Durch Wüste und Staub

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Srđan V. Tešin: „Durch Wüste und Staub“

Erstes Kapitel

Ich begann endlich mich zu zerknittern

Unser Schriftsteller beginnt seinen Roman mit den Fällen, an die er sich leben-dig erinnert, obwohl sie geschahen, bevor er auswendig lernte, alle Buchstaben zu verwenden. Die vom Großvater geerbte Abenteuer wurden zum richtigen Familienmysterium unseres Schriftstellers, der nur eine Fortsetzung dieser Ge-schichte ist. Das Kapitel beginnt mit der Erinnerung an den Großvater, der Hei-zer auf einem Überseeschiff war und der auf dem Mittelmeer fuhr, über das der Schriftsteller und seine Geliebte in einem Flugzeug fliegen.

In den Geschichte aus dem ersten Kapitel bekamen die Hauptrollen der musku-löse Vater des Schriftstellers, der Onkel des Schriftstellers, die Großmuttertante des Vaters und die Schwester des Onkels.

In der Beichte, in der er uns verrät, was er alles, in den Sommerferien, die er zu-sammen mit den Schulkameraden verbrachte, erlebte, erfahren wir, dass er am besten das folgende im Gedächtnis hat:

1. die erste sexuelle Erfahrung, die eines Nachmittags, zwischen dem Mittages-sens und der Jause, aber vor dem Gang zum Strand, in Split geschah.

2. ein Paar der weißesten Brüste, die man sich vorstellen kann. In der letzten Geschichte dieses Zyklus macht der Schriftsteller einen Cut und kehrt für ei-nen Augenblick in die Teenagers Tage zurück, damit er sich an die Beiwoh-nung dem Ablegen des Eides seines Bruders erinnert, der in der Armee bei einer Flotteninfanterie auf Vis diente, denn das ganze nächste Kapitel wird über die Erlebnisse auf dieser Insel berichten.

1.

Mein Großvater fuhr über das Mittelmeer. In den dreißiger Jahren des 20. Jahr-hunderts stieß er sich als der Heizer auf dem Überseeschiff durch Bosporus und Dardanellen aus dem Hafen Constanza am Schwarzmeer ab, fuhr weiter über das Mittelmeer, landete in verschiedenen Häfen, stromerte durch die enge Straße von Gibraltar, und dampfte endlich über den Atlantik Richtung Südamerika ab. Ich höre diese Familiengeschichte von klein auf, und abhängig davon, wer von den plappernden Freunden sie erzählt, bekommt sie mehr oder weniger Aus-schmückungen und Logik. Es ist eine Tatsache, dass der Großvater über das Mittelmeer fuhr und dass sein einziges Ziel war, in Argentinien sich niederzu-lassen, dem versprochenen Land, in dem er dann ein neues Leben anfangen würde. Das, dass bei mir alles auf den Kopf gestellt ist, scheint mir eine Eigen-schaft, die ich von ihm erbte: es wird sein, dass auch seine Weltansicht wie die Weltansicht eines Menschen ausschaut, der auf dem Kopf steht. Es wäre besser, wenn ich von ihm einen starken Magen (Verdauung), oder wenigstens die Fäus-te groß wie eine Schaufel, geerbt hätte. Nun, es ist so, wie es ist. Die Geschichte erzählt weiter, dass er in einem argentinischen Hafen der Zeuge eines Mordes war, oder nach der zweiten Version, dass er selbst an einer Schlägerei teilnahm, in der jemand mit dem Messer erstochen wurde. Danach kommt ein konfuser Teil: der Großvater flüchtet aus Argentinien, man weiß nicht, ob zu Fuß oder mit dem Zug, und irgendwie gelangt er an die mexikanische Grenze, wonach ihn die texanischen Rancher als Immigranten verhaften und die, nach dem sie zwei und zwei zusammenzählten, entscheiden, ihn nach Rumänien zu deportieren, weil sie sich dessen vergewisserten, dass er auf dem Schiff mit der Flagge dieses Balkanstaates fuhr. Es folgt darauf die letzte Reise Großvaters mit dem Schiff. Die Erzähler wären nicht einmal mit dem vorhergehenden Satz einverstanden, geschweige denn mit der Angabe, in welcher Stadt des Vereinigten Königreichs der Großvater als der Metzger arbeitete: in Cardiff oder London; das einzige, was sicher ist, ist dass er die Rinder in dem Staat schlachtete, in dem die Sonne nie untergeht. Warum ihm das alles langweilig wurde und warum er entschied, nur mit einem Koffer aus Karton in der Hand und im Mantel mit dem Astra-chankragen in den Ort M. zurückzukehren, ist weder mir noch denjenigen be-kannt, die mir diese Geschichte so viele Male unterschiedlich erzählten. Meine Quellen stimmen in vielen Dingen nicht überein, nicht einmal mit der Angabe, dass der Großvater aus England nach Hause zu Lande zurückkehrte, oder dass er noch einmal mit dem Schiff rundherum bis zum rumänischen Hafen Brăila, an der Donau, fuhr. Man kann daraus Schlüsse ziehen, dass Großvaters Abenteuer ein richtiges Familienmysterium wurden. Ich bin möglicherweise die Fortset-zung dieser mysteriösen Geschichte. Ich begebe mich ebenso durch meine Rei-sen auf die Suche nach einem besseren Leben. Oberhalb vom Mittelmeer schau-en meine Geliebte und ich in das öde Türkismeer, über das der Großvater fuhr. Es scheint, dass uns von so viel Wasser und Wolken übel werden wird. Wenn wir uns beim Schauen anstrengen, erblicken wir einen ganz winzigen Punkt: das ist das Schiff, das tief unter uns fährt. „Es ist höchstwahrscheinlich ein Tanker, wenn wir ihn aus dem Flugzeug sehen können“, räsoniert gescheit meine Geliebte. Sie, mein Großvater und ich fuhren über das Mittelmeer: er unter der rumänischen Flagge, und wir mit dem Flugzeug der tunesischen Flugkompanie. Mit dem Unterschied, dass wir keine Schlägereien hervorriefen und niemanden in Tunis ermordeten. Doch, der wesentliche Unterschied zwischen uns ist, dass Großvater im Unterschied zu mir ćutao kao zaliven /schwieg wie zugegossen/ über seine Reisen wortlos überging. Er würde mit dem Philosophen überein-stimmen, der sagte: „Über Dinge, über die man nicht reden kann, soll man schweigen.“ Trotzdem, wenn es sein Schweigen nicht gegeben hätte, gäbe es jetzt diese Geschichte nicht. In dem liegt das ganze Mysterium.

