DIE ORDNUNG DES POSITIVEN

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Oxana Timofeeva

DIE ORDNUNG DES POSITIVEN

FIGUREN DER GEGENWÄRTIGEN RUSSISCHEN MACHT

Eines der am häufigsten benutzten Worte des gegenwärtigen russischen politi-schen, kulturellen und alltäglichen Lexikons ist das Wort „Positivität“. Man spricht von positiven Tendenzen, positiven Transformationen in der Gesellschaft, von po-sitiven Menschen, vom positiven Stil, von positiven Schritten, von positiven Pro-zessen, von positiven Werten und von der dauerhaften positiven Entwicklung. Man spricht einfach vom Positiven, als ob man mit diesem Wort den Grundmodus unse-res sozialen Seins bestimmen.

Zweifellos, das Wort „Positivität“ ist neben dem Wort „Stabilität“ ein Ele-ment der offiziellen staatlichen Rhetorik. Dies ist eine Redefigur mit der sich die (Staats-)Macht an die Gesellschaft wendet. Es ist jedoch interessant, dass die Ge-sellschaft heute fast allgemein diese Rhetorik annimmt, sich mit ihr solidarisiert und sie aktiv auf allen Ebenen reproduziert. Die soziale Repräsentation wird durch das Zeichen der Positivität hervorgehoben.

Wenn man offizielle Massenmedien nimmt, so dominieren in ihnen auffälli-gerweise „gute“ Neuigkeiten. Selbst wenn diese Neuigkeiten in Wirklichkeit nicht mehr so gut sind. Zum Beispiel der staatliche Fernsehkanal zeigt das Sujet einer ungestümen Inflation und dem Versinken eines großen Teils der Bevölkerung, für die elementare Nahrungsmittel wie Milch, Brot, Butter nicht mehr zugänglich sind, in der Armut. Danach wird ein Vertreter der Partei der Macht gezeigt, der ver-spricht dieses Problem zu lösen und die Schuldigen zu bestrafen.

Die Schuldigen sind nach ihrer Version konkrete Menschen, Übelgesinnte, die die Preise zu hoch ansetzen. Doch im Ganzen werden, wie das führende Pro-gramm erklärt, die positiven Tendenzen eingehalten. Dabei werden natürlich keine Fakten angeführt, welche Tendenzen denn positiv seien, und keine Statistiken an-geführt.

Oder ein anderes Beispiel aus den offiziellen Massenmedien. Die tiefe Krise der Landwirtschaft. Wieder erscheint ein Vertreter der Staatsmacht und verspricht die Schuldigen zu bestrafen. Und wieder spricht der führende von der nachhaltigen positiven Entwicklung, vom Aufschwung der Landwirtschaft im Ganzen, ohne fak-tische Beweise anzuführen. So wird aus einer „schlechten“ Nachricht, eine „gute“, indem sie bei dem Seher Freude und ein Gefühl der Sicherheit für den morgigen Tag vermittelt.

Auf diesem positiven und rosarotem Hintergrund werden die harten neolibe-ralen Reformen weiter durchgeführt. Die grundlegenden Probleme der russischen Gesellschaft – der Riss zwischen Arm und Reich, die Abhängigkeit der Ökonomie des Landes von der Erdölbranche. Diese Situation lässt sich besser mit der Formel Hegels beschreiben: wenn die Theorie der Wirklichkeit widerspricht, dann ist es für die Wirklichkeit schlimm. Die Rolle der „Theorie“ spielt in diesem Fall die I-deologie. In letzter Zeit wird das Wort „Ideologie“ wieder gebraucht und das da-hinter stehende Phänomen aktivisiert sowohl institutionell als auch auf der Ebene des Alltags.

Die Ideologie wird durch die Methode Trial and Error erfunden und for-miert. Die Rolle der Ideologen beginnen die Intellektuellen zu spielen, der Großteil von ihnen nahm früher eine zutiefst kritische Position im Bezug auf die Macht ein. Dank des Ergreifens der öffentlichen Sphäre legitimiert sich die Macht und erhält mächtige Unterstützung seitens der Bürger.

Protestbewegungen werden immer mehr an die Peripherie gedrängt, die Op-position verliert ihre Anhänger und gewinnt in den Augen der Mehrheit die Gestalt von „Feinden Russlands“ oder „Liebediener des Westens“. Die kritisch eingestellte Intelligenz verliert sehr schnell ihre Autorität.

In dieser Mitteilung versuche ich meine Interpretation dessen, wie und wa-rum das passiert, vorzuführen. Zugleich mache ich einen Vorbehalt: ich bin mit der Mehrheit der Analytiker und Publizisten nicht einverstanden, die die Ursachen für alles Geschehende in der Spezifität der Situation Russlands zu erkennen glauben.

So bin ich z.B. nicht mit den liberalen Forschern, die das Wachstum der au-toritären Tendenzen in der Gesellschaft mit den Besonderheiten der russischen Mentalität erklären, oder mit den Patrioten, die an die Unikalität der Geschichte Russlands appellieren. Sowohl die einen als auch die anderen gehen im wesentli-chen davon aus, dass „Russland nicht mit dem Verstande zu begreifen ist“, und darum Emotionen und Werturteile oft die Analyse überwiegen. Ich nehme dagegen an, dass mit dem Verstand Russland verstanden werden kann und muss.

Natürlich, Russland ist auf seine Art unikal, so unikal wie jedes andere Land, jedoch die Macht ist ein universelles Phänomen, und ich bestehe darauf, dass sich dieses Phänomen durch universale Modelle analysieren und beschreiben lässt. Mich interessiert gerade die Brechung dieser Modelle in unserer lokalen Situation. Ich werde mich dem Streit zuwenden, der von Hegel ausgehend zwischen George Bataille und Alexander Kojéve wegen des Endes der Geschichte geführt wurde. Der Inhalt dieser philosophischen Polemik, die vor mehr als 80 Jahren stattfand, ist nach meiner Ansicht hier und jetzt äußerst aktuell.

Zu Anfang erzähle ich kurz, worin der Streit bestand. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts behauptete Alexander Kojéve als er die „Phänomenologie des Geistes“ kommentierte, dass die Negativität, der Wille das Vorhandensein des gegebenen Seins zu leugnen, das Tier zum Menschen machte. Sie machte im Laufe der Geschichte Sklaven zu Herren, wobei sie in der Menschheit die schmerzhafte Spannung des Kampfes nach Anerkennung unterstützte.

