) Diese Grenze werden aber durch die künftige Identität Centropes gesprengt  und die partikularen Öffentlichkeiten aufgelöst. Erst dann kann eine Endoxa entwickelt werden, wenn alle in Centrope ein Interesse haben, in ihrem Denken von gemeinsamen Prämissen auszugehen. Nicht die Differenzen sind Grenzen, sondern durch die Differenzen der Kulturen entstehen die Grenzen des Volkes, die Grenzen der Semiosphäre, durch sie werden Übersetzungsmechanismen in Gang gesetzt. Würde vrouwe/man diesseits und jenseits Grenzen nur das Verbindende, das Gemeinsame, das Gleiche, die Invarianten suchen und finden, käme es zu keiner Übersetzung und damit auch nicht zu neuem Wissen und zur Akkumulation neuen Wissens. Das Wissen entsteht nur, wenn es versucht an dem Anderen teilzunehmen. Dies ist eine Erfahrung, die tagtäglich in Centrope gemacht wird oder auch versäumt wird. (s. Leghissa 2005, 53)

Unlängst hat Václav Bělohradský ein Buch über das Unwohlsein, den Ekel in und an der Globalisierung herausgebracht. (Bělohradský  2007) Die Unbestimmtheit der Freiheit des Subjektes oder des Akteurs in der kosmopolitischen Zivilgesellschaft ist nur die andere Seite des Unwohlseins (nevolnost) in der Globalisierung. (Paić 2005, 58)

Wenn wir in den Kulturen, an denen Centrope Anteil hat, Invarianten finden, können wir nicht dabei stehen bleiben, diese festzustellen, wie Chen ganz richtig sagt,

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sondern müssen danach fragen, worin sie sich doch von einander unterscheiden, und das können wir nur, wenn wir nach ihrem Hintergrund fragen, der in den einzelnen Fällen, Kulturen, Semiosphären ein anderer ist. Darin liegt das Wesen der interkulturellen Philosophie. (Leghissa 2005, 26) Auf diesem Hintergrund wird die Theorie aufgebaut, was sich grundsätzlich von der Überbautheorie des dialektischen Materialismus unterscheidet; wobei es sowohl um eine Frage nach dem Hintergrund, um ein Erforschen geht, als auch um ein Infrage stellen des eigenen Hintergrundes. Auf diese Weise wird der in der politischen Alltagssprache heute so häufig genannte migrantische Hintergrund zu einer praktischen Herausforderung, denn im politischen Alltag ist heute der migrantische Hintergrund eher etwas Dunkles, Verdächtiges und nicht etwas, was man erleben und selbst nachvollziehen soll, um seine eigene Identität zu bereichern und um die Identität Centropes zu erweitern. Wenn in den letzten Jahren eine nicht geringe Anzahl Tschetschenen nach Centrope gekommen sind, so steht der Bewohner in Centrope vor der Aufgabe diesen Hintergrund aufzuarbeiten und in seine Identität zu integrieren.

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Die Entwicklung der Identität Centropes tritt aber nicht mit dem Anspruch einer universellen Gültigkeit auf, sondern lässt nur die Möglichkeit offen, ein Beispiel zu sein, für ähnliche Identitätsbildungen, die der Keim für eine europäische Identität sein können. Leghissa weist darauf hin, dass es ausreicht, die Aufmerksamkeit auf die Zeckmäßigkeit zu richten, die Handlungen in den Systemen des Glaubens und der Theorie des ethisch normativen Typs nicht als Krankheit der philosophischen Sprache abzutun. (Leghissa 2005, 27)

In dem Zustand, in dem Stadium, in dem sich Centrope jetzt am Anfang des dritten Jahrtausend befindet, kann es keinen Diskurs im Sinne der interkulturellen Philosophie geben, denn die diskursive Praxis geht immer aus einer institutionalisierten linguistischen Gemeinschaft hervor und ist für diskursive Praktiken, die das Funktionieren anderer Institutionen bestimmen und reglementieren, undurchlässig.

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Dieser Diskurs wird erst möglich sein, wenn sich Centrope als eine linguistische Gemeinschaft konsolidiert hat, wenn es eine gemeinsame Sprache gefunden hat, sei dies eine natürliche Sprache oder sei es, dass die Gemeinschaft über mehrere natürliche Sprachen gemeinsam verfügt. (s. Leghissa 2005, 27) Die Institutionen (Schulen, Hochschulen, Massenmedien, kulturelle Institutionen, Kirchen), die die Identität bilden sind in einer Gramcsischen Lesart die Hegemonieapparate der bürgerlichen Gesellschaft. (Albers 1983, 41) Eine Institution schließt nach Lyotard im Unterschied zur Diskussion bestimmte Aussagen aus, die in ihrem Rahmen unmöglich sind. (Lyotard 1993, 60) Diese Verbote wirken wie Filter auf den Diskurs und schränken so die Informationen in den Kommunikationsnetzen ein. (ebd.) Sie sind damit das Gegenteil der Übersetzungsmechanismen, von denen Lotman spricht, die den Informationsgehalt vervielfältigen. Diese Einschränkungen kommen in Centrope zu Tragen und verhindern so die Übersetzung selbst, denn das, was durch die Übersetzung möglich wäre zu sagen, wird durch die institutionellen Verbote als irrelevant oder gefährlich eingestuft. Wenn jedoch die Grenzen der Institutionen verschoben werden, dann werden dieser Informationsaustausch und dieses Anwachsen der Information möglich. (Lyotard 1993, 61)

Die Institution ist im weiteren Sinne eine sozial legitimierte Gruppe; also auch die, deren Legitimation nachträglich infrage gestellt wird und bald darauf nicht mehr denkbar ist oder auch die, die heute noch nicht denkbar ist oder allgemeiner gesagt vorher nicht denkbar ist. So waren das Kaisertum Napoleons, Konzentrationslager, und Guantanamo erst nicht denkbar und wurden später sozial akzeptiert und legitimiert, um später diese Legitimation wieder zu verlieren. Ja später wird diese Akzeptanz oder sogar ihre Existenz bestritten. Aber dies sollte nicht nur in die Richtung der Bedrohung gehen, was alles Furchtbares auf uns zukommen kann und sozial legitimiert wird, sondern auch auf neue befreiende Institutionen gerichtet sein. z. B. ein Gesundheitssystem, das von allen finanziert wird und allen zugänglich ist, wo die Großverdiener die Gesundheit der Kleinverdiener garantieren.

Bisher ist Centrope durch die Willenserklärung von Kittsee (declaration, prohlášení, prehlásenie, nyilatkozat) legitimiert, was eine verhältnismäßig schwache Grundlage ist. Eine weitere Legitimation entsteht aus der Förderung durch die Europäische Kommission. Aber es gibt bisher keinerlei demokratische Legitimierung und in der Bevölkerung, also bei denen, die Centrope aufbauen sollen, ist Centrope so unbekannt, dass es beinahe verdächtig ist. Centrope ist eine Institution, die wiederum zahlreiche weitere hervorrufen wird und hervorrufen muss. Ob dies zu den bedrohlichen oder den glückverheißenden Aussichten gehört, sei dahin gestellt. Diese Institution werden notgedrungen mit den nationalen in einer ständigen Auseinandersetzung stehen, um die nationalen Forderungen und Bedürfnisse in übernationale zu transformieren. Dadurch werden im Kleinen Institutionen europäischer Dimension aufgebaut, wie dies auch in anderen Europaregionen (Benelux, Alpen-Adria) passiert, die die antagonistischen nationalen Interessen überwinden. Das heißt, Centrope kommt dann eine Rolle der Vermittlung zwischen den nationalen Institutionen zu. z.B. gibt es im Moment eine Schulreform in Österreich und in der Slowakei, in Tschechien wurde gerade eine durchgeführt. Nur die slowakischen Institutionen setzen sich mit den Erfahrungen der tschechischen Reform auseinander. Die anderen Länder arbeiten (natürlich schaut die österreichische Ministerin nach Finnland) allein auf sich selbst gestützt, so als ob die Arbeitskräfte von morgen sich an die Grenzen von heute halten würden.

Nun zu der Rolle der Universitäten und Akademien, die daran besteht, das Wissen

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zu kanonisieren, auszuarbeiten und zu archivieren (Leghissa 2005, 28), so ist das Kanonisieren zweifellos in Centrope nicht abgeschlossen und auf manchen Gebieten noch nicht einmal begonnen. Es kann natürlich gefragt werden, ob das Kanonisieren überhaupt notwendig ist, wo doch Freud und Jakobson, beide wirkten auf dem Boden Centropes, bereit waren, auf dieses kanonisierte Wissen, das in universitären und staatlichen Institutionen zu Hause ist, zu verzichten. (Hansen-Löve// Jakobson 2007, 3) Dieses Kanonisieren kann auch erst einsetzen, wenn sich eine Endoxa ausgebildet hat, die jedoch ebenso aus dem Kanonisieren besteht, das kanonisiertes Wissen, das nur partielle Gültigkeit besitzt, entkanonisiert wird. Dies bedeutet für Centrope eine große Sichtung aller Bereiche, wobei die Kanonisierung mehrere Genrationen umfassen wird und bis dahin das Wissen in seiner ganzen Fülle vermittelt werden soll. Für alle, die sich diesem Prozess der Identitätsbildung nicht anschließen, wird eine große Verunsicherung ausbrechen, da sie keine wahren Aussagen mehr treffen können und selbst mit Aussagen konfrontiert sind, die ihrer Meinung nach keinen doxastischen Charakter tragen. Für die Universitäten und Hochschulen bedeutet das, dass sie „ihr Material, die Wissenschaft, der ‚geistigen und sittlichen Bildung (Centropes)‘ in den grundlegenden Sprachen Centropes zur Verfügung stellen muss (s. Lyotard 1993, 99).

Eine Anmerkung Lyotards zur Wissenschaft scheint mir von Bedeutung zu sein, nämlich dass die Wissenschaft, die keine Legitimität besitzt, zur Ideologie verkommt. (Lyotard 1993, 114) Hier ist die Frage, ob das nach 1989 dem Marxismus passiert ist und er diese Legitimität jetzt erst langsam zurückgewinnen muss.

Was heißt das rearrangement of desire in der Unterrichtssituation. (Spivak 2008, 3) Die Bedürfnisse der Schüler und Studenten sollen nicht mehr unterdrückt werden. So sollen sie ihre Sprachkenntnisse nicht unterdrücken und verlieren, wie es heute in Centrope der Fall ist. Bestimmte Schultypen, aber auch Studien sind eher restriktiv und verhindern die Bildung. Durch das Überschreiten der Grenzen werden neue Bedürfnisse geweckt: neue Sprachen zu erlernen, neues Radio zu hören und neues Fernsehen zu sehen, neue Musik zu hören, neue Landschaften und Sehenswürdigkeiten kennenzulernen und neue Literaturen zu entdecken. Auf die Rolle der Literatur weist Spivak extra hin, was auch nicht wundert, da sie wie Bhabha von der Vergleichenden Literaturwissenschaft kommt. (Spivak 2008, 4) Durch die postcolonial studies ist die allgemeine Literaturwissenschaft überhaupt stärker in das Zentrum der Kulturwissenschaften gerückt. Sind die Lehrer und Hochschullehrer durch diese neuen Bedürfnisse überfordert und können sie die Schüler und Studenten nur repressiv auf ihr Niveau herabziehen oder noch tiefer? z.B. Schüler aus Znojmo (Znaim) möchten mehr die ungarische Geschichte wissen. Die betreffende Schule kann einen Geschichtslehrer aus Ungarn anheuern, nur muss dieser schon vorher so gut Tschechisch gelernt haben, dass er das den Schülern in Znaim vermitteln kann. Oder eine Schule in Meidling will so guten Mathematikunterricht wie in Petržalka (Engerau/ Ligetfalu), doch muss der Mathematiklehrer aus Engerau schon entsprechend gut Deutsch können. Um dieses rearrangement of desire zu realisieren, muss ein entsprechendes Bildungsprogramm vorbereitet werden.

Das Bildungsniveau ist in Centrope äußerst unterschiedlich verteilt, so ist die Akademikerquote in Bratislava (Pressburg/ Pozsony) doppelt so hoch wie in Wien (neuere Zahlen für Centrope!), auch der Maturaabschluß pro Kopf ist fast doppelt so hoch, in den nichtösterreichischen Gebieten hat jeder Kraj, jedes Komitat mindestens eine Universität, in Niederösterreich gibt es nur eine postgraduate Universität und im Burgenland überhaupt keine. Damit hängt auch die Tatsache zusammen, dass es in Österreich sehr schwer ist, seine Diplome zu approbieren; da es zu wenige Fachleute gibt, die diese Diplome beurteilen können.