2.

Am lebendigsten erinnere ich mich an die Familiensommeraufenhalte an der Adria. Ich erinnere mich an unglaubliche Einzelheiten. Mein Vater lachte ges-tern schallend, als ich ihm sagte, dass ich mich an seine tigerartige Badehose erinnere. Er war ein richtiger Verführer, dieser Banattiger. Lieber beginne ich die Geschichte darüber nicht, wer weiß, wo sie mich hinführen würde. Ich war etwas über einem halben Jahr alt, als ich zum ersten Mal ans Meer fuhr. Die Er-innerungen an die Adria sind unzertrennlich mit der langen Reise in dem oran-gen Auto der heimischen Produktion gebunden: der Vater ließ den Rücksitz her-unter, breitete die Steppdecke aus, und mein Bruder und ich vergnügten uns wie die Lorde. Die Mutter war verantwortlich für Pofezne und gebackenes Huhn. Einmal, als wir langsam wie die Schnecken über den Velebit fuhren, kroch hin-ter uns ein Auto mit deutschem Kennzeichen. Der Bruder und ich jausten die Hühnerkeulen und schnitten Grimassen in das Gesicht des Fahrers, der uns der-maßen anstarrte, möglicherweise war er so hungrig, dass er nicht rechtzeitig bremste, sondern kurz von hinten unser Auto ankratzte. Ich zitiere nicht Vaters Wörter in seinem schrecklichen Deutsch. Viele schwarz-weiße Fotos zeugen davon, dass ich mutterseelenallein im Sand zu spielen vermochte. Zu dieser Zeit trat der Bruder auf den Seeigel oder er sprang ins Wasser und schlug sich den Schädel ein. Ich hatte nicht so einen abenteuerlichen Geist. Wahrscheinlich war er derjenige, der mir sagte, dass unser besoffener Onkel, der noch heute sein Schicksal am Boden des Glases sucht, das Meer versalzte. Wie ich damals um alle Fische im salzigen Wasser fürchtete. Die Eltern und die Verwandten konn-ten zwei Tage nichts gegen mein Gejammer wegen dem traurigen Schicksal der armen Meereswesen tun. Das war nicht das einzige Mal, dass ich an der Adria weinte. Ich erinnere mich, dass mir ein deutscher Taucher – wieder ein Deut-scher! - den Krebs, den er fing, zeigte, und ich dabei dachte, dass er ihn in meine Badehose hineinschmeißen will und deswegen anfing zu weinen, als ob man mir die Haut vom Rücken abziehen will. Als mein dressierter Banattiger zu mir ge-laufen kam, fehlte nicht viel, dass Deutschland einen seiner besten Söhne in ei-nem Kriegskonflikt, der ohne jeden Grund begonnen hat, an der Adria verliert. Ich weinte auch damals, als mein Onkel sich einer deutschen Familie besonders annäherte – nun habe ich sie wirklich satt – so dass er zum Andenken wünschte, sich mit der blonden Hilde und dem untersetzten Hans zu fotografieren. Nicht, dass ich weinte, sondern ich schrie, auf einer Luftmatratze mit der Applikation von Mickey Maus liegend, so laut ich konnte: „Ich will nicht mit dem Okkupan-ten fotografiert werden!“ Wenn ich mich bloß an die Kreuzfahrt auf Kornaten erinnere! Das war etwas, was Jahre lang später eine der teuersten Erinnerungen der Reisen wurde. Die Insel St. Roko, die gegrillte Makrele, Klettern auf den Olivenbaum, der Kapitän, der schreit: „Der Kleine wird ins Wasser fallen!“ Ich bin nicht der Erste und nicht der Letzte, dem die Adria den Knopf ist, mit der man die Erinnerungen an die Kindheit einschaltet. Meine ersten Reisen sind gleich der tigerartigen Badehose des Vaters unzerstörbar. Der Vater sagt, dass er in der Badehose im letzten Sommer den Zaun anstrich. Sogar, ich wischte mich heute nach dem Duschen mit dem Handtuch, das auf den alten Familienfotos an der Adria zu sehen ist. Die unzerreißbare Erinnerungen von der Adria. Die deut-sche Produktion. Mir ist wieder wegen der Deutschen zum Weinen.