Das ehrgeizige Wesen, das bereit ist, in seiner aggressiven Ablehnung von allem, was seine Freiheit einschränkt, bis ans Ende zu gehen, baute und zerstörte Staaten, lief von Revolution zum Terror und umgekehrt. Es siegte, behauptete Ko-jéve, und sein endgültiger Sieg machte der Negativität in dem Maße ein Ende, wie das Ziel der Geschichte – das heißt die Stärkung der Macht, die die allgemeine An-erkennung nutzte – erreicht war.

So ist die Theorie Kojéves, der erklärte, dass die Geschichte zu Ende ist und sich ein total homogener Staat herausgebildet hat, wo die absolute Macht mit dem absoluten Wissen zusammen fällt. Dies ist das Wissen, das niemand mehr bestrei-ten und dementieren kann, denn es hat die ganze Unendlichkeit der Fehler in sich aufgenommen und ist auf diese Weise zur absoluten Wahrheit gelangt.

Kojéve akzeptierte das Ende der Geschichte als Fakt. Aber er schwankte zwischen verschiedenen Versionen der Lokalisierung des Anfangs dieses Endes, des Punktes der Zeitlosigkeit, die sich jetzt zur Unendlichkeit im Raum ausweiten wird. Zuerst meinte er, dass ein solcher Punkt der stalinistische Staat darstellt, spä-ter sah er ihn in der liberalen Demokratie amerikanischen Typs. Der ungestörte Konsum erschien ihm als Rückkehr des Menschen in den Zustand des Tieres, je-doch nicht als einfache Rückkehr, sondern als solche, bei der die ursprüngliche Abhängigkeit von der Natur auf Kosten des im Kampf gewonnen Reichtums der materiellen Welt überwunden wird.

Jedoch im Jahre 1959 verstand der Philosoph, als er Japan besuchte und wieder einmal seine Ansichten durchdachte, dass der Mensch, selbst wenn er auf die Idee der Weltveränderung verzichtet, nicht wieder ein Tier wird, wenn er aus reinem Snobismus und jenseits jeglicher subjektiver Ansprüche fähig ist, sich das Leben zu nehmen, wie es aus Tradition die Japaner tun.

Kojéve kam zu dem Schluss, dass der Mensch bleibt, nur seine Negativität, die die Leute zwingt, die Welt zu ändern, wird durch die Positivität in reiner Form, die vom Inhalt befreit ist, aufgehoben. Darum besteht die Perspektive des Endes der Geschichte, schloss Kojéve, in der langsamen, jedoch wahren „Japanisierung der westlichen Menschen (einschließlich der Russen)“ (Einführung in die Lektüre Hegels) Unter Japanisierung verstand er gerade die Aufmerksamkeit für die Form im Unterschied zum Inhaltlichen und Subjektiven, was die Menschen der westli-chen, europäischen Kultur immer interessierte.

Heute müssten wir zustimmen, dass die Hegelsche Totalität ihre Inkarnation vor allem in den Bildern der kapitalistischen Globalisierung findet. Und ihre reale und eingebildete geopolitische Quelle ist nicht wichtig: die Herrschaft der Form, der Warenform, unterwirft sich die Gefühlsempfindung, unterwirft Raum und Zeit.

Wir müssten dem zustimmen, wenn der rechte Philosoph Alexander Kojéve recht hätte, und die Geschichte zu Ende wäre. Jedoch schon 1937 erhielt er als Antwort auf die Darlegung seiner Theorie einen Einwand George Batailles. Dieser Einwand schien äußerst unverständlich zu sein.

Wenn die Geschichte zu Ende ist, was soll ich dann mit der Negativität ma-chen, mit meiner eigenen, lebendigen Negativität, die im finalen Punkt, der die Möglichkeit jeder Handlung übertrifft, unnötig wird? – fragte Bataille. Höre ich doch als menschliches Wesen nicht auf diese Negativität zu sein. Im Brief „an X, dem Leiter des Hegelseminars“, nannte er eine solche Negativität „arbeitslos“:

Ыщ«Wenn die Handlung (das „Tun“) - wie Hegel sagt – die Negativität ist, dann entsteht die Frage, ob die Negativität dessen, der „nichts mehr tut“ ver-schwindet oder im Zustand der „arbeitslosen Negativität“ erhalten bleibt: persön-lich neige ich nur zu einer Lösung, da ich selbst gerade auch die „arbeitslose Ne-gativität bin“ (ich könnte mich selbst nicht genauer bestimmen) Ich stelle mir vor, dass mein Leben – oder sein Fiasko oder besser, die gähnende Wunde meines Lebens – von selbst die Widerlegung des geschlossenen Systems Hegels bildet“ (Brief an X, dem Leiter des Hegelseminars).

Die arbeitslose Negativität wird, setzt Bataille fort, natürlich ihren Ausweg in der Kunst suchen. Doch dann wird sie in Werken objektiviert und wird eine an-erkannte Negativität, d.h. eine leere Form ohne realen negativen Inhalt. Ich würde erneut unterstreichen, dass diese leere Form die Warenform ist.

Aber insofern die Negativität sich in dieser Form als objektiviert erweist, hat sie in der Tat keinen Ausweg. Weiß doch der Mensch des Endes der Geschichte, dass „... von nun an nichts abgelehnt werden kann“, und darum ist „die Negativität vor ihm wie eine Wand“. Wenn die Geschichte zu Ende ist, dann hat sie ein trauri-ges Ende: das Eingeständnis der Niederlage.

In späteren Arbeiten, in denen er weiter über dieses Thema nachdachte, schrieb Bataille, dass die Geschichte solange nicht zu Ende ist, solange die Un-gleichheit nicht beseitigt ist. Aber die Ungleichheit kommt auch gerade von der Negativität des Menschen, der sich in seiner menschlichen Würde durch die Nega-tion von allem Unmenschlichen und Unwürdigem bestätigt. Die menschliche Wür-de ist unter den Menschen nicht gleich verteilt und ihr Gipfel ist die Souveränität.

Im Prinzip gibt es die Souveränität im Sinne Batailles in der inneren Erfah-rung eines jeden Menschen. Sogar das niedrigste menschliche Wesen kann in sich den Sklaven leugnen, die Natur leugnen, die sich unweigerlich seiner Notwendig-keit, sich zu unterwerfen, unterwirft. Dies passiert z.B. dann, wenn man sich ver-gessend der Ausschweifung und der leeren Verschwendung überlässt, um dadurch seinen Protest mit der existierenden Ordnung auszudrücken.