Was nach Bhabha innovativ ist, über die ursprünglichen Denkmuster hinauszugehen und die kulturellen Differenzen zu erklikatieren, das ist für Centrope ganz dringlich, denn warum werden nach neunzig Jahren bestimmte Gebiete als okkupiert betrachtet, während sie für andere Centropebewohner nicht existent sind. (Bhabha 1994, 2)

Neben der Forschung, die in Centrope gerade in den Kulturwissenschaften ganz dringend ist, tritt nach Lyotard die Lehre, die kompetente Zuhörer heranzieht, die wir im Moment in Centrope nicht haben. „Man muss also Gleiche ausbilden.“ (Lyotard 1993, 79) Diese egalitäre Forderung Lyotards hat in Centrope ganz praktische Konsequenzen, dass wir lieber heute als morgen einen gemeinsamen Lehrplan in allen Fächern brauchen, von Boskovice bis St. Gotthárd, von Amstetten bis Senec. (Bisherige Lehrpläne in Centrope besorgen! z.B. wann und in welchen Schulen wird auf welche Weise Philosophie unterrichtet?) Aber zur Vermittlung und Umsetzung dieses Lehrplanes brauchen wir kompetente Lehrer, „die erforderliche Kompetenz wird von der Position des Aussagenden verlangt“ (Lyotard 1993, 81) und die haben wir im Moment nicht.

Lyotard weist darauf hin, dass bei der Humboldtschen Universitätsgründung die Forschung und die Verbreitung der Kenntnisse nicht durch ein Prinzip der Anwendung gerechtfertigt wurde. (Lyotard 1993, 104)

So klein das Gebiet Centropes ist, so wäre doch die Idee der Archivierung des gesamten Wissens eine Aufgabe mindestens für eine Generation. Es müssten nicht nur die völlig lose und unverbunden neben einander bestehenden Wissenschaftsbestände zusammengeführt werden, sondern auch die verschütteten, aus ideologischen Gründen unterdrückten und verschwiegenen Wissensvorräte freilegt werden. Doch gerade die konstitutive Operation des Prozesses der Sedimentation des Wissens bleibt unsichtbar. (Leghissa 2005, 55)

Wenn wir die Archive und Bibliotheken betrachten, die das kulturelle Gedächtnis und die Grundlagen für die gemeinsame Identität bilden, stellen sich für Centrope drei Probleme: Was passiert erstens, wenn die Sprachen, die in Centrope gesprochen wurden, in Vergessenheit geraten? Das betrifft nicht nur Latein und in geringerem Maße das im Mittelalter verwendete Arabisch, sondern schon die Kenntnis der Fakturschrift und der Kurrentschrift bei der jüngeren Generation. Das zweite Problem entsteht dadurch, dass in bestimmten Gebieten und Städten zu einem Sprachwechsel gekommen ist, durch den die jetzt dort lebende Bevölkerung die Quellen nicht mehr lesen kann. So in Bratislava, wo aus einer deutsch-ungarischen Stadt eine slowakische geworden ist, und Brünn, wo aus einer deutschen eine tschechische Stadt wurde, wo jedoch das Deutsche weiterhin präsent ist, wie auch in Bratislava sehr viele Deutsch und/oder Ungarisch beherrschen, sodass eine Erfassung der Sprachkenntnisse in Centrope notwendig wäre. Dies sollte regelmäßig erfolgen, um festzustellen, ob sich die Bevölkerung Centropes sprachlich auseinander entwickelt oder sich annähert. So hat in den letzten vier bis fünf Jahren Deutsch als Unterrichtssprache in dem slowakischen Teil Centropes spürbar abgenommen. Dies wird mit den Übergangsfristen des österreichischen Arbeitsmarktes erklärt, der ein legales Arbeiten in Österreich verhindert und damit den Spracherwerb uninteressant werden lässt. Das dritte Problem entsteht daraus, dass innerhalb Centropes der Zugriff auf die Archive und Bibliotheken erschwert ist, einmal aus technischen Gründen – es gibt kein Bibliotheksnetz, das dem Karlsruher Katalog vergleichbar wäre – und aus sprachlichen Gründen, weil die vier Hauptsprachen nur in ihren entsprechenden nationalen Einheiten beherrscht werden. Englisch ist für die Nutzung der Archive wenig hilfreich. Für die tschechischen und slowakischen Gebiete Centropes ist die Situation etwas anders, wobei tschechische Archive von Slowaken besser untersucht werden können als umgekehrt.

Die Aufnahme des gesamten Wissens in Centrope ist keine Archäologie im Sinne Foucaults, da das Wissen in den einzelnen Teilen, Räumen, Regionen lebendiges Wissen ist und von den anderen Gebieten, den einzelnen Individuen wie auch den Institutionen aufgenommen werden muss, wobei es zugleich in unvorhersehbarer Weise transformiert wird. Im Moment verlaufen die Diskurse, denn in Centrope kann es nicht einen Diskurs geben, so, dass ständig Objekte verschwinden, indem nicht über sie gesprochen wird und dies kommt der neoliberalen Ideologie entgegen. Es wird nicht über die Armut, die exorbitante Bereicherung einzelner gesprochen – diese werden dann als Eliten bezeichnet – es wird nicht über die sozialen Konflikte und  Kämpfe gesprochen bzw. werden diese Themen in die Randzonen verbannt oder nur isoliert diskutiert. Was von der politischen Elite zu halten ist, wird auf slowakischer Seite ganz klar ausgesprochen. „[...] ukazuje – že naše obyvateľstvo skutočne má v mnohých veciach vyzralejšie nazory ako politická elita.“

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Was sind die Eliten der vernetzten Gesellschaft in Centrope? Die Mafiosi, die Banker, die Politiker, die Manager der Filialen der internationalen Konzerne, die Steuerflüchtlinge, die in den Banken Centropes ihre neue Heimat finden? Kurz gesagt, es geht um eine neue institutionelle Kultur der Informationalik oder des globalen Kapitalismus. (Paić 2005, 50) Die Macht der Globalisierung bestehe in den Möglichkeiten der Information; und hier hapert es in Centrope; darum werden auch die menschlichen Fähigkeiten, die Humanressourcen eine Identität zu konstruieren nicht ausgenutzt. (Paić 2005, 51) Paić geht in diesem Zusammenhang auf den Begriff Ulrich Becks der reflexiven Moderne ein, doch diese Reflexivität fehlt, wie wir oben schon erwähnt haben, Centrope. Die reflexive Modernisierung sei eine Modernisierung der Moderne (Paić 2005,53), die als emanzipatorisches Projekt niemals abgeschlossen wurde, wie Habermas zeige.  Die reflexive Modernisierung setzt eine Kluft zwischen der industriellen und postindustriellen Gesellschaft voraus, die wir in Centrope nicht finden können. Eine starke Industrie, die gerade im Autocluster (VW, PSA, Audi, Magna) besonders sichtbar wird, steht neben einem stark entwickelten Dienstleistungssektor, ohne veraltet und überholt zu sein. Die Rede von der postindustriellen Gesellschaft findet in Centrope keinen Signifikaten und bleibt eine Distopie. Bei der reflexiven Modernisierung gäbe es keine radikalen Änderungen in der Ökonomie, es gäbe keine Klassendichotomie, sondern eine Pluralität und Individualiserung der Lebensstile. Hier zeigt sich ziemlich klar der ideologische Charakter Becks Soziologie, die sich in Centrope als reines Abrakadabra enthüllt. Becks und Giddens Paradigma des von Innen reformierten globalen Kapitalismus als eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz sei nach Paić ein Beispiel der modernen Postpolitik mit linkem Vorzeichen. Dies geht an der Wirklichkeit Centropes ziemlich vorbei. Hier handelt es sich nicht um einen reformierten Kapitalismus, sondern um einen restituierten Kapitalismus, der eine neue Oberschicht geschaffen hat.

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Unter dem reformierten globalen Kapitalismus ist ja das Wirtschaftssystem zu verstehen, das die soziale Marktwirtschaft zurückbaut, was in Centrope nur für den österreichischen Teil von Bedeutung ist. So kam es zu einer Bedeutungsverrschiebung, dass jeder Liberalisierungsschritt und jede Verschärfung der Ausbeutung – oft unter dem Namen «Sparpaket» durchgedrückt – als Reform bezeichnet wurde, wobei diese neue Bedeutung in ganz Centrope gültig ist. Da der Mensch von Kindesbeinen an böse ist, zeigen diese Reformen das menschliche Antlitz der Globalisierung.

Paić weist auf die Angst Becks und Giddens hin, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen und dadurch als veraltete, überholte Modelle zu gelten. (Paić 2005, 57) Beck und Giddens schließen entgültig den gesellschaftlichen Gegensatz der Klassen aus («zaključuje o konačnom dokidanju klasno-društvenich suprotnosti.» Paić 2005, 58) 

Das jetzige Scheitern der kapitalistischen Ökonomie in Ungarn wird nur in Ungarn diskutiert, als sei dies ein allein ungarisches Problem. Der Diskurs blendet aber auch andere Themen, Bereiche, Objekte aus. Sei es die Geschichte der Nachbarländer, der Nachbarnationen, die Geschichte der Migranten und ihrer Länder, sei es der sozialwissenschaftliche Diskurs in Österreich, für den tschechische, slowakische oder ungarische Probleme, ja sogar die ganze Gesellschaft dieser Länder kein Thema ist. (Behandeln die Sozialwissenschaften in der Slowakei, in Tschechien, in Ungarn österreichische Probleme?) Entsprechend ist der mediale Diskurs in Centrope, der ständig Objekte, Personen und Ereignisse verschwinden lässt. Ein Minister oder ein Krimineller verschwindet mit dem Überqueren der Grenzen, die jetzt nicht einmal mehr direkt sichtbar sind, in der Anonymität. Dies zeigt, dass die Übersetzungsmechanismen, die an sich von selbst durch die Grenzen in Gang gesetzt werden, in Centrope nicht funktionieren und durch die nicht stattfindende Kommunikation auf allen Ebenen blockiert werden. Es geht also nicht um ein Vergessen, denn dem müsste ein Wissen vorausgehen, eigentlich auch nicht ein Versenken, Verstecken, denn dazu müssten die Tatsachen einmal wahrgenommen worden sein, sondern um eine völlige geistige Erblindung. Die Aufgabe ist also mehr als attraktiv; es geht darum, mehreren Millionen Menschen zum Sehen zu verhelfen.

Was brauchen wir also? Eine Analyse aller vorhandenen Konstruktionen in ihren verschiedensten Formen, um diese mit der institutionalisierten Praxis der Disziplinen zu verbinden, und das Entwerfen aller möglichen Konstruktionen und ihrer Interaktion mit der Praxis der Institutionen, seien es administrative oder wissenschaftliche. Konkret entstehen daraus eine unübersehbare Menge von Projekten, angefangen von einem gemeinsamen Arbeitsmarkt bis zur Hinterfragung der Sozialpartnerschaft, von einem gemeinsamen Forschen und Lehren bis zum Entwickeln neuer wissenschaftlicher Disziplinen. Es geht um das Entstehen eines gegenständlichen Feldes, das sich einerseits mit den schon kanonischen Diskursproduktionen auseinandersetzt und diese wieder aufsprengt, andererseits mit der ausgeführten institutionalisierten Realität, die husserlianisch als Lebenswelt bezeichnet werden kann, verflochten ist und neue Netzwerke schafft, die dann nicht mehr von den nationalen Instanzen abhängig sind. (s. Leghissa 2005, 34) Die Frage, ob eine Übersetzung, eine Transformation einer Aussage aus einer Disziplin in eine andere legitimiert ist, bringt eine Instanz ins Spiel, die darüber entscheidet. (Leghissa 2005, 36) Ob es eine solche in Centrope gibt oder ob dies nur eine realisierbare Möglichkeit darstellt, ist eine offene Frage, zudem diese Instanz in vier verschiedenen Semiosphären agieren muss. Kann die Transformation einer ethnologischen These in eine historische, die in der Slowakei durchgeführt wird, von einem österreichischen Ethnologen oder Historiker beurteilt und legitimiert werden? Wenn Centrope kein Netz der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Einrichtungen aufbaut, kann es weder zur Ausbildung einer Identität, noch zur Entfaltung der geistigen Kapazitäten kommen. Bisher gibt es für eine solche Vernetzung nur zaghafte Ansätze.

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So wird auf der Homepage des Centrope-Büros zwar eine Liste von Instituten angeführt, jedoch sind diese nicht miteinander vernetzt. In fünf Jahren gab es dreizehn grenzüberschreitende wissenschaftliche Projekte und der Bericht über diese Projekte umfasst acht Seiten.

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Da immer mehr Kompetenzen von den nationalen Parlamenten in das Europäische Parlament verlegt werden, besteht für Centrope die Aufgabe eine politische Vertretung aufzubauen, die einmal die Angelegenheiten, die besser in der Region gelöst werden sollen, wieder in seine Kompetenz bringt; andererseits sich mit den nationalen Parlamenten abstimmt und Kompetenzen von dort übernimmt, die dann länderübergreifend besser in Brüssel vertretend werden kann. Die Centrope-Versammlung ist also eine Unterstützung für die nationalen Parlamente und da Centrope die urbanste und reichste Region der vier Länder ist – sie übertrieft in dieser Hinsicht die Großregionen von Budapest und Prag, ist eine solch Kernvertretung Mitteleuropas gegenüber dem Eurosojuz auch sehr plausibel; was natürlich nicht heißt, dass die ländlichen und ärmeren Regionen eigentlich eine stärkere Unterstützung brauchten.