3.

Am meisten verbrachten wir den Sommer auf Murter oder Betina. Das ist ir-gendwie dasselbe, weil diese zwei Orte zu einem geschmolzen sind. Wir hatten irgendeine Großmuttertante, die aus gesundheitlichen Gründen das Haus am Meer kaufte. (Mich sticht es auch in der Lunge, trotzdem wohne ich in einer gemieteten Wohnung.) Sie war verheiratet mit Onkel Kosta, der immer als erster aufstand, damit er in Ruhe seine Prothese mit der heimischen Seife wäscht, da er später wegen uns nicht dazu kommen würde. Großmuttertante mochte, wie man so sagt, dem Fass den Boden ausschlagen, so dass sie eine ideale Gesellschaft in meinem Onkel fand. Sie haben gewartet bis alle einschlafen, dann sind sie auf-gestanden, gingen in den Lagerraum, nahmen den Schinken und den Wein, die unsere Eltern als Jause mitnahmen, und dann aßen sie und tranken die ganze Nacht. Mein Vater konnte nicht beweisen, wer die Diebe von Schinken und Wein sind, und war überzeugt davon, dass die deutsche Familie aus der Nach-barwohnung damit etwas zu tun hat. Eine Nacht hockte er in der Dunkelheit, hinter dem Kühlschrank versteckt. Irgendwann hörte er die Schritte und das Türknarren. Er flog heraus wie verbrüht und schrie laut: „Haltet den Dieb!“ Alle sind aus den Zimmern hinausgelaufen, jemand schaltete das Licht ein, die Großmuttertante lag auf dem Boden mit den Händen auf der Brust und dem Schinken unter dem Kopf, und der Onkel, als ob nichts passiert wäre, saß weiter am Küchentisch und trank Wein. „Mein Gott, Bruder, warum schreist du herum, willst du, dass die Großmuttertante der Schlag trifft?“, tat er auf ungeschickt. Die Großmutter-Tante kam kaum zu sich. Sie murmelte: „Fangt an, die Sachen zu packen.“ Nach dem Ereignis verbrachten wir den Sommer nicht mehr bei ihr, sind aber weiter nach Murter oder Betina gefahren. Den Sommer verbrachten wir bei Onkel Viktor, der Partisan war und gegen die Deutschen gekämpft hatte. Er war im Krieg verwundet worden und hatte Narben auf dem linken Bein. Deswegen war ich Deutschen gegenüber misstrauisch. Er nicht, er vermietete ihnen die Zimmer, sagte zu ihnen, wenn er ihnen begegnen würde, „Guten Mor-gen, Guten Tag und Gute Nacht“. Einmal verbrachten wir den Sommer ohne Vater und Onkel, nur Mutter, Onkels Frau, Onkels Schwester und ich. Ich war selig unter den geliebten Frauen. Sie kauften mir ein T-shirt mit einem aufge-klebten Plastikpanther und einer Matrosenmütze. Die Tante fotografierte wie ich auf dem Schiffsbug salutiere, der für immer, vor dem Restaurant, in dem wir uns ernährten, gestrandet war. Ich fotografierte, wie sie wie jeder leidenschaftliche Raucher, auf der Brust schwimmt, und im Mund eine Zigarette hält. Ich habe noch heute diese schwarz-weiß Fotos. In Murter oder Betina verliebte sich mei-ne Schwester in einen viel älteren Schwimmlehrer. Sie kaufte sich große „Pu-ma“ Schuhe, um ihn zu verführen. In der Zeit war man nichts und niemand, wenn man keine tiefen „Puma“ Schuhe hatte. Sie musste noch zwei Paare So-cken anziehen, denn die Schuhe waren ein paar Nummer größer. Angesichts dessen, dass sie die Socken trug, konnte sie nicht schwimmen, und da sie nicht schwimmen konnte, brauchte sie keinen Schwimmlehrer. So blieb noch eine Ju-gendliebe wegen der Teenagermode einseitig. Ich wurde nie ein guter Schwim-mer. Und das alles wegen diesen komischen, aufblasbaren Dingen aus Gummi, die man an die Arme hinaufzieht und „Muskeln“ nennt. Mit ihnen geht man nicht ins tiefe Wasser, denn es besteht Gefahr, dass man untergeht, wenn die Stöpsel aufgehen. Wie in der Prosa: Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der wie ich, sie jeden Augenblick aufblasen musste , so auch im Leben: Endlich fing ich an, mich zu zerknittern.