Jedoch der Mensch möchte Souveränität vor sich sehen. Er sucht in der glänzenden Form die Souveränität, die ihn in Ekstase bringt. Er braucht einen Sub-jekt-Souverän, der die Größe auf sich nimmt, über den Dingen zu stehen.

Der Mensch könnte auch selbst ein solches Subjekt werden, wenn er nicht ruhig ein Gegenstand bleiben wollte. Er entfremdet seine Souveränität zugunsten eines anderen – eines Gebieters oder Herrschers, und vertraut ihm die Macht über sich an. So entsteht nach Bataille das archaische und feudale Institut der Souveränität. Das natürliche Streben des Menschen zur Freiheit und Unabhängigkeit gebiert auf paradoxale Weise die Figur des Souverän, der die Inkarnation der vollständigen Macht darstellt.

Die Macht bleibt im Verhältnis zur Souveränität ebenso eine Potentialität wie die Elektrizität im Verhältnis zum Aufleuchten des Lichts. Wenn der leitende Führer oder ein anderer Vertreter der Macht handelt, indem er seine Macht positiv zu guten Zielen gebraucht, dann genießt der Souverän demonstrativ luxuriösen Müßiggang, wobei er allgemeine Begeisterung auslöst.

Die reale Macht bleibt immer im Schatten, wenn die Souveränität in grelles Licht getaucht ist. Sie befindet sich in der Sphäre der Repräsentanz und für sie sind grelle äußere Attribute und feierliche Rituale wichtig.

Bataille meinte, dass Bourgeoisie und Proletariat eher Verbündete waren, als Gegner, darin, dass sie in einer Serie aufeinander folgender revolutionärer Schläge versuchten, mit der nutzlosen Verschwendung der monarchischen Souveränität Schluss zu machen und sie durch eine rationale und effektive Macht zu ersetzen.

Die Kommunisten waren nur radikaler in der Negation der Souveränität. Wenn die geizige Bourgeois sie auf die Macht über den Dingen reduziert, indem sie die Ungleichheit nach der Würde des reinen Prestiges in die Ungleichheit des Reichtums überführt, das heißt diese Ungleichheit aus der qualitativen in eine quantitative bringt, so streben verzweifelte Kommunisten die Souveränität im Prinzip zu beenden. Sie wollen mit den Unerschieden ein Ende machen und eine allgemeine Gleichheit erreichen.

Doch die verborgene Souveränität bleibt nach Bataille im Mark der kom-munistischen Welt. Ihre Figur ist für die Kommunisten der befreite Mensch, der universalen Wert besitzt, deretwegen er alles auf eine Karte setzt. Ist doch der uni-verselle Wert des Menschen die Souveränität selbst, wie sie Bataille sieht. Und die Souveränität ist die Wurzel der Ungleichheit, da, wie ich schon sagte, der mensch-liche Wert auf einem Unterscheidungsmerkmal aufbaut – und unausweichlich einer über einen größeren Wert verfügt und der andere über einen geringeren.

Nach meiner Ansicht ist das nicht so sehr ein Argument gegen die kommu-nistische Idee, als ein Hinweis auf ihre innere Begrenzung – den Humanismus, der sich auf die Idee des universalen Menschen stützt. Jedoch die weiteren Erörterun-gen über den Kommunismus und die Natur des Menschen führen uns etwas ins Abseits, wenn ich jetzt aus dem Gesagten kein Resümee ziehe. Dieses Resümee erlaubt es uns aus einer anderen Perspektive zur neuen russischen „Positivität“ zu-rückzukehren und zu zeigen, auf welche Weise sie mit diesem alten Streit verbun-den ist.

Bataille beweist, dass die Souveränität – ein Zeichen hoher Auszeichnung – unter den Mitgliedern der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Solange die Souveräni-tät existiert, existiert die Ungleichheit und mit ihr die Negativität, die auf ihren Teil menschlichen Wertes, menschlicher Würde besteht. Die Negativität lehnt es ab, Souveränität und Macht als unanfechtbare Gegebenheit zu akzeptieren, wenn sie entfremdet und von der Macht vereinnahmt ist. Die Negativität ist ein Protest ge-gen die Herrschaft, das Streben nach Freiheit, das jedem Menschen eigen ist.

Uns wird jedoch tatsächlich heute gesagt, die Geschichte ist zu Ende und „... nichts kann von jetzt an abgelehnt werden“. Die gegenwärtige russische Version „des Endes der Geschichte“ trägt den Namen „Stabilität“. Das ist noch ein Wort, das neben der Positivität das Fundament der neuen Ideologie bildet. In der Tat, was kann mit der Stabilität anderes passieren, als dass sie immer stabiler wird?

Die Stabilität ist so ephemer wie Hegels absolute Wahrheit. Sie wird ein Gegenstand des Glaubens dank des Absurden. Wie ich schon sagte, wenn ihr die Wirklichkeit widerspricht, dann ist es für die Wirklichkeit umso schlimmer. Hat doch die Stabilität angeblich einen Garanten – die Souveränität, aber die Wirklich-keit hat keinen Garanten und keine Garantien.

Als Verkörperung der Stabilität dienen vor allem die verstärkt vervielfältig-ten Bilder der freudestrahlenden und glücklichen Mittelklasse. Die Wirklichkeit interessiert niemanden – sie ist unsichtbar. Wer sich mit den Vertretern der Mittel-klasse identifiziert, schließt lieber die Augen, wenn er eine ältere Frau sieht, die in der Apotheke weint, weil sie kein Geld für lebensnotwendige Medikamente hat.

In Verbindung damit möchte ich sagen, dass die Diskrepanz nicht nur zwi-schen Arm und Reich, sondern auch, in einem etwas anderen Sinne, zwischen der Wirklichkeit und der Repräsentation ungestüm wächst. Gerade auf die Repräsenta-tion werde ich ausführlicher eingehen.

Wenn sich die Mittelklasse als die Verkörperung der Stabilität erweist, dann tritt als Garant dieser Stabilität der Präsident der russischen Förderation auf. Dabei sprechen die Attribute des Ruhmes, mit denen sich die betreffende Personage aus-stattet, davon, dass vor uns nicht einfach ein Staatsbeamter, ein Funktionsmensch, steht, wie es im Idealfall der Präsident eines weltlichen Bourgeoisiestaates sein sollte. In der letzten Zeit verweist die Gestalt des Präsidenten der russischen Förde-ration gerade auf die traditionelle Figur des Souveränmonarchen. Nicht zufällig wird dieser Mensch oft mit dem Zaren verglichen.