Für Centrope müssen auf lange Sicht Centropekader ausgebildet werden, die über ein ganz neues Wissen verfügen müssen, dass weit über das des heutigen österreichischen, slowakischen, tschechischen und ungarischen Beamten hinausgehen muss; und da stellt die Sprachkompetenz in den vier Sprachen nur die Ausgangsbasis dar. Diese Kader können die Staatsbürgerschaft irgendeines EU-Landes haben und sind nicht mehr an einen Nationalstaates gebunden, weil sie im Interesse Centropes arbeiten. Ein Centrope-Pass, also die Centropeangehörigkeit, muss mit der einzelnen Staatsangehörigkeit gelichgestellt werden. Die Centropeversammlung muss das Recht Gesetze zu erlassen haben, die von den Exekutivorganen in Centrope umgesetzt werden.

Heute wird von der unermesslich anwachsenden Informationsfülle gesprochen. Doch was bedeutet das für Centrope? Heißt das, dass die Menschen in Centrope voneinander mehr wissen als vor zwanzig Jahren? Wenn wir die Medien in diesem Raum beobachten oder wenn wir die Menschen auf der Straße befragen, so ist dies offensichtlich nicht der Fall. Im Gegenteil wissen die Menschen viel weniger voneinander als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Das Wissen von der unmittelbar in der Nähe liegenden Welt ist geschrumpft und wird immer kleiner, solange keine Gegenentwicklung einsetzt. Ein Umdenken reicht nicht, es müssen konkrete umfassende Maßnahmen gesetzt werden. Die Realisierung der Identität Centropes wird damit zumindest zu einem Arbeitsprogramm, wenn nicht sogar zu einer Evolution, die die Hüter des Status Quo genauso fürchten wie eine Revolution.

Die Angst der Wissenschaft, vom Staat vereinnahmt zu werden, fällt, solange sich die Europäische Union nicht als Staat etabliert hat, in Centrope fort, denn die Wissenschaft und ihre Institutionen sollen verschiedenen Staaten dienen. Hier zeigt sich an einem Beispiel, wie die Umstrukturierung auszusehen hat. Die Bildungseinrichtungen sollten über Centrope finanziert werden, die nationalen Bildungsbudgets werden von den einzelnen Staaten an diese Stelle (wie sie auch immer heißen mag) überwiesen und von dort aus verwaltet, umso die Unabhängigkeit vom Nationalstaat zu garantieren. 

Die kritische Praxis, die sich mit dem Archiv, eigentlich den Archiven Centropes auseinandersetzt, koinzidiert mit dem Inventar, das an sich die historische Identität der Subjekte in Centrope bildet, der sie sich kaum bewusst sind, sodass erst durch das Bewusstmachen (uvedomenie, tudatára ebred és tudatában van, uvědomení) diese Identität wirklich, real wird, was aber zugleich zu einer Erneuerung und zu einem Wiedererinnern führt. (s. Leghissa 2005, 43) Doch sind wir dann bei der rückwärtsgewandten deduktiven Identität, die Chen bei Plato aufgezeigt hat. Auch Lyotard spricht von der Anamnese der Legitimität durch die erzählende Instanz, was jedoch wie bei Chen kein Erinnern an die Geschichte ist.

Trugbilder „simulacres“

Die Haltung zur Postmoderne

Die Definition der Postmoderne, wie sie Wolfgang Welsch vorschlägt, enthält schon selbst ein Ideologem – die radikale Pluralität – das eher dem Kalten Krieg als der Zeit nach 1989 angehört,

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was auch nicht erstaunt, da Welschs Buch 1987 erschienen ist. Eine radikale Pluralität schließt die Existenz von Diktaturen ein und würde auch autoritäre und faschistische Regime dulden. Insofern ist der Begriff „radikale Pluralität“ für den Kalten Krieg brauchbar, aber nicht unbedingt für die gesamte Zeit der Postmoderne.

In welcher Epoche befindet sich Centrope? Die Entstehung der globalen Märkte kann mit der Epoche der Postmoderne zusammenfallen, soweit die Kultur postmodern ist oder sich als solche versteht, was bei Centrope größtenteils nicht der Fall ist, da Österreich außerhalb der Postmoderne steht oder sich so sieht. Wenn es zur Identität Centropes kommt, kann dann von einer neuen postmodernen Identität gesprochen werden? Oder wird sich die österreichische Haltung, außerhalb der Postmoderne zu stehen, auf ganz Centrope ausbreiten? Im ersten Fall wird sich der deutschsprachige Diskurs überrannt fühlen, was jedoch nichts daran ändert, dass der deutschsprachige Diskurs in Centrope an sich, wie wir es noch an seiner ethnozentrischen Ausrichtung zeigen, archaischer ist, als die Diskurse in den anderen Sprachen. Der zentrale Moment dieses Diskurses, der die Fragen der Identität, der Differenz, der Zugehörigkeit zu einer Rasse, zu einem Geschlecht und zu einer Nation umfasst, ist die Kultur. (Leghissa 2005, 70) Warum beziehe ich mich nicht auf die Semiosphären? Weil sich der deutschsprachige Diskurs, auch wenn er in Brünn, Bratislava oder Győr geführt wird, sich nicht ändert, ja dass sich sogar die Angehörigen der anderen Semiosphäre an die österreichische oder auch deutsche Semiosphäre anpassen, wodurch der Diskurs wie in einem Einweckglas weitergeführt wird.

Die Welt des postmodernen Wissens sei nach Lyotard als ein Spiel mit vollständigem Wissen vorzustellen. (Lyotard 1993, 152) Da die Akteure in Centrope vielmehr an einem Spiel mit unvollständigem Wissen teilnehmen, niemand weiß, wieviel der andere weiß oder nicht weiß. Gerade dies wird immer deutlicher und ist wahrscheinlich unser Wissensgewinn in den nächsten Jahren, was jedoch in einem Gebiet, in dem sich mindestens drei wenn nicht vier Semiosphären überlagern, nicht verwunderlich ist. Diese können nicht hierarchisiert werden und sind darum schwer vorstellbar, wenn Individuen verschiedener Semiosphären aufeinander treffen, miteinder kommunizieren, wenn sie eine gemeinsame Sprache finden, und trotzdem in ihren Semiosphären bleiben. (Das schließt natürlich auch Irrtümer in der Semiosphäre ein, wenn z.B. Österreicher nach Bratislava fahren und meinen, dass die Einheimischen Tschechen sind oder wenn ein Österreicher in der Slowakei in einer Buchhandlung ein slowakisches Buch kaufen möchte, aber angeblich nur tschechische Bücher findet.) 

Die Globalisierung ist an sich keine neue Erscheinung, bestenfalls ihr Name, denn sie ist dem Kapitalismus inhärent und Schutzzonen, Handelsbeschränkungen, Privilegien für bestimmte Kompanien oder Konzerne sind vorübergehende Erscheinungen.

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Die transnationalen Konzerne sind zugleich kapitalistische Unternehmen und wissenschaftliche applikative Betriebe. Dies sollte bei der Rolle dieser in Centrope beachtet werden, bei Konzernen wie Siemens, IBM, VW, Opel, Peugeot und Audi, also dem automotiven Cluster. Nach Paić sei der Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft nicht mit der industriellen Revolution zu vergleichen. (Paić 2005, 49) So sei die «neue Ökonomie», die Informationsgesellschaft und der globale Kapitalismus wirklich ein Bruch mit der Moderne und die Einführung der „Kultur der wirklichen Virtualität“, ein scheinbares Oxymoron, das Paić gern verwendet. (Paić 2005, 49ff.) Globalität sei die Notwendigkeit die lokalen-regionalen Grenzen in der Informationsgesellschaft zu überschreiten. Das ist gerade die Herausforderung, vor der wir konkret in Centrope stehen. (s. Paić 2005, 49) Die neue Ökonomie ist wahrhaftig die „postmoderne Kulturökonomie.“ (Paić 2005, 49) Hat nicht mit und durch die Postmoderne und ihre Philosophie das neoliberale Konzept der Globalisierung keine Notwendigkeit mehr, von einem Fortschritt irgendeiner Art zu sprechen? (s. Paić 2005, 52) Das Dogma des technologischen Fortschritts ist ja so wie die Idee des Fortschritts selbst schon längst aufgegeben, sei es im Detail, dass die neuen Modelle einer Maschine nicht notwendigerweise besser sind als die Vorgänger, sei es gesellschaftlich, wo in Teilen Ungarns oder Bosniens heute gehungert wird, ganz zu schweigen von der jüngsten Nahrungsmittelkrise.

Der administrative Kulturbegriff, den die öffentliche Verwaltung verwendet, wo Theater und Film zur Kultur gehören, die Jugend, die Migranten, die Stadtplanung oder der Arbeitsmarkt nicht, wird von Chen als restriktiver Kulturbegriff bezeichnet. (Chen 2006, 42)

Solange Centrope vom Eisernen Vorhang durchschnitten wurde, musste hier die Zusammenarbeit gebremst sein und die Globalisierung konnte nicht einsetzen. Doch haben die Menschen diese gemeinsame Erfahrung, in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung beschnitten worden zu sein, nur wird der jetzt einsetzende Aufholprozess in Österreich und Ungarn

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viel weniger stark empfunden als in der Slowakei und Tschechien. Österreich bremst diese Entwicklung außerdem durch politische Maßnahmen wie den Beschränkungen für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Ländern, was von den anderen Ländern als antikapitalistisch, staatsdirigistisch, ja geradezu als sozialistisch empfunden wird. Natürlich steigern diese Maßnahmen nicht die soziale Gerechtigkeit in Österreich und schützen auch nicht den Wohlstand der mittleren und unteren Schichten, da diese Einschränkungen durch Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit unterlaufen wird.

Was bedeuten diese Beschränkungen für das Land, das diese einführt? Es ist nicht nur der Versuch die Arbeitskräfte draußen zu halten (nach dem Fall der Schengengrenze ein völlig unhaltbarer Zustand), sondern auch die gesamte Kultur und Bildung, die diese Anderen repräsentieren. Das Bild, das sich die einen in Centrope von den Anderen machen, dem Anderen machen, ist zur Zeit mehr eingebildet als wirklich, wobei diese Wirklichkeit keiner Instanz unterliegt, die sie beglaubigen könnte. (s. Leghissa 2005, 52) Es wird also ein Wettkampf der Kulturen verhindert und ein Durchdringen ausgeschlossen. Das Resultat ist, dass die Ausschließenden von den Ausgeschlossenen als kulturlos und ungebildet empfunden werden, was weitgehende Folgen hat,  denn die Ausschließenden müssen nun beweisen, dass sie das nicht sind, dass sie in Kultur und Bildung mit denen, die sie ausschließen mithalten können. In Centrope findet nun dieses Spiel des Eingrenzens und Ausgrenzens statt und die Leittragenden sind die, die sich einigeln.

Mit der Entstehung, Entwicklung, Ausbildung einer gemeinsamen Identität in Centrope hört dieses Ausgrenzen, Ausschließen auf und es kommt in allen Teilen Centropes zu einem ungeheuren Anwachsen von Information. Das sind die Übersetzungsmechanismen, von denen Lotman schreibt, die dann zu schnellen Brütern neuen Wissens werden.

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Dieses Wissen nimmt dann am Spiel der Konstruktion der Identität teil, wobei diejenigen, die nicht an diesen und in diesen Übersetzungsmechanismen teilnehmen, sich selbst aus dem Spiel nehmen und nicht über dieses Wissen verfügen, was dazu führt, dass sie nicht diese Identität erwerben können und aus der Centropegesellschaft herausfallen.  

Die Identität Centropes wird zwangsläufig zu einem Wechsel in der Verwaltung und in sämtlichen Institutionen führen, seien sie öffentlich oder privat. Wenn wir die Banken in Centrope betrachten, ist diese Transformation schon in vollem Gang. So zeigt die Einführung des Euros in der Slowakei, dass sich Centrope zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum entwickelt. Die öffentlichen Institutionen hinken in diesem Prozess hinterher und die Politik kann diesen Prozess unterstützen, wie dies in der Slowakei und Ungarn passiert oder bremsen, wie es in Österreich zu beobachten ist.

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Die Identität Centropes ist und sollte also nicht mit bestimmten Rechten gekoppelt werden. Ist sie aber dann attraktiv? Dies entblößt das Wesen der Identität selbst, dass sie nicht plötzlich dem Einzelnen, dem Individuum bewusst wird, sondern dass sie aus einer Erwartungshaltung angenommen wird, harmlos gesagt, aus purer Berechnung.