Drittes Kapitel

Aber wie könnte ich darüber irgendetwas wissen...

Den Spuren Jasons folgend sah sich unser Schriftsteller plötzlich in Istrien. Man erzählt, dass der berühmter Argonaut auf der Flucht vor den gemeinen Kolchern auf der Donau nach Pula fuhr. Wenn auch die alten Erzähler übertrieben, macht das unser Schriftsteller auf keinen Fall. Er, der gezückt wie ein Schwert aus der Scheide war, seine Geliebte und zwei Freunde aus Istrien, die Schriftsteller sind und Journalisten hassen, und sich als Journalisten, die Schriftsteller hassen, vor-stellen, waren im Begriff, Pula auf Anhieb zu erobern. Einmal sind sie am ver-witweten Veruda, einmal an den Stränden von Stoja oder Valcano; bevor man die Hände zusammenschlägt, ist er schon in Vodnjan, Svetvinčenat, Pazin, La-bin, Podpićan oder Santa Marina. Eigenwillig herumstreifend durch Wüste und Staub, begegnet unser Schriftsteller unterschiedlichsten Ängsten: angefangen davon, dass er, wie das Männchen von der Gottesanbeterin, aufgefressen wird, bis zum entscheidenden Spiel, wo er wie Roberto Baggio den Elfer nicht ver-wandelt. Die Angst vor schwarzen Magiern, unerklärlichen zeitlichen Vakua und den bösen und verdorbenen Menschen, die in der Zeitung leben, ist nichts im Vergleich zu der Angst als er in Santa Marina, in einer Lagune gegenüber von Cres, beschloss, die erhabene Fräulein Artemida als seine Frau zu nehmen. Sie zu erobern, so kurzbeinig und kurzsichtig wie er war, war seine einzige Sor-ge.

11.