In diesem Sinne ist der Streit anlässlich der Präsidentenwahl, die 2008 statt-finden soll, symptomatisch. Niemand erörtert und schlägt alternative Kandidaturen vor. Die Frage besteht nur darin, ob der jetzige Präsident eine dritte Legislaturperi-ode bleibt oder einen „Nachfolger“ ernennt.

Wobei im zweiten Fall der offensichtliche Widerspruch zwischen der mo-narchistischen Prozedur der „Ernennung des Nachfolgers“ und der demokratischen Prozedur der Wahlen unbemerkt bleibt. Oder eher wird der Widerspruch durch den Verweis auf die Realpolitik „aufgehoben“, für die die Demokratie nur als konven-tionelle rhetorische Figur dient: Wer ernannt wird, der wird gewählt.

Was die Variante der Wahl des Präsidenten für eine dritte Periode (die so-wohl eine vierte als auch eine fünfte sein kann), so fordert solch eine Wahl die Veränderung der bestehenden Verfassung Russlands, nach der ein Mensch den Präsidentenposten nicht mehr als zwei Mal innehaben kann.

Darum fordern aktive Anhänger der Staatspolitik in der letzten Zeit auf, die Verfassungsgesetzgebung zu ändern, zu umgehen oder zu verletzen, damit der Prä-sident so lange wie möglich an der Macht bleiben kann.

Diese Aufrufe, gegen das Gesetz zu verstoßen, hat als Adressaten nicht den Garant der Gesetzlichkeit, sondern gerade den Souverän, der per definitionem au-ßerhalb und oberhalb des Gesetzes steht, entsprechend der Definition Carl Schmitts („der Souverän ist der, der die Entscheidung über den Ausnahmezustand fällt“) Ich bringe zwei Beispiele.

Am ersten Oktober fand in Moskau der Parteitag der Partei «Einheitsruss-land» statt. Das Hauptereignis dieses Parteitages wurde die Rede des Präsidenten, in der er sich einverstanden erklärte, an der Spitze der Wahlliste dieser Partei für die Wahlen zur Duma zu stehen. Das führende Fernsehsujet über diese Maßnahme erklärt, dass diese politische Geste des Präsidenten „alle anderen Parteien der rea-len Chance im Kampf um eine gewisse Macht im Parlament beraubt“ und, das ist wichtig, fügt hinzu:

«In Russland gibt es wenig politische Traditionen, aber sie sind unerschüt-terlich, die wichtigste von ihnen: die Macht ist eine sehr ernste Sache und sie kann nur eine sein. Dieser Schritt Putins verwandelt die parlamentarischen Wahlen aus einem politischen Spiel interessierter – fast einem Clubspiel der Parteien und Poli-tiker – in ein Referendum über das Vertrauen zur Staatsmacht. Und das ist auch große Politik.".

„Große Politik“ in diesem Kontext bezeichnet den tatsächlichen Verzicht auf das formale Prinzip des Mehrparteiensystems, einen Verzicht, der geheim von ei-ner gewissen mutmaßlichen Mehrheit geteilt wird – d.h. im Grunde der demokrati-sche Verzicht auf die Demokratie. Wie wenn die Wahl zugunsten einer Einheits-partei mit einem starken Leader an der Spitze schon gemacht worden wäre. In ei-ner solchen Situation werden Wahlen eigentlich überflüssig und verwandeln die weltliche Prozedur eher in ein Ritual eines triumphalen Sieges der zentralisierten souveränen Macht.

Nach der Rede Putins traten vor die Versammelten noch einige Leute, die ihre Begeisterung über den Präsidenten äußerten und sich an ihn mit der Bitte, noch eine dritte Periode zu bleiben, wandten. Insbesondere eine Weberin aus dem Gebiet von Iwanowo schlug im Namen aller einfachen Leute vor: „lasst uns zu-sammen etwas ausdenken, damit Wladimir Wladimirowitsch Putin auch nach 2008 unser Präsident bleibt.“. Offensichtlich steckt gerade auch in dieser Phrase „etwas ausdenken“ der Aufruf, die bestehende Verfassung zu ändern.

(Videofragment von der Parteitagssitzung)

Folgendes Beispiel. Am sechzehnter Oktober wurde in der „Russischen Zei-tung“ ein offener Brief an den Präsidenten der Russischen Förderation W.W. Putin publiziert, unterschrieben insbesondere von Nikita Michalkow und Surab Zereteli im Namen der ganzen russischen Intelligenz und der Kulturarbeiter. Im Brief war ebenso die Bitte an den Präsidenten, noch eine dritte Periode zu bleiben, enthalten. Dieses Dokument ist es wert, dass es vollständig zitiert wird:

«Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch!

Die Russische Akademie der Künste wendet sich noch einmal an Sie mit der Bitte, dass Sie auf Ihrem Posten in der nächsten Periode bleiben, und drückt damit die Meinung der gesamten künstlerischen Gemeinschaft Russlands aus, mehr als 65 000 Künstler, Maler, Bildhauer, Graphiker, Meister der dekorativ angewandten Kunst, der Theaterdekorationskunst und der Volkskunst.

Aufrufe, sich an Sie zu wenden, Sie zu bitten, Ihre für das Land so wichtige Arbeit fortzusetzen, kommen zu uns aus allen Enden Russlands, da die Akademie ja eng mit allen seinen Regionen verbunden ist. In diesem Brief ist die Position der Künstler nicht nur aus Moskau und St. Petersburg, sondern auch der zentralen Gebiete Russlands, des Südens und des Nordens, des Urals, Sibiriens und des Fer-nen Ostens ausgedrückt. Während der Arbeit muss man sich mit vielen Menschen treffen, und wir versichern Ihnen, sie sind sich einig in dem Wunsch, dass Sie un-ser Staatsoberhaupt blieben.

Wir danken Ihnen für die ständige Unterstützung der vaterländischen Kunst und Kunsterziehung. Die von Ihnen vollzogene kluge Staatspolitik erlaubte der russischen Kultur wieder neues Leben zu gewinnen.

Wir schätzen hoch Ihre riesigen Errungenschaften in allen Lebenssphären Russlands, so dass dank Ihrer Anstrengungen soziale Stabilität und Fortschritt er-reicht wurde und es erhöhte sich ungewöhnlich die Autorität unserer Heimat in der ganzen Welt.

Für uns ist es lebenswichtig, dass Sie auch nach 2008 ihre bewährte und heilsame Politik weiter ausführen, was die positive Richtung der Staatspolitik, die die Stabilität und das Gedeihen der vaterländischen Kultur, der besten Werte un-serer Kunst, die Steigerung der Maßnahmen zum Schutz des künstlerischen histori-schen Erbes und der Wertgegenstände der Museen garantiert, erlaubt zu bewah-ren.