Bhabha bringt hier noch den Staat, den Staatsapparat hinein, der diese repressive Identität umsetzt, indem er alle, die sich dieser nicht unterwerfen, marginalisiert. (Bhabha, XXI)

Die neue Identität kann aber auch durch den institutionellen Wechsel erzeugt werden. Auf diesen Umkehrschluss macht Spivak aufmerksam. (Spivak 2008, 3) Jedoch ist ein epistemischer Wechsel, der durch die Administration herbeigeführt wird, eher mit dem Wechsel zum realen Sozialismus zu vergleichen. Aber auch vorher gab es in Centrope entsprechende Umbrüche. So zog die Neuordnung der Verwaltung 1918 eine Transformation der Kultur nach sich, a change in human mind. Aber auch 1989 ging der administrative Wechsel dem mentalen und kulturellen voraus. Dieser Umschwung wird in Centrope allgemein als negativ eingeschätzt, auch wenn er von führenden Politikern und Meinungsmachern der Massenmedien ständig gefeiert wird. Die Identitätsbildung sollte also in Centrope den anderen Weg gehen: Es sollte die neue kulturelle Identität zur Schaffung des institutionellen Umbaus führen. Gorbatschow hatte ja für diesen Umbau das russische Wort in die internationale Presse gebracht. Der administrative Weg wäre natürlich verlockend. Dann gäbe es in Centrope ein Wirtschaftssystem (also kein Steuerdumping), ein Sozialsystem, eine Währung, ein Gesundheitssystem (keine unterbezahlten Ärzte in Ungarn), ein Bildungssystem und vier gleichberechtigte Sprachen, die jeder zumindest versteht. Es müsste geklärt werden, ob Centrope in der Nato sein möchte oder nicht, ob die Wehrpflicht generell abgeschafft wird.

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Was natürlich von allen eher gewünscht wird, dass die Identität sich irgendwie von selbst entwickelt und dann eine institutionelle Administration nach sich zieht.

Chen unterscheidet zwischen deduktiver und induktiver Identität, die erstere speist sich aus der Vergangenheit, die letztere ist wie die Identität Centropes auf die Zukunft gerichtet. (Chen 2006, 18) Die induktive Identität schließt ein Scheitern ein. (Chen 2006, 20) Es kann also sein, dass die Bewohner Centropes trotz allen guten Willens keine gemeinsame Identität erreichen, was aber sehr unwahrscheinlich ist. Die andere Möglichkeit des Scheiterns liegt darin, dass der Einzelne eine Centrope-Identität hat, aber sie nicht (wahr)haben will; so wie jemand heute einer Nationalität oder einer bestimmten regionalen oder sozialen Gruppe angehören kann und sich dafür schämt. Eine solche Identitätsverweigerung ist zur Zeit bei „Ostdeutschen“ festzustellen, dass sie, wenn sie in den Westen übersiedeln, ihre Identität verstecken. Ähnliches ist auch bei Migranten in Österreich zu beobachten, die im Mimikry ihre Sprachkenntnisse verbergen. Chen betont, dass in der Identitätsfindung die induktive Identität die bessere Wahl ist, was eindeutig für die Schaffung einer Identität in und für Centrope spricht. (Chen 2006, 20) Jedoch ist eine induktive Identität nach Chen ein Trugbild (Chen 2006, 30), ein Simulacres, was solange sie nicht realisiert ist, obwohl das nicht sehr befriedigend ist, zutrifft. Diese Identität ist zum jetzigen Zeitpunkt so etwas wie eine Utopie, was Immanuel Wallerstein vehement bekämpft (Wallerstein 1998). Aber dieses Unbefriedigende kann nur dadurch überwunden werden, dass die Identität Centropes realisiert wird. Dasselbe trifft auch im umfassenden Sinne für die europäische Identität zu. Deleuze folgend stellt das Singuläre, Einzelne, Individuelle im Vordergrund, das Expandieren muss, um die gesamte Bevölkerung zu erfassen, die bisherigen Identitäten durchdringen. Meine „Slovenskosť“ (Tatarka)

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muss sich schon auf alle in Centrope ausdehnen, ebenso deine österreichische Identität auf mich und alle anderen, wodurch diese wiederum modifiziert und etwas Neues sein wird. Dieser Unterscheidung des Singulären und des Kollektiven von Chen ist für die Identität Centropes von grundlegender Bedeutung. (s. Chen 2006, 34f.) Gibt es in Centrope eine kollektive Repräsentation und ist eine solche überhaupt möglich. Dieser Fragestellung von Spivak geht die Frage nach dem Kollektiv voraus, kann von einem solchen überhaupt noch gesprochen werden. Chen führt einen neuen Begriff, das „Multipletiv“ ein. Darunter versteht er die Heterogenität, die Zwiespältigkeit der heutigen Gesellschaft, die aus multiplen Kollektiven zusammengesetzt ist. (Chen 2006, 39) Wenn Lotman von der Heterogenität der Semiosphäre schreibt, ist es genau dies, dass der Einzelne sich in einer Semiosphäre schwer eine homogene, in sich geschlossene Identität zu legen, was jedoch immer wieder versucht wird, was zu Intoleranz und zur Ablehnung des Anderen und der Anderen führt. Das Multipletiv ist im Gegensatz zum Kollektiv ständiger Veränderung unterworfen. Wie sieht das nun in Centrope aus? Sind die einzelnen Kollektive – hier müsste erst eine Sammlung und Benennung aller Kollektive in Centrope stattfinden – wirklich so statisch, wie sie dem Einzelnen in seiner Singularität erscheinen? Bestimmt das Kollektiv das Individuum, so bestimmt dagegen das Individuum das Multipletiv und erschafft mit den anderen Individuen ständig eine neue Kultur. Das Multipletiv ist so ständig auf die Zukunft ausgerichtet. (Chen 2006, 40) Der deutschsprachige Teil Centropes nimmt eine ethnozentrische Position ein (Benoist// L’ identité), dass die Menschheit an den Grenzen des Landes, der Sprache aufhört, und ist damit archaischer als die anderen Teile Centropes, in denen die benachbarten Semiosphären nicht ausgeblendet, nicht ignoriert werden. Das Multipletiv, das Chen einführt, geht also über das Plurale und die Pluralität hinaus, die Welsch als eines der Grundmerkmale der Postmoderne ansieht, da es auch wieder die Gemeinschaft, das Kollektiv in transformierter Weise - denn der Kollektivbegriff ist für Chen an sich überholt (Chen 2006, 48) – hereinholt. Solange sich die Menschen in Centrope nicht als eine Gemeinschaft sehen (hier läutet schon bedrohlich die Schicksalsgemeinschaft, oder es ist eine Gunstgemeinschaft – erstmals seid 1918 können sie wieder gemeinsam agieren), können sie keine Identität entwickeln. Die Heterogenität Centropes setzt voraus, dass die Identität erst dann entsteht, wenn die Differenzen in der Semiosphäre von den einzelnen Individuen gedacht werden und so insgesamt und an sich erfasst werden. Es handelt sich also um eine differentielle Identität, die nicht nur für Centrope gültig ist. (s. Chen 2006, 48)

Diese differentielle Identität führt zu einem weiteren Begriff Chens, dem „Dividuum“, das Teilende, das Trennende, das der Identität primär vorausgeht. In Centrope stehen wir jetzt noch im Stadium, in dem wir nur die Teilung wahrnehmen, wenn wir sie überhaupt wahrnehmen, die Identität erreichen wir jedoch erst, wenn wir die Teilung dadurch aufheben, dass wir die Identität des Anderen in uns aufnehmen. Die Identität wird also nicht erreicht, wenn wir das Teilende übersehen, als nicht relevant ansehen, sondern durch das Wahrnehmen und Aufnehmen des Dividuums, um zu neuen Erkenntnissen und damit zu einer neuen Identität zu kommen. (s. Chen 2006, 50) Dies wendet sich aber nicht dagegen, die Invarianten in verschiedenen Kulturen aufzuspüren und aufzuzeigen, denn nur so kann auch die Differenz festgestellt werden. Aber bei Chen gibt es anschließend an Deleuze eindeutig eine Präferenz für die Differenz. Die Invarianten bringen eindeutig nur eine repräsentative Identitätskonzeption hervor. (s. Chen 2006, 51)

Die Identität Centropes besteht schon heute, obwohl sie an sich noch nicht vorhanden ist und nur von wenigen Menschen gelebt wird, denn die differentielle Identität ist ein Werden und bleibt sich niemals gleich. Die Identität Centropes geht in beide Sinnrichtungen, in die Vergangenheit und in die Zukunft, in zwanzig Jahren ist sie eine andere als in zehn Jahren und wieder in fünfzig Jahren. „In diesem Zusammenhang ist die Re-Identifikation eines „Dividuums“ als ein immer in Ausführung befindliches Ereignis betrachtet.“ (Chen 2006, 52) Hört diese Re-Identifikation auf, so wird das „Dividuum“ wieder zum Individuum, zu etwas Erstarrtem und Unveränderlichen. Das Dividuum bezieht sich durch seine ständige sich selbst und die des Anderen aufhebende Identität auf kein Kollektiv, denn es würde dieses, sobald es in das Kollektiv integriert ist, in kürzester Zeit in Frage stellen, wenn es die Aufhebung der eigenen Identität des Kollektivs in der Konfrontation mit einem anderen Kollektiv fordert und betreibt. (s. Chen 2006, 53)

Da nun die dividuelle Identität in einem Kollektiv dieses bald sprengt oder aus diesem herausfällt, hat Chen den Begriff des Multipletiv eingeführt. (s. Chen 2006, 41 u. 53) Das Multipletiv geht nicht von einer festen Identität aus wie das Kollektiv, in dem der Einzelne diese übernimmt, sie sich aneignet oder die er einfach besitzt, sondern stellt die „Summe der Dividuen“ dar. „Das Multipletiv ist beliebig teilbar als auch erweiterbar.“ (Chen 2006, 54) Das Multipletiv ist mit einem einheitlichen Identitätsbegriff unvereinbar, die Differenzen aller Dividuen machen die Identität des Multipletivs aus und da ist Chen nah an dem Begriff der Semiosphäre Lotmans, die auch immer heterogen ist. Wo liegen diese spezifischen Differenzen? Das Multipletiv ist durch eine permanente Produktion von Identitäten gekennzeichnet. So müssen wir die Frage nach der Identität Centropes modifizieren und nach den möglichen Identitäten fragen, die die Dividuen hervorbringen können und welches Multipletiv daraus entsteht.  Bei Giovanni Leghissa geht es wie bei Hsiu-e Chen um die Differenz und die Identität, um das Spiel zwischen Identität und Differenz. (Leghissa 2005, 58)

Wie sehen nun die multipletiven Repräsentationen von Centrope aus? Spivak geht von den zwei Bedeutungen für „representation“ aus als Darstellung und Vertretung. Die Darstellungen sind Formen der Differenzierungen, die das System produziert, in seinem Inneren produziert und es produziert Effekte allein dadurch, dass das eine zum anderen in Relation gesetzt wird. (Leghissa 2005, 71) Wenn die Effekte neue Erkenntnisse sind, die Sinnproduktion erzeugt, dann ähnelt dies den Übersetzungsmechanismen Lotmans, die dieser eher an die Grenze einer Semiosphäre verlegt, obgleich dadurch, dass eine Semiosphäre heterogen ist, auch eine Differenzierung innerhalb einer Semiosphäre denkbar ist. Da Centrope die ehemals äußeren Grenzen nach Innen stülpt, kann es also zu neuen Darstellungen kommen, soweit und sobald die Differenzen wahrgenommen werden.

Wenn wir von dem slowakischen Verb „predstaviť“ (vorstellen) ausgehen, können wir das Problem noch besser einkreisen, abstecken und einfangen. Wird das Verb substanstiviert, so haben wir „predstavenie“ – die Vorstellung, und zwar als Kennenlernen und als „performance“

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, dagegen ist die Vorstellung als Idee „predstava“. Die politische Vertretung, „representation“, ist dagegen „zastúpenie“ und um die geht es uns hier in erster Linie, obwohl die „predstava“ über Centrope bei den meisten Repräsentanten – „predstavitelia“ - noch recht unausgegoren und darum trüb wie der Sturm – burčak - auf den herbstlichen Weinmärkten Centropes ist. Wer repräsentiert Centrope? In seiner Gründung ist es angelegt, dass es die kommunalen Politiker sind. Doch diese vertreten ihre partikularen Interessen, sei der Bürgermeister von Kittsee oder von Wien, sei es der Landeshauptmann von Niederösterreich oder der Župan des Bratislavský krajs, sei es der Hejtman von Südmähren oder der Komitätspräsident von Vas. Es gibt also keine Repräsentation von Centrope und damit auch keine Politik für die Einwohner von Centrope. Gäbe es eine Identität von Centrope, so gäbe es aber niemanden, der sie repräsentiert und so in eine praktische Politik umsetzt.  