Im Pula des James Joyce war ich ein magerer Löwe, der in der Arena kämpft. Gleich mir biss ebenso Joyces Bloom die eigenen Ängste wie ein Löwe und liebte es, Innereien vom Schwein zu essen. Wenn das Essen reden könnte, wür-de es sagen, was es von uns hält. Auf der anderen Seite kann man daraus eine gerechtfertigte Analogie ziehen: du bist das, was du isst, denn die Wahl des Es-sens bestimmt den Menschen die Wahl des Essens, das er isst. Schlussendlich wird der Mensch physisch, nicht nur geistig, dem Essen, das er isst, ähnlich. Was kann man über die Bemerkung unseres Touristenführers aus Pula sagen: „Nur die Schweine und die Italiener essen Trüffel.“ Ich bin kein Landsmann von Eco und bin ziemlich sicher, dass ich der Art der Huftiere nicht angehöre, ob-wohl ich Trüffel gegessen habe, die ich in St. Marina kaufte. Manche Leute schätzen außerordentlich diese Pilze, die unter der Erde wachsen, wegen ihrer aphrodisierenden Eigenschaften und sind bereit, für sie ihren Reichtum her-zugeben. Die, die Menschenfleisch kosteten, „das Fleisch, das redet“, behaupten zuverlässig, dass es ebenso ein starkes Aphrodisiakum sei. Nehmen wir an, ich würde mir einen Extragenuß mit meiner Geliebten wünschen, dann sollte ich ebenfalls ein faschiertes Menschenschnitzel oder Kinderrippen unterm Satsch gebraten essen. Die Anthropologen haben aufgezeichnet, dass manche kanniba-lischen Stämmen aus Brasilien den Brauch haben, das Opfer, das sie im Krieg gefangen nahmen, bevor sie es essen, zu mästen, und erlauben ihm nach freien Willen mit Frauen geschlechtlich zu verkehren. Es ist selbstverständlich, dass dies die Frauen nicht daran hindert, später den leckeren Bissen ihres Liebhabers zu genießen, sogar eines Kindes, das aus so einer kannibalischen Liebe geboren würde. Obwohl sich manche Sitten der Stammesgemeinschaft, der ich angehöre, nicht von denen der Guaranastämme unterscheiden, ist es sehr unwahrscheinlich anzunehmen, dass jemand aufgegessen wird, nur damit man dem geliebten We-sen einen mehrfachen Orgasmus ermöglicht. Eher könnte man sagen, dass bei uns der Kannibalismus die Spitze der Verachtung wäre. Sogar würde sich der Henker in mir des Zitates erinnern: „Es ist wirklich schön, das Fleisch eines von uns gehassten Menschen zu genießen.“ Warum um Gottes Willen fällt mir das alles in diesem Augenblick ein, während meine Geliebte und ich in Pula darauf warten, dass uns die nette Kellnerin das Essen bringt, das wir bestellt haben? „Ein ausgehungerte Magen, sagt man, hat kein Gehör und das Bewusstsein be-greift nicht, was der Magen will“, zitiert der unermüdliche Henker in mir. Und woher jetzt dieses Interesse für die Geschichte der kannibalischen Impulse? Hat Pula irgendwie damit zu tun? Nach einiger im Nachdenken verbrachten Zeit, sagte ich unvorsichtig laut: „Ich würde nicht darauf wetten.“ Meine Geliebte wurde ernst. „Hast du etwas zu mir gesagt?‘, fragte sie. „Nein“, begann ich mich flüsternd zu wehren; damit mich angeblich niemand hören sollte, „ich schaue diesen Dicken gegenüber von uns an, der eine doppelte Portion gemischten Flei-sches bestellt hat. Ich würde nicht darum wetten, ob ihm ein einziger Bissen auf dem Teller übrig bleibt.“ Sie drehte sich um, schaute den Dicken an, lächelte schelmisch und zwinkerte zu mir mit den Augen zu: „Wie lustig du bist. Du bist so süß, dass ich dich aufessen könnte.“ Vor diesen Wörter würde sich auch der Henker in mir erschrecken.

13.