Dies fühlt heftig die Künstlerjugend, die häufig in der Avantgarde der gan-zen russischen Jugend befindet und die sich ernsthaft der Zukunft Russlands stellt, die ohne Sie als Präsident unseres Landes nicht denkbar ist.

Wir haben, dass Sie die Meinung von zigtausend Künstlern und Entschei-dungsträgern der vaterländischen Kultur und Kunst über die Notwendigkeit Ihres Verbleibs auf dem Posten des russischen Staatsoberhauptes auch nach 2008 be-rücksichtigen. Russland ist Ihr Talent als Staatsmann, Ihre politische Weisheit un-abdingbar. Wir bitten Sie sehr, tief verehrter Wladimir Wladimirowitsch, unseren Hoffnungen auf Ihre positive Entscheidung Aufmerksamkeit zu schenken».

Beide Beispiele stellen die offizielle Nachfrage an die Macht seitens der Zi-vilbevölkerung dar. Den Präsidenten rufen sie geradezu demonstrativ zur Regie-rungszeit eines Zaren auf, und dieser formt sich wie ein organisch von unten nach oben, vom Volk zum Souverän gehender Aufruf. Insbesondere stellt ihn so in sei-nem Aufsatz ein Vertreter der Partei „Einheitsrussland“, Doktor der politischen Wissenschaften Abdul-Hakim Sultygow:

«Die organisch miteinander verbundenen Kategorien „russische Nation“ – „nationaler Leader“ sind die wichtigsten ideell politischen Bedeutungen der neu-esten Geschichte Russlands.

Die synthetisierte äußere Form der Äußerung des Phänomens ist der strate-gische Plan Nation = Plan Putins. Auf der Grundlage dieses Planes, und dies ist ein prinzipielles Moment seiner qualitativen Charakteristik, liegt die historische Handlung des Volkes Russlands selbst, das, mit den Worten Putins gesagt, - „feh-lerlos einen neuen Vektor in der Entwicklung seiner tausendjährigen Geschichte auswählen“ konnte.

Diese Wahl, die das russische Volk am Anfang des XXI. Jahrhunderts ge-troffen hat, nachdem sie im Grunde für Putin die uninationale Mission wurde, wurde sie die Manifestation der nationalen Idee der Idee der nationalstaatlichen Einheit Russlands, der Idee einer würdigen Zukunft des großen Landes...

Bildlich gesprochen, die Genesis „des Phänomens Putin“ fügt sich in die Konstruktion der klassischen Hegelschen Triade (thesis-antithesis-synthesis): nati-onale Idee – nationaler Leader – strategischer Plan der Nation».

Ich bitte, dieser spaßigen „Hegelschen Triade“ Aufmerksamkeit zu schen-ken, mit Hilfe derer der Autor seine Sicht der politischen Situation theoretisiert. Die Notwendigkeit einer Synthese verweist darauf, dass die Individualität, die wir sind, sich im Allgemeinen wiedererkennen soll. Dabei tritt als Figur des Allgemei-nen die russische Staatlichkeit auf, und die allgemeine Anerkennung der Macht be-zeichnet, wie ich schon begonnen habe zu sagen, eine Art lokales „Ende der Ge-schichte“.

Nicht zufällig wurde als neuer nationaler Feiertag der Tag der nationalen Einheit erklärt, der am vierten Oktober gefeiert wird. Die Figur der Einheit, des mystischen Verschmelzens der Macht, der Partei und des Volkes, das ist eine ge-wisse Parodie auf die vollendete Hegelsche Totalität.

Der Aufruf zu herrschen, der scheinbar vom Volk an den Präsidenten geht, trägt fast rituellen Charakter – einerseits nimmt ihn niemand ernst, da die erwach-sene Bevölkerung die Rituale der spätsowjetischen Periode im Gedächtnis behalten hat, und andererseits nehmen viele die Absurdität dieser Situation als eine gewisse konventionale Norm.

Gerade auf Kosten dieser Konventionalität wirken nach meiner Ansicht die ideologischen Mechanismen. Und hier wird es angebracht sein, eine Grenze zwi-schen Ideologie und Polittechnologie in bezug auf den russischen Kontext zu zie-hen. Es handelt sich darum, dass in den neunziger Jahren das Wort „Ideologie“ hauptsächlich zur Kritik der sowjetischen Gesellschaftsordnung benutzt wurde und ausschließlich negative Konnotationen hatte. Ideologie wurde fest mit der verknö-cherten Sprache der sowjetischen Bürokratie assoziiert.

Was die Polittechnologie betrifft, so wurde und wird dieses Wort anders wahrgenommen. Ein Polittechnologe ist ein Mensch, der zynisch das Bewusstsein anderer Menschen manipuliert, ohne die eigene Distanz hinsichtlich Redeproduk-tes, das er produziert, zu verbergen. Die Polittechnologien sind eines festen Fun-damentes beraubt und die Wahl der einen oder anderen Strategie kann ausschließ-lich vom Marktwert der Idee motiviert sein.

Gerade die Polittechnologien Ende der 1990-iger – Anfang der 2000-iger Jahre spielten eine Schlüsselrolle im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes. Doch jetzt können wir davon sprechen, dass der Moment eingetreten ist, wo die zahlreichen, biegsamen Polittechnologien auf die Notwendigkeit stoßen, sich selbst zugunsten einer gewissen ganzen, einheitlichen Ideologie, die sie selbst auch produzieren, zu eliminieren.

Man muss hervorheben, dass das Wort „Ideologie“ selbst rehabilitiert wird. Da habe ich so eine Äußerung insbesondere auf der Seite der „Jungen Garde“, eine Jugendorganisation, die aktiv den Präsidenten unterstützt, gefunden:

«Die Verfassung verbietet eine Staatsideologie zu haben.

Um so weniger kann kein einziger Staat in der Welt ohne eine Staatsidee, ei-nen Grundvektor der Entwicklung, leben. In unserem Land wurde ein solcher Vek-tor die Konzeption der souveränen Demokratie. Diese Staatsidee, von dem effekti-ven Teil der Elite formuliert, soll in einen maximal breiten Kreis von Menschen ge-tragen werden.».