Die Kulturen decken sich nicht mit den Grenzen der Semiosphäre, nach Chen, sondern schließen die Übersetzungsmechanismen, die an den Grenzen der Semiosphären entstehen, ein. (s. Chen 2006, 41) Ebenso meint auch Žarko Paić, dass sich eine Kultur nicht in die Grenzen einer Nation oder Gesellschaft zwingen lässt. (Paić 2005, 50) Chen geht dann soweit, dass in einer induktiven dynamischen Identitätsvorstellung Kulturen nicht mehr strikt von einander getrennt sind, weil ihre Grenzen durch die sich ständig neu konstituierende Identität aufgebrochen werden. (Chen 2006, 41)

Die deduktive Identität, von der Chen spricht, ist häufig mit Mythen verbunden, da sie auf den Ursprung der Gemeinschaft gerichtet ist. Welche Mythen konstruieren die vier Identitäten, die in Centrope zu einer neuen Identität zusammentreten? Ist es in Österreich das Fin de Siècle, das als das Goldene Zeitalter angesehen wird und die mythisierte Gestalt Franz Josephs (s. Woldan 1996), in der Slowakei Janošik und der Partisanenkampf (s. Krekovič/Mannová/Krekovičová 2005), sind es in Tschechien die Wiedergeburt und Masaryk (Macura 1983; 1992, 1993) und in Ungarn die Stephanskrone und die Türkenkriege. (s. Tóth 2000) Die induktive Identität, die durch die Schaffung einer Identität Centropes entsteht, hat diskreditierte Vorgänger, Vorformen wie die „svetlá zitřka“ („светлое будущее“). Wie kann vermieden werden, dass die Identität Centropes in diese Lächerlichkeit verfällt? Dazu müssen wir die Utopien des Kommunismus genau untersuchen, die eine universale Geltung beanspruchten, was bei einem so partikularen Projekt wie der Identität Centropes ausgeschlossen ist. Die Begeisterung für Europa, wie sie von einigen Politikern zu gegebenen Anlässen (dem Vertrag von Lissabon) wenig glaubwürdig vorgetragen wird, hat schon Ähnlichkeit mit dem „strahlenden Morgen“ des kommenden Kommunismus.

Interkulturelle Philosophie

Eine interkulturelle Philosophie setzt die Existenz einer Philosophie voraus, die nur in einer Kultur als solche gilt und in einer anderen Kultur nicht. Gibt es so etwas überhaupt? Gibt es eine Kultur, die die Philosophie Descartes, Hobbes und Kants nicht als Philosophie akzeptiert? Dies muss auch zeitlich gesehen werden, denn was in der einen Epoche als Philosophie hervorgehoben wird, kann in einer anderen Epochen nicht als Philosophie anerkannt werden. Eine Philosophie, die nur in ihren kulturellen Grenzen als solche angesehen wird, könnte unter Umständen die russische Philosophie (Chomjakow, Berdjajew, Bulgakow, Florenskij) sein. Ein Philosoph, der nur in bestimmten Kulturen als solcher anerkannt wird, wäre vielleicht Derrida oder auch Marx. Die Kanonisierung findet meist erst im Nachhinein statt, andererseits werden bestimmte Philosophen vergessen oder ihres Status als Philosophen beraubt, wie vielleicht Lenin. Die interkulturelle Philosophie ist jedoch nicht nur eine Philosophie, die in verschiedenen Kulturen als Philosophie akzeptiert wird, sondern sie versucht innerhalb einer Kultur aus der Isolation der eigenen philosophischen Tradition auszubrechen und sich von dem beschränkten Fassungsvermögen des eigenen Denkens zu befreien. Die Philosophie sollte mit anderen kulturellen Praktiken gleichgesetzt werden, was eine Voraussetzung ist, um die Philosophie in eine praktische interkulturelle zu verwandeln, was an sich ein antiphilosophisches Unterfangen ist. (s. Leghissa 2005, 20f.) Die interkulturelle Philosophie wendet sich dagegen, dass Philosophie nur eine europäisch-abendländische Angelegenheit ist. (Chen 2006, 12)

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Aus diesem Grunde ist die interkulturelle Philosophie eine direkte Herausforderung für Österreich, da sie das österreichische Selbstverständnis radikal in Frage stellt. Österreich, seine Kultur, seine Gesellschaft sieht sich selbst als den äußersten Vorposten des Abendlandes, so können die anderen Regionen Centropes nicht dazu gehören. Österreich bietet dafür den betreffenden Regionen und den dazu gehörenden Ländern ein gemeinsames Mitteleuropa an, bestenfalls, wenn es sie nicht dem erwähnten diffusen Osten zuordnet. Natürlich kann sich Centrope als Ganzes, also nicht aus der ausschließlich österreichischen Sicht, dem Abendland zurechnen, doch würden wir uns dann der interessanten Fragestellung der interkulturellen Philosophie entziehen; es kommt nicht darauf an, die Österreicher davon zu überzeugen, dass Brno, Bratislava und Győr zum Abendland gehören, sondern wir brauchen eine Identität, die diese abendländische Philosophie nicht als entscheidende Autorität braucht. (s. Chen 2006, 15) Deshalb sind Behauptungen, dass sich die ungarische Sprache nicht zur Bildung philosophischer Begriffe eigne, doch sehr in Zweifel zu ziehen. (Nyíri 1981, 10) Eine interkulturelle Philosophie muss an dem Projekt einer Phänomenologie der Vernunft, die theologisch auf das Wiederauffinden einer Serie von Kategorien, die mit universalen Werten versehen sind, teilnehmen. (Leghissa 2005, 24) Die interkulturelle Philosophie greift eine etwas ältere Frage der Anthropologie wieder auf: Wie kann eine Anthropologie, die an der Verschiedenheit der Kulturen und zugleich an den strukturellen Invarianten interessierte Anthropologie der ethnozentrischen Gefahr ausweichen. (Benoist 1977, 13)

Die Voraussetzung zur Herausbildung der Identität Centropes ist, dass sich die Semiosphären zu einer wenn auch heterogenen Semiosphäre verbinden, zumindest dass die Übersetzungsmechanismen funktionieren und mehr Sinn produziert wird, dass die Informationen nicht auf unüberwindliche Barrieren stoßen und dadurch nicht vermittelt werden können, sodass sinnarme oder sinnleere Räume entstehen. Diese neue heterogene Semiosphäre gibt die Möglichkeit, dass Centrope zu einem diskursiven Raum wird, in der sich die Identität Centropes herausbilden kann.

Lyotard weist in seinem „Postmodernen Wissen“ darauf hin, dass das Verfügen über Information das Problem des Funktionierens der Gesellschaft sein wird. Diese Informationen werden nach Lyotards Darstellung von Apparaten verwaltet oder zumindest gespeichert, sodass die herrschende Klasse immer mehr von diesen abhängig sein werden. Lyotard nimmt dabei eine Relativierung des Klassenmodells vor – „Sie wird nicht mehr durch die traditionellen Klassen gebildet, sondern von einer bunt […] zusammengewürfelten Schicht.“ (53) – was aber allgemein für die postmodernen Denker charakteristisch ist, es war in den siebziger Jahren einfach uncool ein naiver Klassenkämpfer zu sein. Was passiert aber, wenn die Herrschenden über die Informationen verfügen und nichts mit ihnen anfangen können, andererseits sie aber denen vorenthalten, die etwas daraus machen können? Das ist gerade in Centrope der Fall, besonders in den österreichischen und ungarischen Teilen. Diese Entmündigung durch unfähige Regierende steht in einer scheinbar abhängigen Relation zur Xenophobie dieser Gebiete.

Die Identifizierung mit großen Namen wäre zur Zeit der Postmoderne immer schwieriger; dann kamen aber Gorbatschow, die regionalen Kriegstreiber in Jugoslawien, später Putin und jetzt Obama. Die Aufzählung zeigt, dass das Charisma in einer breiten politischen Skala nicht verschwunden ist. Sogar auf regionaler Ebene inbezug auf Centrope Mečiar, Haider oder Fico, wobei Haider in Kärnten heute sogar in einen Mythologisierungsprozess geraten ist.

Ebenso ist der Zerfall der großen Erzählung, was ja nichts anderes ist als das Ende der Mythologisierung der Geschichte, der Nation und der Politik ist, ein wirkungsvoller Trugschluss Lyotards war. (s. Lyotard 1993, 54 u. 112f.) Was Lyotard mit dem narrativen Wissen meint, ist eigentlich gerade die Mythologie der Gemeinschaft. So betont er, dass gerade eine Gesellschaft – er schreibt „une culture“ – die der narrativen Form den Vorrang gibt, es nicht nötig habe, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Die gegenwärtige österreichische Gesellschaft scheint dafür der schlagende Beweis zu sein, während die gegenwärtige ungarische Gesellschaft mit ihrem ständigen Erinnern an die Vergangenheit nach Lyotard einen unnötigen Weg geht. Lyotard plädiert für ein Leben in einer mythischen Zeit dort gibt es die Ursprungsmythen, die sich auch heute abspielen und in Zukunft abspielen werden. Das ständige Vergegenwärtigen der Vergangenheit führt dagegen zu einer Mythologisierung der Geschichte. Lyotard wendet sich also nicht gegen die Mythen, sondern gegen die Geschichte und räumt mit der mythologisierten Geschichte auch die rationale Geschichtsschreibung beseite. (s. Lyotard 1993, 73f.)

Wenn die Identität der Subjekte in Centrope konstruiert, ja eigentlich rekonstruiert wird, dann geht es um eine kulturelle Gemeinschaft, die in Raum und Zeit klar lokalisiert werden kann. Aber handelt es sich auch um Mitglieder einer philosophischen Gemeinschaft, die diese Identität beschreibt und trägt? Hier könnte man ganz konkret werden und die zwei Philosophen in Centrope nennen, die miteinander kommunizieren. Eine solche Gemeinschaft müsste erst geschaffen werden, wobei sie sich von Anfang an dem Vorwurf der räumlichen Festlegung ausgesetzt sehen würde. Durch die Bildung einer comunità filosofica in Centrope entsteht die Möglichkeit einer interkulturellen Konfrontation und Gegenüberstellung verschiedener Traditionen des Denkens. (s. Leghissa 2005, 22) Welche Bedeutung hat nun die Tradition des Denkens, der Philosophie in Centrope zur Ausbildung der Identität dieses Raumes? Hierzu müssten wir die gesamte Philosophiegeschichte Tschechiens, Österreich, der Slowakei und Ungarns durchgehen.

Brauchen wir einen geschichtlichen Rückblick?

Die Fragmentierung, die Teilung reicht in Centrope bis in die Antike, wo die Donau die Grenze bildete. Das heißt jedoch nicht, dass die Kelten und Markomannen nicht mit den Römern in Handelsverbindungen standen und es so zu keinem kulturellen Austausch kam. Die March, die schon als Wort die Grenze bezeichnet, kristallisierte sich im Mittelalter als Grenze heraus und zwar zwischen den Einflusssphären des böhmischen und ungarischen Königs. Aber hier gab es keine grundlegenden kulturellen Unterschiede, beide Reiche gehörten dem Abendland an, nur gehörte Böhmen zum Heiligen Römischen Reich und Ungarn nicht. Der grundsätzliche kulturelle Unterschied ist in Centrope eine Angelegenheit des vergangenen Jahrhundert und taucht erst durch die zwei Machtblöcke im Kalten Krieg auf.

Eine Identität, die sich aus zwei oder mehreren Identitäten ergibt, wie das in Centrope und seiner rekonstruierten Identität der Fall ist, bezeichnet Chen als reziprok. (Chen 2006, 21) Wie ist es jedoch zum Zerfall der einen Identität gekommen? Hier müssten wir einen umfangreichen historischen Exkurs einschalten, der aber den Rahmen der Studie sprengen würde. Nur soviel, innerhalb dieser einen Identität, die die gesamte österreichisch-ungarische Monarchie umfasste, waren immer Gegenbewegungen vorhanden, wobei diese besonders zur Zeit der nationalen Wiedergeburten zeigte, die diese eine Identität in Frage stellten. Nach Chen befinden sich in einem Identitätskollektiv auch die Anderen, die das Ich und seine Identität entscheidend beeinflussen. (Chen 2006, 22)

Leghissa schlägt vor, das Studium des Anderen mit dem Studium der Antike, dem römisch-griechischen Erbe, zu verbinden. (Leghissa 2005, 64) Das setzt aber voraus, dass das Andere nichts mit diesem Erbe zu tun hat was in Centrope nicht der Fall ist. In der späten Antike, (wenn wir Marc Aurel noch dazurechnen dürfen) befand sich Centrope in einer ähnlichen Grenzlage wie im 20. Jahrhundert, die nur keine Ost><West, sondern eine Nord><Süd Konfrontation war. Die römischen Siedlungen entlang des Limes und südlich von ihm finden wir in Österreich, in der Slowakei und in Ungarn, Garnisonsstädte wie Vindobona und Gerulata, blühende Kulturstädte wie Carnuntum, Savaria und Scarbantia. Wie ist aber die josephinische Aufklärung mit diesem Erbe umgegangen? Können wir Marc Aurel als den geistigen Ahnvater Centropes bezeichnen?