„Warte mal, wir haben so viel Zeit, wie du willst. Setzt dich hierher, so, da. Tauche zuerst die Beine ins Wasser hinein. Ist Wasser kalt? Nein, ich sag es dir schön. Bravo, Hajdi. Papi, schau, Hajdi hat keine Angst vor dem Wasser. Wenn sie mich fragen, ist es unvorstellbar, dass Hajdi Angst hat, aber nicht deswegen, weil sie odveč couragiert ist, sondern weil sie eine gewöhnliche Plastikpuppe ist, mit dem das blonde Mädchen an der seichten Stelle im Wasser, neben dem da-maligen Militärstrand in Pula, spielt. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen und waren offensichtlich beide Deutsche, wenn man für eine Puppe sagen kann, dass sie eine Staatsbürgerschaftsurkunde hat. Mit meiner Geliebten liege ich im Schatten der Föhren. Aufmerksam verfolgen wir die Geschehnisse am Strand, als ob wir eine Kindersendung anschauen würden, die wir damals so liebten. Unterhalb von uns, nah dem Meer, auf dem nackten Felsen liegt der Vater des Mädchens: ein großer und magerer Mann in den späten Dreißigern. Er hat eine vollkommen demoderne Badehose an und neben sich, in der Sonne, ließ er un-ordentlich einen olivenfärbigen Jägerrucksack und Gummischlapfen stehen. Er lag auf dem Rücken mit einem athletischen T-schirt, das er über das Gesicht geworfen hatte. Er stützte sich auf die Ellbogen, einige Zeit lang lag er so, dann stand er auf, streckte sich, nahm ein Handtuch aus dem Rucksack heraus und kniete sich darauf. „Mittagessen“, schrie er. Das Mädchen hörte ihn und lief auf ihn zu. In dem Moment hinter ihrem Rücken tauchte aus dem Wasser noch ein Mädchen aus, der Puppenbesitzerin in Haar genau gleich. Ich schaute meine Ge-liebte verwundert an, wo kommt jetzt diese Kleine her? Wie haben wir sie früher nicht bemerkt? Sie ging direkt auf das Essen zu, das auf dem Handtuch serviert war. Sie werden Zwillingsschwester sein. Sie konnten nicht älter als vier-fünf Jahre alt sein. Sie setzten sich neben den Vater und warteten geduldig darauf, dass er ihnen eine Brotscheibe abschnitt. Der Vater nahm aus den Plastiksackln Käse, Salami, Margarine und Joghurt. Die Mädchen machten die dreieckigen Sandwiches und aßen schweigend. Ich schaute ohne Augenzwinkern zuerst die eine und dann die andere an. Ich konnte nichts finden, was sie von einander un-terscheiden würde. Lippen, Nasen, Ohren, Stirn, Haare, alles war gleich. And-rerseits waren sie nicht ein bisschen dem Vater mit dem blonden Schnurrbart ähnlich. Wenn sie dabei gewesen wäre, hätte ich sie auch mit der Mutter ver-gleichen können. Das war nicht das erste Mal, dass ich nicht rechtzeitig schaffte, den Unterschied zwischen zwei Personen zu erkennen. Ich erinnere mich daran, dass in der Kompanie, in der ich bei der Armee war, unter den anderen glichen sich auch die EKs aufs Haar. Sie brachten uns gleichzeitig zum Wahnsinn und verwirrten uns und die Offiziere. Und warum bin ausgerechnet ich ihnen zuerst begegnet? Gleich nach dem ich das Bett zugeteilt bekam, kam einer von ihnen auf mich zu, aber damals wusste ich nicht, dass sie Zwillingsbruder sind, nahm den Kaugummi aus dem Mund und befahl mir den in den Mistkübel zu schmei-ßen. Ich habe nicht einmal daran gedacht, so einen primitiven Befehl zurückzu-weisen, obwohl mir zum Kotzen war, weil ich in der Hand den Kaugummi, den die bis zur Karies gefaulten Zähne kauten, halten werde. Als ich zurückgelaufen war, um zu berichten, dass ich den Kaugummi weggeschmissen hatte, begann der EK mich anzuschreien und so zu tun, als ob er mich zum ersten Mal im Le-ben sehen würde. Ich bin doch nicht verrückt?! Ich weiß, was er gesagt, habe ich zu tun? In dem Augenblick, unbemerkt hinter seinem Rücken, tauchte genau so ein EK-Kopf auf: er grinste und verdrehte die Augen, glücklich darüber, dass sie uns beide ausgetrickst hat. Ich überlege mir jetzt, dass er wahrscheinlich noch heute so ein Teufelskerl ist, der seinen Bruder zum Wahnsinn treibt. Deshalb, dessen nicht bewusst, was ich eigentlich mache, suche ich auch bei diesen Mäd-chen den verborgenen Abdruck ihrer Schicksale, von denen in der Zukunft ihre Charaktere abhängig sein werden. Als ob das mein Job wäre, fällt mir endlich den Unterschied auf: Eines von ihnen hat einen Kaugummi im Mund!

Fünftes Kapitel

Etwas ähnliches habe ich früher nie gesehen

Belgrad war oft das Endergebnis vieler Reisenden, die in der Literatur Spuren hinterlassen haben. Unser Schriftsteller ist einer von denjenigen, die aus der tiefsten Provinz nach Belgrad auf den Spuren ihrer Verwandten kamen. Der Schriftsteller, dessen Bücher unser Held besonders schätzt, kam in die Lektüre für die achte Klasse mit dem Gedicht hinein, die schon im Titel den Onkel des Schriftstellers und Belgrad erwähnt. Es gibt keinen Zweifel, dass unser Schrift-steller von Zeit zu Zeit manchmal etwas vom Onkels Charakter annahm, und etwas ihm, wie zum Beispiel den Speck auf dem Bauch, unnötigerweise dazu gab. Obschon unserem Schriftsteller gerade dieser ungewöhnliche Hochzeitsgast ein anderes Belgrad entdeckte: grau, aufgeblasen, stinkig und schmutzig wie die Leiche eines Ertrunkenen. Belgrad gedenkt unser Schriftsteller durch die Kampfspaziergänge gegen Horden von-dem-dessen-Name-man-nicht-erwähnt. Aber auch durch die Liebe zu einer Künstlerin, die eines Nachts von den Hör-nern eines schwarzen Teufels träumte, einer Gymnasistin mit teuflisch spitzigen Brüsten, und eine Dichterin, von der er vollkommen zuverlässig behauptet, dass sie sich mit Hexerei beschäftigte.

27.