Im Juni diesen Jahres hatte ich die Gelegenheit, an einem „runden Tisch“, den der „Fond für effektive Politik“ veranstaltete, teilzunehmen. Diese Organisa-tion, geleitet von dem Politologen Gleb Pawlowskij sammelt Persönlichkeiten, die in den letzten Jahren erfolgreich die Politik der Kremlmacht in die breite öffentli-che Sphäre gesendet haben. Ich würde dieses Institut als polittechnologisches be-zeichnen, das sich jetzt schnell umstellt und versucht ein ideologisches zu werden.

Das Thema des „Runden Tisches“, von dem ich begonnen habe zu sprechen, war gerade die Ideologie. Es ging darum, ob es nötig ist, Apparate der ideologi-schen Kontrolle in die Bildung, in die Höheren Lehranstalten einzuführen. Eine solche Erörterung ist nicht die einzige. Sie stellt nur eine aus einer ganzen Serie von Maßnahmen dar, die ungefähr denselben Sinn haben. Die Auftretenden spra-chen davon, dass wir wirklich eine gewisse Einheitsideologie brauchen, dass die Jugend ihr Land, den Staat, ihre Geschichte ganz, eindeutig und positiv wahrneh-men soll.

Das Thema Geschichte verdient eine besondere Bemerkung. Der Ge-schichtsunterricht in der Schule war in Russland in letzter Zeit Gegenstand von Diskussionen. Übrigens das Wort Diskussion ist hier nicht das passendste, da diese Gespräche hauptsächlich monologischen Charakter hatten. Ihr Wesen läuft darauf hinaus, das unbedingt die positiven patriotischen Werte entwickelt und kultiviert werden sollen.

Insbesondere wurde auch an diesem runden Tisch die Meinung vertreten, dass die Aufgabe des Historikers nicht die objektive Forschung sei, sondern die Erziehung der ganzen Persönlichkeit im Geiste des Patriotismus, die eine Stütze des starken Staates wird. Darum soll der Vorzug nicht der Glaubwürdigkeit der Fakten gegeben werden, sondern der Bündigkeit einer gewissen historischen Logik der Entwicklung. Wenn diese Logik irgendwelche negativen Momente stört, so muss man sie ganz einfach aus dem historischen Narrativ ausschließen.

Ich hebe hervor, dass wenn man in Gedanken zehn Jahre zurückgeht, in den 1990-iger Jahren war Äußerungen dieser Art nicht legitim und hatten keine eigene Nische im öffentlichen Raum. Ihr Übergewicht heute entstand nach meiner Ansicht als Resultat einer diskursiven Verschiebung (sdvig), die Anfang der 2000-er Jahre vor sich gegangen ist. Ich nenne diese Verschiebung „patriotische Wende“.

In der Epoche der 1990-iger war der patriotische Diskurs ein ziemlich mar-ginales Phänomen. Man kann sagen, er war äußerst unpopulär und er fand Anhän-ger hauptsächlich unter Teilen der enttäuschten älteren Leute, Pensionisten, die sich auf der Verliererseite im Verlauf der Reformen befanden und auf eine Restau-rierung hofften.

Zu dieser Zeit war im Lande die offizielle Ideologie die liberale, da nach dem Zerfall der UdSSR die kapitalistische Privatisierung eine sie legitimierende Rhetorik brauchte. Die Neuverteilung des Eigentums wurde von lebhaften Diskus-sionen über demokratische Freiheiten und Menschenrechte begleitet. Die Mehrheit der Bevölkerung glaubte daran, dass die sogenannten demokratischen Reformen am Ende von Erfolg gekrönt sein werden und das Konsumniveau sehr bald in Russland so hoch sein wird, wie auch im Westen.

Doch dieser Glauben wurde durch nichts bekräftigt. Im Gegenteil, die öko-nomische Situation wurde immer schwieriger. Die liberale Ideologie ließ sich nicht mit der wachsenden ungeheueren Armut und sogar Elend verbinden. Dieses Elend befand sich im offenen Widerspruch mit den Appellen des Liberalismus an den ge-sunden Menschenverstand und die unsichtbare Hand des Marktes, die alles an ih-ren Platz stellen kann.

Allmählich wurde offensichtlich, dass die ökonomische Krise die Folge der neoliberalen Reformen ist, und die Menschen wurden enttäuscht von der Idee der Modernisierung Russlands nach westlichem Muster, aber ebenso enttäuscht von der liberal-demokratischen Ideologie als solcher. Den Westen als Symbol liberaler Werte begann man mit der Aggression der wilden Aneignung und Anhäufung von Kapital zu assoziieren, und den Zerfall der UdSSR als Resultat einer sorgfältig ge-planten Expansion zu sehen.

In einem Moment öffnete diese Enttäuschung weite Perspektiven für die lin-ke Bewegung, jedoch diese Bewegung selbst war ziemlich schwach und konnte nicht die Möglichkeiten zu ihrer Verstärkung nutzen. Die Massenauftritte der Pen-sionisten gegen die монетизации? der Ermäßigungen stellten eine ziemlich große Gefahr für die existierende Macht dar, und nur die Aneignung der patriotischen Rhetorik durch die Elite konnte diesen elementaren und mächtigen Protest neutra-lisieren.

Die Polittechnologien waren so geschmeidig und konnten in wenigen Jahren die offizielle Rhetorik vollkommen umstellen, sodass sich nun die linken und libe-ralen Ideen an der Peripherie befanden. Teilweise begünstigte dies das Aufkom-men des Faschismus, der auch lange Zeit eine marginale Erscheinung war, als ei-ner Art Mode, aber im Laufe der letzten Jahre gewann er einen ziemlichen Mas-sencharakter. Zum Beispiel begann die Feier des Tages der nationalen Einheit mit dem „Russischen Marsch“, der auch jetzt durchgeführt wird.

(Foto vom «Russischen Marsch»)

Die Macht nahm geradezu die zusätzliche Mission „des Kampfes gegen den Faschismus“ und Nationalismus auf sich, indem sie eine zentristische Politik des gemäßigten und „gesunden“ Staatspatriotismus durchführte. Massenbewegungen des Protestes enttäuschter Menschen, die nicht der Macht glaubten, machten dieses Faktum offensichtlich, dass keine Politik ohne die breite Unterstützung seitens der Gesellschaft realisiert werden kann.

Darum mussten die Polittechnologien freiwillig der Ideologie, die von ihnen selbst geradezu intuitiv im Prozess des ständigen Monitorings der gesellschaftli-chen Stimmung gefunden worden war, Platz machen. Worin liegen eigentlich die wichtigsten Thesen des gegenwärtigen ideologischen Programms?