In Centrope geht es um die Benachteiligung und Diskriminierung der zugewanderten Minderheiten durch die zugewanderte Mehrheit, die auch nur eine relative ist. Aber genauer betrachtet wird diese Diskriminierung von jeder Minderheit, die in ihrem Teil als Mehrheit erscheint, durchgeführt. Die größte Minderheit, die deutschsprachige, ist zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert in mehreren Wellen eingewandert und sprach und spricht den ostmittelbaierischen Dialekt. Diese Einwanderung betraf fast ganz Centrope, also nicht nur das jetzt österreichische Gebiet, sondern auch Mähren, die Slowakei und Ungarn, also Städte wie Brünn, Pressburg, Tyrnau und Ödenburg. Da nach dem zweiten Weltkrieg die deutschsprachige Bevölkerung

[35]

aus der Tschechoslowakei und z.T. aus Ungarn je nach Diktion vertrieben, ausgesiedelt oder abgeschoben wurden, kann diese relative Mehrheit als historisch diskriminierte Mehrheit auftreten, was natürlich gefährlich ist. Unter den anderen Bevölkerungsgruppen gibt es wohl kaum eine, die nicht von den anderen diskriminiert worden wäre: die Ungarn durch die Tschechen und Slowaken, die Tschechen durch die deutschsprachige Bevölkerung, sei es in Wien oder während der Okkupation im Protektorat, die Slowaken wiederum durch die Ungarn, die Roma wiederum durch alle anderen ethnischen Gruppen, sodass es eigentlich zu einem ständigen gegenseitigen Aufrechnen kommen müsste.

Auf diese fragmentarisierte Bevölkerung stoßen nun die Zuwanderer, Migranten; in den siebziger Jahren aus der Türkei und Jugoslawien, in den achtziger Jahren aus Vietnam und Polen, in den neunziger Jahren wiederum ein großer Zustrom aus dem zerfallenden Jugoslawien und aus der Ukraine. Dabei verstand sich Centrope nicht als Zuwanderungsregion, obgleich Bratislava bis in die achtziger Jahre einen starken Zustrom aus der Ostslowakei hatte. Die Bevölkerung in Centrope stagnierte eher und erst in den letzten Jahren ist gerade in Wien und Südmähren eine starke Zunahme festzustellen.

Dadurch wird die Situation wesentlich komplexer, als wenn Migranten auf eine homogene Bevölkerung stoßen, wovon im Detail, also in Brno, Bratislava, Győr und Wien, der einzelne Migrant aus Kairo, Manila oder Karatschi sich auseinandersetzen muss, denn die Migranten mőssen sich nicht nur mit einer doppelten Identität, ihres Ursprunges und ihres Gastandes auseinandersetzen, sondern müssen diese vierfache Identität aufnehmen, die Centrope ausmacht, wobei es nicht bei einer fünffachen bleiben muss, denn wenn ein Migrant mit anderen Migranten zusammenlebt oder in Kontakt steht, vervielfältigt sich diese Identität. Dabei sind Affinitäten von Kulturen und Sprachen sicher günstig, so kann sich ein ukrainischer Gastarbeiter in Tschechien nicht nur leicht die Sprache des Gastlandes aneignen, sondern gewinnt auch schnell einen Zugang zu Slowaken, Serben und Polen in ganz Centrope. So können Migranten einen wichtigen Beitrag zur Erarbeitung der Identität Centropes leisten, wenn sie nicht zur Integration in nationale Muster gezwängt werden. Hierbei könnte es sinnvoll und hilfreich sein, ein Modell der Semiosphäre Centropes zu entwerfen, wie es sich einem Migranten darstellt. Nicht zu unterschätzen ist dabei die strukturelle Gemeinsamkeit der ungarischen und türkischen Sprache als agglutinierende, was im Bildungssystem Centropes bisher gänzlich ungenutzt bleibt. Auch die strukturellen Gemeinsamkeiten des Romani als indoeuropäische Sprache wird beim Unterrichten der Sprache bisher nicht berücksichtigt. Um noch einmal Giovanni Leghissa zu zitieren: „Der/die Imigrant/in wird zu einem lebendigen Zeichen der Differenz, eine Chiffre einer neuen Artikulation der Identität.“ (Leghissa 2005, 76)

Die nationalen Identitäten als falsche Identitäten (ложные личности)

Im Russischen kann Identität auch als «личность» bezeichnet werden, was jedoch zugleich und hauptsächlich „Persönlichkeit“ heißt.

Nach Pynsent waren Jan Kollar und Pavel Jozef Šafarik „men without history“, weil sie Slowaken waren. Dies ist aber noch wesentlich harmloser als das, was Otto Bauer über die Tschechen und Slowaken in „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ geschrieben hat.

[36]

Pynsent Feststellung ist umso erstaunlicher, weil er einer der bekanntesten englischsprachigen Slowakisten ist, denn dies entsprach durchaus nicht dem Selbstverständnis Kollars und Šafariks, nur sahen sie sich nicht als Slowaken, sondern Slawen. Aber sie hätten niemals bezweifelt, dass auch Felvidék seine eigene Geschichte hatte.

 

Die neue Ökonomie ist wahrhaftig die „postmoderne Kulturökonomie.“ (Paić)

Hegels Weltgeist (duch sveta, a világ szelleme, duch světu) geht natürlich nicht nur über die natonalen, sondern auch über die kulturellen und semiotischen Grenzen hinaus. Doch wozu brauchen wir Hegels Weltgeist? Genügt uns nicht jeder, der in der Lage ist, eine spezifische Repräsentation des Anderen, des Anderseins zu artikulieren. Giovanni Leghissa geht es um das Entwerfen einer enzyklopädischen Landkarte, eines Atlas des Anderen. (s. Leghissa 2005, 60) Für Centrope würde ein solches Kartenwerk bedeuten, dass die Bruchlinien eigentlich drei oder sogar vier Karten erforderlich machen würden, denn eine Gestalt wie Masaryk bedeutet in der tschechischen Semiosphäre etwas anderes als in der slowakischen, ebenso wie Štefaník in der slowakischen Kultur eine andere Bedeutung besitzt als in der tschechischen, in ungarischen wiederum eine andere als in der österreichischen Semiosphäre. So würden vier verschiedene Landkarten des Anderen für Centrope entstehen, wobei jedoch jeweils nach Ausgangslage ein Teil wiederum das Eigene abbilden würde. Diese Karten könnten übereinandergelegt werden, sodass eine Karte des Anderen in dritter Potenz entstehen würde. So wird ein beliebiger Punkt auf der Karte, Giovanni spricht auch von Synopsis, z.B. die Wiener Operette in ihrer Bedeutung für die Slowaken, Ungarn und Tschechen dargestellt.

[37]

Zur Semiosphäre, die in ihrer Heterogenität verschiedene Zeichensysteme enthalten kann, bemerkt Rossi-Landi, dass jedes von der Semiotik erforschte verbale oder nonverbale Zeichensystem in politisch definierten Situationen eingesetzt wird, nicht nur, würde ich sagen, aber auch. (Rossi-Landi 1972) Wenn der neoliberale Code in Centrope zur Rechtfertigung einer unsozialen Politik herangezogen wird, sowohl von den christlich-sozialen als auch von den sozialdemokratischen Parteien. Über die neoliberale Ideologie in Centrope nach der Jahrhundertwende ist bisher wenig geschrieben und systematisch geforscht worden; obwohl dies gerade die gemeinsame Grundlage für eine gemeinsame Identität wäre. Doch würde eine solche Identitätsfindung der von uns dargestellten Konzeption Chens zuwiderlaufen. Nach Chen ist die Identität eher in der Differenz als in der Gemeinsamkeit zu finden. Doch stehen sich dabei zwei Pole gegenüber. Das glanzvolle Narrativ über die Gründungsjahre Centropes lässt notwendigerweise alles, was nicht ins Bild passt aus, seien es die Differenzen in der Entwicklung die sozialen Verwerfungen. Andererseits kann die Betonung der Differenz zur Rechtfertigung dienen, ungerechte Unterschiede (seien sie sozial, durch das Geschlecht oder anderes bedingt) nicht zu beseitigen.

Was ist das hermeneutische Paradigma, das als Formulierung in der Rhetorik, des Multikulturalismus immer einflussreicher wird? Dieses hermeneutische Paradigma verstellt die Möglichkeit, konkret und praktisch über das Anderssein, die Kultur, die kulturelle Diversität, die Strukturen der Identitäten, die Mechanismen des Ausschlusses und der Einbeziehung des Anderen, die Formen der Herrschaft nachzudenken, zu reflektieren und zu sprechen. (Leghissa 2005, 79f.) Hier schlägt Leghissa einen Weg vor, der für Centrope hochaktuell ist, sich der kulturellen Diversität direkt auszusetzen, sich ihr direkt zu zuwenden, um dies als Ausgangspunkt für eine neue Politik des Erkennens und Wiedererkennens zu nehmen, das heißt die dominante Rhetorik außer Kraft zu setzen. (Leghissa 2005, 80)

Von der Osmose, die in den Diskussionen über den Multikulturalismus, die Multikulturalität eine zentrale Stellung einnimmt (Leghissa 2005, 81) und die in Centrope herrscht oder schon aufgehört hat zu herrschen, da die Informationen nicht mehr über Österreich in die anderen Teile Centropes gelangen, haben wir schon gesprochen. (s. oben S. 5) Diese müsste von einer Diffusion abgelöst werden, aber statt dessen hört der Fluss auf und die Grenze, die durch den Eisernen Vorhang eine fast undurchlässige Scheidewand gebildet hatte, wird wieder rekonstruiert.

Unser Nachdenken über Centrope

[38]

zeigt, dass es eine europäische Kultur als solche kaum gibt und das Behauptungen in der Art „wir Europäer“ immer verdächtig sind, denn mit Europa ist heute immer der Westen gemeint, wo dieser aufhört, unterliegt der Willkür des einzelnen Sprechers oder was wohl richtiger ist, der jeweiligen Semiosphäre. Zugleich ist das Abstecken des Westens ein Mittel der Exklusion – daher auch die Angst der Österreicher plötzlich als Osten bezeichnet zu werden, obwohl es als eines der wenigen europäischen Länder

[39]

nicht nach einer ethnischen Zugehörigkeit, sondern nach einer Himmelsrichtung benannt ist, was dann in der lateinischen Bezeichnung metonymisch wieder aufgenommen wird.

Durch die Identität Centropes wird die Vorstellung eine Sprache – ein Volk - eine Kultur überwunden, aber nicht aufgelöst, da diese Identität kein Entweder Oder verlangt, der Österreicher kann weiter Österreicher sein, wie der Slowake Slowake. Diese von Humboldt stammende Dreieinigkeit wurde aber im vergangenen Jahrhundert mehrmals in Frage gestellt und das schwach ausgeprägte und ausgearbeitete österreichische Deutsch (im Unterschied zum Schwyzerdütsch) konnte dem österreichischen Volk und seiner Kultur keine adäquate Stütze sein. Nicht zufällig hat Österreich bei dem Beitritt zur Europäischen Union völlig darauf verzichtet die österreichischen Merkmale (Unterschiede in der Grammatik und in der Lexik) als Varietät einzufordern. Auch Ungarn geht historisch nicht von dieser Einheit (Sprache – Volk – Kultur) aus und verweist dabei mythologisch auf Stephan den Heiligen, dass es in Ungarn durch aus mehrere Sprachen geben soll. Der Versuch der Unifizierung und der Durchsetzung der ungarischen Sprache als der dominanten Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts hat nicht unwesentlich zum Zerfall des Landes nach dem ersten Weltkrieg beigetragen. Aber auch die Konzeption der Tschechoslowakei ging von zwei Sprachen und einem Volk aus, dass erst im gemeinsamen Staat eine gemeinsame Kultur entwickeln kann. Insofern war diese Humboldtsche Konzeption in Centrope niemals Realität und wirkte, wenn sie angewandt wurde, eher destruktiv. Die Ausbildung einer transnationalen Identität Centropes setzt dagegen eine Tradition fort, die in Mitteleuropa immer verfolgt wurde und weißt diese Humboldtsche Konzeption als unheilbringend zurück.

In der Konstruktion der Identität wird nach Said die Gegenwart des Anderen durch die Repräsentation definiert; wie kommen also in Centrope die anderen Kulturen zu Wort? Ihre Artikulation bleibt auf ihre jeweiligen Komitate, Krajs und Bundesländer beschränkt; eine darüber hinausgehende Repräsentation ist nicht vorgesehen. Es gibt keine gemeinsame Vertretung der Bevölkerung für die Bevölkerung. (s. dazu Leghissa 2005, 82) Solange in Centrope die einen darauf verzichten die Anderen darzustellen, erkennen sie auch sich selbst nicht. Daher auch in Österreich das unheimliche Schweigen, das in der Belletristik immer wieder thematisiert wird.