Belgrad ist der Ort, wo noch heutzutage alle auf ein großes Ereignis warten. Auf große Ereignisse warteten die Kelten, die Römer, die Hunnen, die Sarmaten, die Goten, die Franken, die Bulgaren, die Byzantiner, die Serben, die Ungarn und die Türken. Die letzten haben, als ob sie mit dem Finger ins Auge stechen wür-den, diese Stadt Darol-i-Jehad („Home of wars of the faith“, Encarta Encyclope-dia Deluxe). genannt. Es gibt eine Geschichte über einen General von Tito, dem perfekten Studenten, Nadrealisten, dessen dichterisches Projekt es war, in Bel-grad auf dem weißen Pferd als großer Krieger hineinzureiten. Der Refrain dieses Marsches kann man aus dem Hals der hiesigen robusten Dichter hören. In der Erwartung der Großen Ereignissen in allen Zeiten haben vor allem diejenigen vorausgegangen, die aus den tiefsten Provinzen kamen, nur um Belgrad an sich anzupassen. Die Hälfte von Mutters Familie lebt in Belgrad. Auf Jevremovac lebten meine hochmütige Mutter und ihre mürrische Tante; auf dem Banovo Brdo und in Banjica haben seit Jahrzehnten zwei Tanten von mir ihre Wohnun-gen, und in Belgrad-Neustadt der Onkel. Der Besitzer einer Wohnung zu sein ist eine große Sache. Mein zehnjähriges Umherstreifen durch Belgrad ist nicht wie im Lied besungen. Ich lebte zuerst auf Dorćol, danach neben dem Botanischen Garten, dann auf Mirijev, Savamala, Karaburma und schlußendlich in Belgrad-Neusstadt. Der Schriftsteller, dessen Bücher ich überaus schätze kam in die Lek-türe für die achte Klasse mit dem Gedicht hinein, das schon im Titel meinen Onkel und Belgrad erwähnt. Der Schriftsteller und mein Onkel lebten schon in den sechziger Jahren zusammen. Einmal wollten sie ohne eine einzige Münze in der Hosentasche ins Kino hineinkommen. Angesichts dessen, dass sie es nicht schafften, den Türsteher auszutricksen, dass er seinen Kopf für den Augenblick auf die Seite dreht und die zwei so in den Saal hineinkommen, nahm mein On-kel den Hut vom Kopf herunter, stellte sich vor die Kassa und schrie: „Ich tau-sche den Hut um zwei Tickets!“ Auf der Stelle kam ein junger Man auf sie zu, gab ihnen die gesuchten Karten, setzte den Hut auf den Kopf, und ging weiter. Einige Jahren vergingen, der Onkel und der Dichter lebten unzertrennlich wie Tito und die Partei, und trafen sich wieder vor dem gleichen Kino. Nicht einmal haben sie sich in die Reihe gestellt als sie hören: „Ich tausche den Hut um zwei Tickets!“ Dieser Junge, dem sie vor einem Jahr den Hut für die Tickets gaben, unternahm jetzt das gleiche Geschäft. Der Onkel reißt dem Dichter zwei erst ge-kauften Eintrittskarten aus der Hand heraus, gibt sie dem Jungen, und dieser ih-nen den Hut. Am merkwürdigsten von allem war, dass im Kinoprogramm der gleiche Film wie damals lief, als der Onkel und der Dichter den Hut für die Ti-ckets tauschten. Angesichts dessen, dass er daran glaubte, in ihrem Fall geht es um den fatalen Einfluss des Glücks auf ihr Leben, begann er Lotto zu spielen. Er wurde zum richtigen Hexer dieses Ratespiels. Er entwickelte eigene Systeme, war kurz davor ein eigenes Handbuch, wie man die Gewinnerkombination am ehesten bekommt, fertig zustellen, obwohl er selbst noch keine glückliche Hand gehabt hatte. Der Schriftsteller schickte sich einmal an, mit dem Zug in den Ge-burtsort zu fahren. Der Onkel sagte, er soll für ihn auf dem Weg einen Lotto-schein einzahlen. Zu guter Letzt teilt Radio Beograd die Gewinnerkombination mit, der Onkel schreit von Glück: „Ich habe sie!“ Der Dichter kehrt endlich nach Hause zurück. Der Onkel redete so schnell, dass der Dichter kaum verstand, was sein Mitbewohner verlangt. „Gib das Ticket! Es wurden unsere Zahlen gezogen! Wir sind reich so, dass wir ein Kino kaufen können“, sagte der Onkel. Der Dich-ter murmelte erschrocken vor sich hin: „Ich habe den Schein nicht abgegeben. Ich dachte, auch dieses Mal wirst du nichts gewinnen und deshalb schrieb ich darauf ein Gedicht über unser Wohnen in Belgrad.“ Das war das letzte Mal, dass sie sich gesehen haben. Der Onkel las das Gedicht auf dem Lottoschein nicht, das in das Lesebuch für die Volksschule einging. Noch Heute wartet er darauf, dass etwas Großes passiert.

28.