In kurzer Form sind diese Thesen in einigen Auftritten des Leiters der Ad-ministration des Präsidenten, Wladislaw Surkow, die der „souveränen Demokratie“ gewidmet sind. Ich bringe einige Auszüge aus seiner Rede vor den Vertretern der Russischen Akademie der Wissenschaften:

«…Das neue Gebäude der russischen Demokratie wird auf dem historischen Fundament der nationalen Staatlichkeit errichtet.

... In unserer Denk- und kulturellen Praxis wiegt die Synthese über der Ana-lyse, der Idealismus über dem Pragmatismus, die Bildhaftigkeit über der Logik, die Intuition über dem Verstand, das Allgemein über dem Einzelnen vor.

Der Grund unserer Kultur ist die Wahrnehmung des Ganzen, und nicht die Manipulation durch Teile; das Sammeln, und nicht die Teilung...

…Die fundamentale Gegebenheit verleiht der russischen politischen Praxis drei leuchtende Besonderheiten.

Erstens ist es das Streben zur politischen Ganzheit durch die Zentralisierung der Machtfunktionen. Zweitens die Idealisierung des ganzen politischen Kampfes. Drittens, die Personifizierung der politischen Institute.

...Eine starke zentrale Macht sammelte, festigte und entwickelte das riesige Land im Laufe von Jahrhunderten.

… Heutzutage stabilisierte die Verschiebung der Macht zum Zentrum die Gesellschaft, sie hat die Bedingungen für den Sieg über dem Terrorismus geschaf-fen und hat das ökonomische Wachstum unterstützt…

… Das Vorhandensein eines mächtigen Herrschaftszentrums wird von der Mehrheit als Garantie der Erhaltung der Ganzheit Russlands, sowohl territorial, als auch geistig, von jedem heute verstanden.…

… In unserer politischen Kultur ist die Persönlichkeit das Institut eben.

… die starken Personen kompensieren häufig die schwache Effektivität der Kollektive, das Defizit des gegenseitigen Vertrauens und der Selbstorganisation.

… die Konzeption der souveränen Demokratie entspricht in der besten Wei-se den Grundlagen der russischen politischen Kultur». (Russische politische Kul-tur. Blick aus der Utopie)

Insbesondere nennt Surkow unter den unbestreitbaren Vorzügen der souve-ränen Demokratie, dass sie «die Zentralisierung rechtfertigt, die Konzentration der Machtressourcen, der intellektuellen und materiellen Ressourcen der Nation zwecks der Selbsterhaltung und der erfolgreichen Entwicklung eines jeden in Russland und Russlands in der Welt», sowie, dass «der Text über die souveräne Demokratie personifiziert ist, da der Kurs den Präsidenten Putin interpretiert».

Ich habe schon begonnen über diese Personifizierung zu sprechen. Jetzt set-ze ich fort. Viele Beobachter registrieren, dass der Personenkult wieder auflebt. Das gibt Anlass Putins Regime mit dem Stalinismus zu vergleichen, umso mehr da das Verhältnis der russischen Gesellschaft zu Stalin immer loyaler wird.

Auf dieser Grundlage, apropos, sehen einige als Ursache dieses Konformis-mus nicht nur der russischen Intellektuellen, die auf die Seite der Macht überwech-seln, sondern auch eines großen Teils der Bevölkerung, Angst. Das hier schreibt zum Beispiel Dmitrij Bykow, eine bekannter Literat, Journalist und Publizist:

«Alle fürchten sich: die Redakteure im Fernsehen und im Rundfunk, die sich an jedes Wort klammern, die im Keim jedes klitzekleines lebendige Format ersti-cken. Die Leiter der Kraftämter (силовыe ведомствa), die sich gegenseitig beißen und scheu, mit einer Vorsicht, die schwer zum überspannten Pathos passt, den Kehricht aus dem Großen Haus tragen. Die Oligarchen, von denen fast nichts üb-rig blieb. Die Bankiers. Die Journalisten. Die Lehrer, fürchten in der Geschichts-stunde etwas herauszuplatzen, was nicht dem neuen Kurzen Kurs entspricht». (Ein Versuch über die Angst).

Doch, nach meiner Ansicht ist der eilige, ungestüme Übergang der Intellek-tuellen und der Intelligenz auf die Seite der Macht und dass sie die Rolle der Ideo-logen der souveränen Demokratie annehmen, nicht nur und nicht so sehr mit der Angst vor potentiellen Repressalien oder einfach mit der Angst, ohne Existenzmit-tel zu bleiben, verbunden.

Nicht so stark ist das vorliegende Überlaufen auch mit dem Vorteil einer solchen Position verbunden. Dieser Vorteil wurde offensichtlich, als die Macht das Bedürfnis nach einem ideologischen Apparat empfunden hat und aufmerksamer anfing, den Meinungen des kulturellen und gebildeten Publikums zu lauschen, doch meine ich, dass der Vorteil kein leitendes Motiv der Popularisierung der kon-servativen und staatsmännischen (государственнический) Ideen ist.

Meine These liegt darin, dass der Wunsch, heute näher der Macht zu stehen, tiefere Gründe hat. Er ist aufrichtig. Und damit solche Aufrichtigkeit entsteht, reicht es nicht, den Menschen einzuschüchtern oder zu bestechen. Ich sprach dar-über, dass die Souveränität als Figur des Endes der Geschichte erscheint, der ewi-gen Stabilität und der Positivität. Die Nähe zu ihr stellt für den Intellektuellen eine Versuchung dar – die Versuchung der Nähe zur Wahrheit, die der Lage der Dinge gleichsam entspricht.

Wir werden uns erinnern, dass die Überlegungen Kojéve über das Ende der Geschichte ihn zur Idee der endgültigen Identifizierung des Philosophen mit der Herrschaft und des Verzichts auf die Philosophie zugunsten des staatlichen Diens-tes gebracht haben. So erklärt Bataille:

«Gewiss, dass, nach Meinung, der Philosoph, der mit den beherrschenden Formen verbunden ist, wie die Vernunft mit dem Körper, mit ihnen eine solche Ganzheit bildet und eine Autonomie erreicht, die der Herr nicht erreichte (in der Terminologie Hegels ist dies ungefähr dasselbe wie der Souverän): wirklich, beim endgültig möglichen Zustand der Dinge darf der Philosoph nichts wünschen, was keine herrschende Realität wäre, und die herrschende Realität darf nichts erzeu-gen, was der Lehre des Philosophen widerspräche». (La Part maudite, 1947).

«Der Plan Putins ist der Sieg Russlands» ist einer der neuesten Slogans des modernen Russlands. Wir können ihn in großen Buchstaben geschrieben in den Hauptstraßen der russischen Städte sehen.