Im Zusammenhang mit Edward Said wirft Leghissa die Frage nach dem Literaturkanon auf, der für Said wegweisend ist. Interessant ist, dass Said meist Autoren (Kipling, Forster, Conrad) wählt, die dem Verdacht des Rassismus ausgesetzt sind. Die Frage nach einem gemeinsamen Literaturkanon ist für Centrope ganz dringend, denn es fehlt nicht nur ein solcher Kanon, sondern die Autoren und Werke der einzelnen Kanons sind in den anderen Teilen Centropes unbekannt.

[40]

Wer kennt Karel Hynek Macha in Österreich und Ungarn? Oder Andrej Sládkovič? Sogar die heute zwanzigjährigen Tschechen werden den letzteren vielleicht nicht kennen. Oder wer kennt in Niederösterreich, Wien, Mähren oder der Westslowakei János Arany, Mihaly Vörösmárty oder Károly Kisfaludy? Dieser Kanon für Centrope müsste erst erstellt und von der Bevölkerung angenommen werden. Grundvoraussetzung wäre unter den heutigen Bedingungen eine Übersetzung aller Texte dieses Kanons in die vier Grundsprachen Centropes.

Auf wen berufen wir uns, um die Arbeit der Kritik in Centrope zu legitimieren? Auf Thomas Bernhard? Dominik Tatarka? Vladimír Minač? Oder wen wir in die Vergangenheit gehen: Jozsef Eötvös? István Szechenyi? Ján Kaliňak? Ľudovit Štur? Franz Grillparzer?

Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, ist die Vierte Welt in Centrope, die durch die Roma und die Kurden stark vertreten ist. Centrope muss also in seiner Identität alle vier Welten aufnehmen, denn es besteht nicht nur aus der Ersten und der Zweiten Welt, die nach 1989 in Centrope verschwunden ist und sich heute auf China und Nordkorea beschränkt, sondern bekommt einen ständigen Zustrom aus der Dritten Welt. Doch nehmen die Immigranten

[41]

eine hybride Identität an, wie Spivak schreibt, denn sie wollen nicht wieder in die Dritte Welt zurückkehren. (Spivak 2008b 133) Diese könnte gerade gut eine Grundlage für die Identität Centropes sein, da diese ja auch erst im Entstehen ist; und vielleicht gelingt es einer Frau von den Philippinen oder einem Mann aus Pakistan leichter die vier Identitäten Centropes zu integrieren.

Unterliegt das Wort Centrope nicht einer Semiotropie? Zum einen weist es auf den kommenden Klimawandel hin und zum anderen scheint es eine eine semantische Figur zu sein. Früher gab es schon einmal die Abreviatur Mitropa

[42]

, wo jetzt Cen offensichtlich Mi ersetzt, in beiden Fällen keine produktiven Präfixe im Deutschen. Nebenbei ist die Bezeichnung Centrope phonetisch direkt gegen das Türkische gerichtet, weil es im Türkischen das Phonem Z [ts] nicht gibt. Oder die Grapheme werden Türkisch gelesen „džentrope“, was wiederum fúr einen Ostmittelbaiern schwierig auszusprechen ist. Was bedeutet auf Türkisch „cen“? Wird das ungarische mi durch cen ersetzt? Oder ist es ein Ort, in dem die Preise, die Weltpreise (tropa cen) gebildet werden und hat darum die Opec hier ihren Sitz?

Raymond Williams und an ihn anknüpfend Edward Said gebrauchen den Begriff der Gefühlsstruktur in der Frage der Ideologie, wodurch vor allem durch künstlerische und literarische Erfahrung eine Reihe kollektiver Darstellungen möglich wird. (Leghissa 2005, 85)

Die sprachliche Identität Centropes

Auf den ersten Blick scheint gerade die Sprachenvielfalt in Centrope die Ausbildung einer gemeinsamen Identität zu verhindern, in Wirklichkeit gibt es viele Merkmale, die die Sprachen innerhalb Centropes verbinden und gerade in Centrope eine besondere Spezifik entwickeln. Ein offensichtliches Beispiel ist die Angabe der Urzeit. Während sich Westösterreicher mit viertel zwei, dreiviertel acht schwer tun, ist dies für Tschechen, Slowaken und Ungarn eine Selbstverständlichkeit (tschech. čvrt na dvě, třičvrty na osem, slow. štvrt na dve, trištvrty na osem, ung. negyed kettő, háromnegyed nyolc). Diese  Art der Zeitangabe ist aber bei den anderen slawischen Völkern nicht zu finden. Dies betrifft die Phraseologie, aber auch die anderen Sprachebenen weisen diese Gemeinsamkeiten auf, sei es die phonetische, die morphologische oder die lexikalische. Auf der lexikalischen Ebene sind dies gerade Worte, die den Ostöstreicher von den sogenannten „Piefkes” unterscheidet.

Schon in der Artikulation sind die Plosive nicht behaucht, was sonst im gesamten deutschen Sprachgebiet auftritt. Es gibt im Tschechischen, Slowakischen und Ungarischen flüchtige Vokale; die Synkopen und Epikopen im ostmittelbairischen Centropes können schon deswegen nicht dazugerechnet werden, da es sich nicht um eine kodifizierte Sprache handelt.

Beispiele für flüchtige Vokale: tsch. František Gen. Františka slow. Pavol Gen. Pavla ung. irodalom [Literatur] Akk. Sing. irodalmat, történelem [Geschichte], Akk. Sing. történelmet, cukor, Akk. Sing. cukrot, eper, Akk. Sing. epret, sarok, Akk. Sing. sakrot. Außerdem gibt es Gemeinsamkeiten in der Prosodie, wobei gerade Kürze und Länge der Vokale in den vier Sprachen von Bedeutung ist und die Betonung auf der ersten Silbe des Wortes oder des Wortstammes (im Deutschen). Auf der Ebene der Morphologie ließe sich eine Morphologie Centropes entwerfen, die wir in unserer Studie in ersten Zügen vorstellen wollen. Ein ganz wichtiges Feld der gemeinsamen Identität bildet die gemeinsame Phraseologie, die alle vier Nationen verbindet und sie von anderen Völkern Europas signifikant unterscheidet.

[43]

Ein sprachliches Merkmal, das die Sprachen in Centrope vereint, ist, dass der Preis nicht nur als Zahl, sondern mit einer Präposition bzw. einem Suffix ausgedrückt wird.

z.B. o 100 euro, 100 euróba, um 100 Euro

perf. Aspekt Spuren im Deutschen und Ungarischen, im Tschechischen und Slowakischen vorhanden, doch auf dem Rückzug

Eine weitere phraseologische Äquivalenz im Slowakischen und Ungarischen, die zugleich eine Ellipse darstellt: Ich habe keine Zeit.= slow. Nemam kedy = ung. Nincs mikor. Eine phraseologische Äquivalenz im Slowakischen und Deutschen. „Nejaký Fico či Čaplovič su mu zrejme dosť ukradnutí.“ (Týždeň 36/ 2008, 18) = Irgendein Fico oder Čaplovič können ihm ziemlich gestohlen bleiben. Im Englischen (Any Fico or Čaplovič can remain rather stolen for it.) und Russischen (Некий Фицо или Чаплович были ему очевидно достаточно украденны) bliebe diese Phraseologie unverständlich bzw. Müsste durch andere Phraseologismen ersetzt werden. Oder „[...] ktorí inak mnohé Palkové postojí nemôžu vystáť.“ (Týždeň 36/ 2008, 22) = ... die sonst viele Standpunkte Palkos nicht ausstehen können. Hier ist die Äquivalenz mehr auf der Ebene der Morphologie.

Morphologie der Sprachen in Centrope

Carattere doxastico – ein wahrscheinlicher, möglicher Charakter

 

Gibt es in Centrope eine gemeinsame Rhetorik (Stile, Metaphern, narrative Strukturen)? Dies führt dann zum Verfolgen und Nachzeichnen der großen Erzählungen des Kapitalismus und Sozialismus in Centrope, wenn wir uns von dem Trugschluss der Postmoderne lösen, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt. Wir befinden uns ja gerade in der kapitalistischen Gründerzeit Centropes und wenn das kein großes Narrativ wird!

[44]

Ein weiterer Punkt ist der Abschied vom Fortschritt. Hat sich nicht mit und durch die Postmoderne und ihre Philosophie das neoliberale Konzept der Globalisierung durchgesetzt und damit die Notwendigkeit, von einem Fortschritt zu sprechen, beseitigt? (Paić 2005, 52) Aber ist diese Resignation der Postmoderne vor dem Fortschritt eine unumstößliche Tatsache?

Wie erzählen nun die heterogenen Teile Centropes ihre Geschichte und die Centropes? Das ist ein Projekt, das die Geschichtswissenschaften trotz der Rektorenkonferenzen und der Schulbuchkommissionen noch gar nicht angegangen sind.

Die Wissenschaftler Centropes der jetzt studierenden Generation werden ihre Sprachen entstellen müssen, um sie erstellen zu können. (Lyotard 1993, 181) Diese Verzerrung, Entstellung der Sprache wird durch die Anglisierung, die auch Neologismen einschließt, die es im Englischen nicht gibt, ständig vorangetrieben, was die Erstellung eigener Wissenschaftssprachen immer dringlicher macht. In den Wissenschaften, in denen der Sprachwechsel zum Englischen in Centrope schon stattgefunden hat, ist dieser von Lyotard genannte Prozess, weder nötig noch möglich. In den anderen Wissenschaften wird das erstellen eigener Wissenschaftssprachen um so dringlicher, wobei diese durchaus von den Muttersprachen in Centrope ausgehen sollen. (Wie würde eine Sprache der Politikwissenschaften in Romanes aussehen, um nur ein Beispiel zu nennen.)

Interessanterweise nimmt Lyotard das Motiv zum Kampf gegen den Terror schon vorweg. Die Selbstregulierung des Machtapparates, der seine Kritiker mundtot macht, umso keine Turbulenzen im Gesellschaftssystem zu haben, nennt Lyotard terroristisch. „Wir verstehen unter Terror die durch Eliminierung oder Androhung der Eliminierung eines Mitspielers aus dem Sprachspiel, das man mit ihm spielte, gewonnene Wirkung. Er wird schweigen oder seine Zustimmung geben, nicht weil er widerlegt, sondern weil er bedroht wurde, […]“ (Lyotard 1993, 184)

Centrope ist wie die Wissenschaft ein offenes System (Lyotard 1993, 185), denn es ist nicht nur gegenüber vier Ländern geöffnet, sondern gegenüber allen Kulturen, die in Centrope aufzufinden sind und stellt damit einen ständigen Ideengenerator dar. Andererseits ist Centrope von der Staatsmacht, von einem Nationalstaat unabhängig und wendet sich damit gegen den Terrorismus im Sinne Lyotards, der von den etablierten Eliten und den Nationalstaaten als homöostatische Systeme ausgehen, also gegen national ausgerichtete Gewerkschaften und Interessenvertretungen.

Lyotard fordert den freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken durch die Öffentlichkeit. Dies ist heute durch das Internet wesentlich stärker möglich, doch meint er sicherlich nicht nur die Datenbanken, die über das Internet zugänglich sind, und auch nicht nur die Archive der Sicherheitsdienste und der Innenministerien. Doch nimmt er damit den Umbruch von 1989 vorweg und würde über den Sieg der Piratenpartei in Schweden bei den EU-Wahlen 2009 nicht wenig erfreut sein. Das wichtigste Archiv der Geheimpolizei, das in Centrope zugänglich ist, ist das von Ján Langoš gegründete „Pamäť naroda“ in Bratislava. (s. Lyotard 1993, 192)

Der Mensch erhält seine Identität nach Badiou durch sein bejahendes Denken, durch die einzigartigen Wahrheiten, die er erlangen kann, […] (Bardiou 2003, 28) Was heißt das aber für Centrope? Erst wenn sich die Bewohner Centropes dazu bekennen, dass sie in Centrope leben, wenn sie nicht mehr versuchen das zu ignorieren, wenn sie dies als Chance begreifen, kann sich eine Identität der Europaregion herausbilden.

 

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Alois Woldan, Der Österreich-Mythos in der polnischen Literatur. Weimar-Wien 1996

 

Inhalt

.

Die kulturelle Identität Centropes.

1

Der philosophische Begriff der Identität

4

Orientalik.

10

Die Haltung zur Postmoderne.

26

Interkulturelle Philosophie.

34

Brauchen wir einen geschichtlichen Rückblick?.

36

Die nationalen Identitäten als falsche Identitäten (ложные личности)

38

Die sprachliche Identität Centropes.

43

Morphologie der Sprachen in Centrope.

44

 



[1]

Die englischen und pseudoenglischen Einsprengsel, die sich schwer oder gar nicht in die deutsche Sprache integrieren lassen, sind auch ein notwendiger Tribut für die Zugehörigkeit zum neuen Abendland, zur Wendegesellschaft.