Sie sagt mir: „Der Onkel ist kein Verwandter“. Wir sitzen leicht bekleidet auf der Garnitur aus Bambus, schauen auf die Avala vom sechsten Stock des Ge-bäudes auf Banjica an und trinken einen Kaffee nach dem anderen. Der Onkel weiß viel über das Leben, denn sein ganzes Leben war er auf Dienstreise. Und genau deswegen weil der Onkel kein Verwandter ist, beschloss er davon zu er-zählen, was man normalerweise den Verwandten nicht erzählt. Kaum dass er anfing über Schach zu reden, unterbrach ihn die Glocke. Die Tante, die ganz aufgeregt ist, teilt ihm mit, dass ein Politiker gekommen ist, angeblich ein Mi-nister ohne Portefeuille aus der montenegrinischen Regierung, der, nachdem er ins Zimmer gekommen ist, sagt, dass es besser sei, dass er gleich das abhole, was er abholen wollte, weil er zu einer Besprechung müsse. Der Onkel zeigt mit der Hand auf die Wanduhr mit dem Pendel und drei Gewichten, und sagt zum Minister: „Das ist das weise Gerät. Der Preis ist ihnen bekannt.“ Der Minister lächelte sauer und begann unverschämt um den Preis zu handeln. Der Onkel nahm beleidigt die Uhr von der Wand herunter, nahm den Schraubenzieher, bau-te den Mechanismus auseinander und legte einen Haufen von Metall auf den Tisch. „Achtung“, sagte er. Mit dem Rücken zum Minister gewendet, schaute er ihm direkt in die Augen, setzte den Mechanismus in einigen Sekunden wieder zusammen, brachte ihn in das Gehäuse zurück und hing es an die Wand. „Ich kenne die Seele der Uhren.“ Sie verdienen es nicht, sie zu bekommen. Sie wis-sen durch welche Tür Sie hinein gekommen sind“, sagte der Onkel. „Also, José Raoul Capablanca, der kubanische Schachgroßmeister, Weltmeister seit 1921 und Schriftsteller des Buchs „Fundamente des Schachs“ und „Meine Schachkar-riere“ kehrte am Vorabend seines Lebens in sein Geburtsdorf zurück, wo ihn niemand mehr, weder als Ortsbewohner noch als den Weltstar, erkennen konnte. Er war für alle, einfach, ein Fremder. Schon in den ersten Tagen seines Aufent-haltes im Dorf schloss er sich einer Gruppe Kiebitze an, die die Duelle zwischen dem Schachvagabunden verfolgten, dem fleischlichen Großschnauze im Schach, und den naiven Dorfleute, die sich nach der Revanche sehnten, weil diesen Lo-kalgenie noch niemand besiegte. Das Interessanteste war: der lokale Schach-weltmeister gab allen Gegnern zwei Türme voraus, und trotzdem besiegte er sie alle. Kapablanka entschied sich einzumischen. Nichts ahnend sagte der Genie auch José Raoul, dass er gegen ihn ohne einen Turm spielen werde. Kapablanka verlor diese Partie. Und während der Unbesiegbare feierte, sagte Kapablanka nachdenklich: Es ist leicht eine Partie zu gewinnen, da man ohne einen Turm stärker ist als mit zwei. Auf diese Worte hin kam der vor Lachen außer Atem: „Wie stärker? Du hattest doch eine Figur mehr!“ Capablanca erklärte ihm, was er meinte: „Ja aber ohne einen Turm besiegst du leichter, weil dieser andere nur stört. Lass mich ohne einen spielen, und spiele du mit zwei und du wirst sehen, dass ich den Trick durchschaue? Der Dorfgroßmeister stimmte komischerweise so einem Duell zu. Das Spiel fing an und.... Capablanca beherrschte ohne große Mühe den bis vor kurzem unbesiegbaren Rivalen. „Na, sieht du nicht, dass ich stärker und besser ohne einen Turm auf der Tafel war“, schrie Capablanca sieg-reich. In dem Augenblick entstand Chaos: die Dorfeinwohner wollten den Schachbetrüger zu lynchen, weil sie wirklich dachten, dass mit weniger Figuren der Sieg möglich ist. Der richtiger Betrüger war eigentlich José Raoul Ca-pablanca. Er wollte zeigen, dass man den Rivalen auf keinen Fall unterschätzen darf, und dass der Sieg niemals ein Sieg im eigentlichen Sinne des Wortes ist, wenn er nicht fair erreicht wurde. Das Besiegen bedeutet manchmal nicht „die Schlacht nicht zu verlieren“: manchmal ist notwendig manche Schlachten zu verlieren, damit man den Krieg gewinnt, und manchmal genügen auch alle Siege nicht, damit alle anderen den Gewinner in seiner ganzen Kraft bewundern. Der Onkel setzte mich ohne Turm matt.

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Author

Tešin, Srđan V.

SRĐAN V. TEŠIN Geb.

 

Translator

Melica Bešlija

Melica Bešlija, 1973, Sarajevo, Bos