Niemand weiß, worin eigentlich der Plan Putins besteht. Es wird jedoch an-genommen, dass die russische Gesellschaft in Einheit und Einverständnis schon auf dem Weg der Verwirklichung dieses Planes unterwegs ist. Als ob der Sieg schon erreicht sei. Die Versuchung, die von der Souveränität ausgeht, ist mit dem Wunsch verbunden, mit dem Sieger identifiziert zu werden, sich in den Strahlen seines Ruhmes zu sonnen.

Im Zusammenhang mit dieser Figur des Siegers werde ich mir erlauben, den Ausspruch Philosophen Oleg Aronsons zu zitieren:

«Man kann sagen, dass der neue Typ des Menschen im Akkordtempo heran-gezogen ist, der durch die Schule der politischen Perzeption gegangen ist. Herr Pawlowskij hat gerade diesen Typ die "Sieger" genannt. Er wird augenblicklich erkannt, wenn jemand von "den Schrecken der Jelzindemokratie“ spricht, wenn die "nicht Einverstandenen" dafür kritisiert, dass es bei ihnen keine "Positiva" gibt, wenn er sich über das steigende Budget des Landes und die Größe des Stabilisie-rungsfonds freut... Man kann weiter aufzählen. Man kann nicht sagen, dass alle diese Leute finanziell gesichert sind, aber alle sind schon „andere“. Und selbst wenn sie noch nicht viel Geld und Macht haben, so nimmt doch das Geld und die Macht schon virtuell sowohl an ihrem Denken, als auch an ihrer Sinnlichkeit teil. Solche Leute braucht der Staat». (Zeit der Streikbrecher)

Die Hauptressource des Regimes der Positivität, das ich hier im Allgemei-nen beschreibe, stellen diese Menschen dar, die wünschen, dem Staat nötig zu sein. Doch denke ich, dass nicht nur das Geld und die Macht ihre Auswahl bestimmt. In gewissem Maße ist diese Auswahl existenziell, und die, die Aronson Streikbrecher nennt, investieren in die Souveränität ihre menschliche Negativität, ihre emotiona-len Kräfte. Die Positivität ist eine Arbeit der Negativität, wenn aus der Negation Negativität selbst der größte Nutzen gezogen wird.

Ich erlaube mir, an die einfache Wahrheit zu erinnern: die Herrschaft neigt dazu, die Geschichte, in der Absicht die eigenen Positionen zu festigen, zu finali-sieren. Der Macht, genügt einfache Gewalt, um zu herrschen, nicht: es ist eine maßgebliche Figur nötig, die das allgemeine Vertrauen herbeirufen würde und e-ben in den Augen der Mehrheit die systematische Verwirklichung dieser Gewalt rechtfertigte. An und für sich ist das Kapital unansehnlich: in der paradoxen Weise verwendet es die Souveränität (das, was nach der Bestimmung nicht verwendet werden kann), wie früher die Souveränität die Macht verwendete, um das Leben – seiner und anderer zu genießen.

Natürlich, tatsächlich bei weitem nicht alle Vertreter der schöpferischen In-telligenz, so wie auch nicht alle „einfachen Leute“ teilen die Forderung der Einpar-teilichkeit und der Konzentration der Macht in die einzigen Hände. Gewiss, exis-tieren welche, die nicht einverstanden sind, es existieren welche, die offen Protest offen äußern. Doch unterliegt die Nichtanerkennung der existierenden Macht einer immer größeren Verurteilung, über die nicht Einverstandenen wird nicht nur ge-lacht, sondern sie werden auch «Feinde Russlands» genannt, die die Grundlagen der Stabilität untergraben.

Außerdem, einer der Momente der Bestätigung der Souveränität ist in ihrer traditionellen Form die grausame Unterdrückung der existierenden Opposition. Man kann vermuten, dass es eine Art eines gegenwärtigen Analogons der mittelal-terlichen öffentliche Hinrichtung ist. Die Massenverprügelungen von der Polizei der Teilnehmer der Protestaktionen demonstrieren die Kraft der staatlichen Gewalt gleichsam, die die Stabilität schützt und die die Mißgünstigen stören wollen, das Leben des Volkes schöner zu machen.

(Foto von Straßenprotestaktionen)

Insgesamt bekommt dieser Protest keine breite Publizität und wird aus dem Rahmen der sozialen Repräsentation aktiv verdrängt. Er bleibt im Schatten, eben-so, wie die Armut eines bedeutenden Teiles der Bevölkerung Russlands und die völlige Verlumpung einer ganzen Schicht der Menschen, die alles im Verlauf der Reformen verloren haben, im Schatten bleibt.

(Foto von Obdachlosen)

Für all diese Menschen gibt es faktisch in der russischen Gesellschaft keinen Platz. Das sind die, die Oleg Aronson die Verlorenhabenden nennt.

«Verloren habende sind nicht nötig. Sie sind nicht einfach vergessen, sondern sie werden planmäßig, jahrelang einem wirklichen Genozid unterzogen. … wartet die staatliche Gewalt(Macht) auf das natürliche Verschwinden ganzer Schichten der Bevölkerung. Zuerst der Lumpen (люмпенов). Dann der Rentner. Dann der, die aus irgendeinem Grunde diese noch weiter behandeln. Dann der, die (damit zeigen sie sichtbar ihre "Passivität") weiter in den kleinen Städtchen (Gorodki) und in den Dörfern für ein bettlerhaftes Gehalt (Lohn) arbeiten. Dann der, der sich etwas erinnert. Und endlich der, der sich nicht den jubelnden Reihen der Sieger anschließen will ». (Zeit der Streikbrecher).

Zum Schluss will ich dazu zurückkehren, womit begann, und uns an den Einwand Batailles gegen die Idee Kojéves über das Ende der Geschichte erinnern. Die Menschen, die sich als unnütz erweisen, sind gerade jene arbeitlose Negativi-tät, die in ihrem Unwillen beharrt «sich in die Reihen der Sieger einzureihen» und der Totalität der Macht nicht erlaubt zum Abschluss zu kommen und durch ihre Existenz allein vollständig alle ihre Grundlagen zurückweist. Aus dem Schatten der deklassierten Marginalität, in der sie sich befinden, haben sie die Möglichkeit zu sehen, dass die Souveränität, beleuchtet vom Ruhm, lächerlich ist und in ihrem Zentrum befindet sich «der nackte König».

(Photo des halbentkleideten Putins).

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Author

Timofeeva, Oxana

Philosophin, arbeitet bei der Neuen L