[2]

Die „Salzburger Nachrichten“ versuchen vergeblich eine gesamtösterreichische Bedeutung zu erlangen und drängen vehement auf den Zeitungsmarkt in Österreich.

[3]

Dieser Terminus sollte nicht vorschnell verworfen werden, denn wie sollte die Entwicklung Chinas in den letzten zwanzig Jahren beschrieben werden?

[4]

Genau gesagt 48%. Das sind  3 146 669 Einwohner gegenüber einer Gesamtbevölkerung von 6 556 652 Einwohnern.

[5]

Solange sich die Postmoderne darauf beschränke, die großen Erzählungen zu fragmentarisieren, bleibe es ein „parochial enterprise“

[6]

Wir werden im folgenden auf dieses Ungetüm verzichten und in der Morphologie Centropes noch einmal darauf eingehen. Das Entstehen dieser Pluralformen zeugt von einem Versagen der Germanistik, dass sie nicht klargemacht, dass im Deutschen im Plural zum einen keine grammatischen Geschlechter gibt und dass zum anderen das grammatische Geschlecht nicht mit dem biologischen verwechselt werden darf.

[7]

Diese Attitüde ist exemplarisch deutlich in der Diskussion, ob die Türkei der Europäischen Union beitreten kann und soll.

[8]

Ohne hier ins Detail zu gehen, zitieren wir hier nur den Jahresbericht 2005 der österreichischen Finanzmarktaufsicht. „Die aggregierte Bilanzsumme aller vollkonsolidierten Auslandstöchter österreichischer Bankkonzerne in CEE-Ländern betrug per Ende September 2005 ca. € 122 Mrd., was einem Anstieg von 29,6% gegenüber Ende September 2004 entspricht.“

[9]

Hier müssten wir eine Liste der größten Unternehmen in Centrope aufführen und wem sie gehören!

[10]

Denken wir nur an die Klischees, die Stereotypen, die mit Süditalienern, Ostdeutschen und dem Balkanbewohnern verbunden ist.

[11]

Diese neue Identität kann dann eine Reihe von Vorurteilen und sogar Feindbildern abbauen („obmedzení rakúšaní“, „die Tschechen“, „tótok“, „labansz“, „ludia, ktoré mondokujú“).

[12]

Endre Ady gab die emotionalen Grundlagen für eine neue ungarische Identität. Lukács strebte nach einer Lösung aus der Identitätskrise, die in dem Zwiespalt von Traditionalismus >< Liberalismus oder in der westlichen oder östlichen Orientierung lag. (Nyíri)

[13]

Ein aktuelles Beispiel ist der Versuch der OMV (Österreichische Mineralölverwaltung) die ungarische Ölgesellschaft MOL (Magyar OLajipar) zu kaufen, wobei die Abwehr dieser Fremden bis zu einem Gesetz, das im Parlament verabschiedet wurde, führte.

[14]

Hierbei ist die Bemerkung Nyíris interessant und wichtig, dass sich Ungarn und Österreich in ihrer Haltung zur Philosophie finden, seien es Eötvös oder Wittgenstein, seien es Kafka oder Musil, seien es fügen wir hinzu Vögelin oder Blaga, philosophisch nicht aufgearbeitet werden.

[15]

Dies geht bis in die Parteienkonstellationen: Wird Prag schon seit Anfang der 90-iger Jahre von der ODS (Občanská Demokratická stranka) unangefochten regiert, hat sich im Brünner Rathaus eine Koalition aller Parteien gegen die ODS unter der Führung der Sozialdemokraten zusammengeschlossen.

[16]

Das heißt nicht, dass sie unbildet oder unqualifiziert sind; im Gegenteil sind sie oft gebildeteter als die sogenannten Eliten, nur fehlt ihnen das soziale Kapital, die Netzwerke (in Österreich mit dem niedlichen Namen „Freunderlwirtschaft“ bezeichnet):

[17]

Diferenzen sind unter einer Identität zu subsumieren; auf jeden Fall wird Vielfalt in einer  identitätsstiftenden Einheit untergebracht. (Chen 2006, 27)

[18]

Doch bisher gibt es keine Wörterbücher Tschechenisch-Deutsch, Tschechenisch-Slowakisch, Tschechenisch-Tschechisch, Tschechenisch-Ungarisch und vice versa. Es gibt auch keine Dolmetscher in Centrope, die aus dem Tschetschenischen in auch nur eine Centrope-Sprache übersetzen können.

[19]

Alle Fragen, die den diskursiven Raum der Multikulturalität und der Globalisierung betreffen, setzen ein bestimmtes Konzept des Andersseins voraus. Die aktuellen Ontologien bieten keinen diskursiven Raum der adäquat ist, sich der Frage des Andersseins zu nährern. (Leghissa 2005, 45)

[20]

Auf die Legitimation der Institutionen, die das Wissen, das Gedächtnis verwalten, verwies schon Lyotard in seiner „La condition postmoderne“. (Lyotard 1993, 15)

[21]

Miroslav Pekník auf Grund einer Umfrage der Slowakischen Akademie der Wissenschaften unter 3000 Befragten.// Slovo 18/19, 30. April 2008, 13) Ähnliche Umfragen für Centrope durchführen!

[22]

Nicht umsonst ist Frank Stronach nach 1986 nach Centrope gekommen, wobei er die politische Umwälzung rechtzeitig antizipiert hatte, denn die Perestrojka und die Liberaliserung des noch realsozialistischen Wirtschaftssystem leitet schon die Rekonstruktion des Kapitalismus ein, die sich dann nach 1989 ungehindert entfalten konnte.

[25]

Die Bezeichnung „Wende“ verwenden wir nicht, da es sich dabei auch um ein Ideologem handelt, um die Revolution in der DDR nicht als solche zu benennen und die Gefahr zu bannen, das diese auch auf die alte BRD übergreift. Interessanterweise wird neuerdings gerade von CDU-Politikern hervorgehoben, dass 1989 eine Revolution in der DDR stattgefunden hat.

[26]

Ein anschauliches Beispiel ist Microsoft, das seinen Kampf, global jegliche Softwar zu beherrschen, verlieren wird.

[27]

Das betrifft auch den ungarischen Teil Centropes, denn obwohl Ungarn momentan in einer Wirtschaftskrise steckt haben die zwei Centropekomitate zwischen 1995 und 2004 ein Zuwachs des Bruttosozialprodukte von sieben bis fast zwölf Prozent gehabt. (Business and Labour Report 2007, 35)

[28]

„[...] вся семиосфера в целом может рассматриваться как генератор информации.“ (Лотман 2001, 17)

[29]

Nicht umsonst ist die Regierung in Österreich 2008 gescheitert, weil dieses Bremsen starke Reibung erzeugt.

[30]

So könnte in Zukunft Österreich das Bundesheer abschaffen und der NATO beitreten.

[31]

Dies könnte jedoch dazu führen, dass die NATO wie die Rote Armee in der DDR die Bergspitzen zu militärischen Sperrzonen erklären.

[32]

„Moja mať je moja slovenskosť, zbojnícka pieseň slobody, spievaná v tejto reči, slovenčina...“ [Meine Mutter ist mein Slowakisch-Sein, mein Räuberlied der Freiheit, gesungen in dieser Sprache, Slowakisch...] (Tatarka o.J.)

[33]

Der Begriff der „Performativität“ in der deutschen Übersetzung von Lyotards „La condition postmodern“ unterscheidet sich grundlegend von der Bedeutung, die der Begriff in der Sprechakttheorie Austins besitzt und sollte darum anders benannt werden.

[34]

Hier läuft sie an sich offene Türen ein, denn lohnt es sich mit dem bornierten Standpunkt, dass Philosophie nur abendländische Philosophie sei, überhaupt auseinanderzusetzen? Auch braucht die interkulturelle Philosophie nicht auf eine eigene Terminologie, ein eigenes Begriffssystem zu verzichten (Mall 1993, 2), was Giovanni Leghissa genau zeigt.

[35]

Vor dem ersten Weltkrieg fand die verstärkte Verbreitung der ungarischen Sprache bei der deutschsprachigen Bevölkerung auf das größte Interesse, sodass bis zu 22% das Ungarische als Umgangssprache annahmen.

[36]

Otto Bauer teilt in seinem Buch, das 1924 erschienen ist, die Nationalitäten der ehemaligen Monarchie in historische und geschichtslose Nationen, wobei er zu den letzteren nicht nur Slowaken und Ruthenen zählt, sondern erstaunlicherweise auch Tschechen und Serben. Eine historische Nation wird zu einer solchen, indem sie Adel und/oder Bürgertum besitzt, wenn dies nicht der Fall ist, handele es sich um eine geschichtslose Nation. (Bauer 1975, 270ff.) So kann aus einer historischen Nation eine geschichtslose werden, wenn ihr Adel oder ihr Bürgertum oder beides vernichtet oder assimiliert wird.

[37]

Dies ließe sich schon an den Schwierigkeiten Mór Jókais zeigen, ein Libretto für eine Wiener Operette, den „Zigeunerbaron“, zu schreiben, die dann doch von einem Wiener geschrieben werden musste.

[38]

Bezeichnet ist auch, dass man einen Namen gewählt hat, wo die Akteure selbst nicht wissen, wie sie ihn aussprechen sollen. So wird das e häufig akopiert. In der Slowakei und in Tschechien wird Centrope weiblich „Centropa“, was zeigt, dass die Akteure dort den neuen Namen schon in das Sprachsystem integriert haben.

[39]

Bei Norwegen finden wir auch eine solche geographische Bestimmung und nicht umsonst hat Norwegen vier verschiedene Sprachen, die nicht bestimmten Ethnien zuzuordnen sind, sondern funktional der ganzen Bevölkerung zur Verfügung stehen. Daher kann es sich ähnlich wie Österreich schwer von der Sprache aus definieren, sodass auch dort die romantische Einheit Land – Nation – Sprache fehlt.

[40]

Aus diesem Grunde ist auch die Auslandskulturpolitik der Länder, die zu Centrope gehören, in den anderen Centropeländern so erfolglos. So werden Grillparzer, Stifter oder Bernhard von der österreichischen Seite stark überschätzt, während tschechische, slowakische und ungarische Autoren ähnlicher Qualität in Österreich gar nicht bekannt sind. Aber auch in Tschechien ist die ungarische Literatur nicht sehr bekannt und in der Slowakei wird sie aus historischen Gründen bewusst ausgeblendet. In Ungarn ist die Kenntnis der tschechischen Literatur wohl etwas besser als umgekehrt, dafür wird die slowakische kaum wahrgenommen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass es schon seit langer Zeit kein tscheichisch-ungarisches Wörterbuch in Tschechien verlegt  wurde oder überhaupt im Buchhandel zu kaufen ist. Aufgrund der besseren Kenntnisse der Kultur des Gastlandes ist die ungarische Auslandskulturpolitik wesentlich erfolgreicher. Bezeichnenderweise wird in der Slowakei keine ungarische Auslandskulturpolitik betrieben. Wenn sich Österreich selbst als Kulturgroßmacht bezeichnet, löst das bei den Tschechen und Ungarn nur ein müdes Lächeln aus, wobei Österreichs Glaube an seiner kulturelle Größe natürlich bestärkt wird, denn nichts ist schlimmer als ein Nachbar der Komplexe hat.

[41]

Ich verwende, wie oben schon gesagt, dass  -Innen nicht, da dies von einer Unkenntnis der deutschen Sprache zeugt, da es im Plural kein grammatisches Geschlecht gibt, wobei auch das grammatische Geschlecht nicht mit dem biologischen verwechselt werden darf. Die Identifizierung von grammatischem und biologischem Geschlecht hat jedoch mythischen Charakter und ist wildes Denken im Sinne Lévi-Strauss` und sollte darum trotzdem ernstgenommen werden.

[42]

Mitropa stand für Mitteleuropäische Schlafwagengesellschaft.

[43]

Wir haben uns nicht mit einer Position im Identitätsdiskurs auseinandergesetzt, die sich in erster Linie mit dem politischen Mißbrauch von Identitäten auseinandersetzt. Diese Position nimmt gar nicht zur Kenntnis, dass es ein Postmoderne gibt, sondern sieht in diesem Mißbrauch durch fundamentalistische Gruppen eine Antwort auf die Moderne. Dabei sind es gerade diese fundamentalistischen Strömungen, die die Moderne wieder einführen wollen, wie George W. Bush durch seine Strafgefangenenlager und Foltermethoden, durch seinen Krieg gegen den Terror, der nichts anderes als postkoloniale Imperialismus ist. Darum war ja auch Tony Blair als Kind der größten ehemaligen Kolonialmacht so begeistert davon.

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Solange sich die Postmoderne darauf beschränke, die großen Erzählungen zu fragmentarisieren, bleibe es ein „parochial enterprise“. Was sind nun die großen Erzählungen des Kapitalismus und des Sozialismus in Centrope

See also: