Eidgenosse im Stahlgewitter

Die Wege der Literatur sind unergründlich. Jene der Kritik manchmal auch. Etwa im Fall von Christian Kracht, der vor 13 Jahren seinen ersten Roman vorlegte. Seither wird wenig über Krachts Bücher oder seine journalistischen Arbeiten und viel über seine Person geredet. Den einen gilt Kracht als Dandy, der Geschichten erzählt, andere halten ihn für einen von der Welt Angeekelten, einmal heißt es, er sei dem Rechtsokkultismus verfallen, dann wieder dem Sowjetkommunismus, manchmal soll er in Italien leben, in Argentinien, München oder, wie es jetzt heißt, in Mali - vielleicht.

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Von all den Etiketten aber, die Christian Kracht im Lauf der Jahre angeheftet wurden, hielt jene vom "Popliteraten" am längsten. Zu tun hat das wenig mit seinem Debüt Faserland (1995), in dem Kracht einen Junior-Ästheten, quer durch das Deutschland der Schönen und Leeren fahren lässt, und viel mit dem Gesprächsband Tristesse Royale, für den sich Kracht 1999 mit den Herren Bessing, Nickel, von Schönburg und von Stuckrad-Barre in ein Zimmer des Berliner Hotels Adlon setzte, um über die Welt zu reden und die moralische Großwetterlage am Fin de Siècle zu sichten.

"Bigger than life and twice as ugly", heißt es an einer Stelle der Tristesse, das ist schön gesagt. Seither wissen wir auch, dass Kracht, 1966 als Sohn des Generalbevollmächtigten des deutschen Springer-Verlages in der Schweiz geboren und mit deren Pass ausgestattet, "sehr reich" ist. Aber zum Glück ist in der Schweiz Reichtum keine Schande.

Womit wir schon fast beim Thema wären, denn jetzt hat es Kracht wieder getan und nach längerer Zeit einen weiteren Roman, nach Faserland und 1979 (2001) seinen dritten, geschrieben. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten heißt das 150-Seiten-Buch, das seinen Titel dem englischen Liebes- und Abschiedslied "Danny Boy" verdankt.

"Endlich: Der große Schweiz Roman", titelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schon bald. Wobei dies wahrscheinlich nicht nur für den Schweizer Rezensenten mehr nach einer Drohung denn einem Versprechen klingt. Um was also geht es in diesem Buch? Die Geschichte ist schnell erzählt. In Krachts Versuchsanordnung ist Lenin 1917 nicht im plombierten Zug aus dem Schweizer Exil nach St. Petersburg gefahren, sondern hat die bolschewistische Revolution gleich in der Schweiz, die jetzt Schweizer Sowjetrepublik (SSR) heißt, gemacht.

Was offenbar keine gute Idee war, denn seither tobt ein fast hundertjähriger Krieg (der Roman spielt ungefähr im Jahr 2013) zwischen der zur Weltmacht aufgestiegenen Schweiz, den deutschen Faschisten, den mit ihnen verbündeten Engländern und, nicht zu vergessen, den hindustanischen Armeen im Osten. Es ist ein Crash-Europa, das Kracht skizziert und eine Schweiz, die in ihre Vergangenheit zurückgebombt wurde. Schriftkultur gibt es keine mehr, Fortbewegungsmittel ist das Pferd. Sanft wogen Fesselballone am Himmel, den ab und zu ein deutsches, mit Bomben beladenes, Luftschiff kreuzt.

Wie immer braucht es im Krieg Männer, diese holt sich die SSR aus Afrika, das sie kolonialisierte, ihm Schienen, Spitäler und moderne Architektur schenkte. Im Gegenzug werden Afrikaner als Soldaten für die Schweizer Armee rekrutiert und in den Krieg geschickt. So ist ein namenloser Mann aus Malawi die Hauptfigur und Ich-Erzähler dieses Buches. Er ist ranghoher Offizier sowie "Parteikommissär in Neu-Bern" und bekommt den Auftrag, den als unzuverlässig geltenden Oberst, Juden, Gemischtwarenhändler und eventuell Doppelagenten Brazhinsky zu suchen.

Die Suche führt ihn nicht ins Herz der Finsternis, sondern in die uneinnehmbare Alpen-Festung der SSR, was so ungefähr dasselbe ist. Bei seiner Fahrt durch das zerstörte Land trifft er (in der Reihenfolge ihres Auftretens) eine Frau mit Reitgerte und einer Steckdose neben ihrer Achselhöhle, einen bibelfesten Zwerg namens Uriel, der im Pluralis Majestatis redet - und auf viele Tote.

Wie in Krachts Roman 1979, der sich um die iranische Revolution und einen wohlstandsverwahrlosten Deutschen dreht, der ausgerechnet in einem chinesischen Umerziehungslager seinen Frieden findet, liest man auch im neuen Roman viel von Blut, gefrorenem Urin und zerplatzten Augenmembranen. Das klingt dann so: "Waren sie wirklich meine Brüder? Waren sie mir so vertraut, als ihnen deutsche Kugeln die zu Staub zersplitterte Schädeldecke wegschossen oder als der Druck der explodierenden Granaten ihnen die Eingeweide wie blutrote und eitergelbe Würmer aus den Bäuchen presste?"

Erstaunlicherweise wurde das Buch in Deutschland für seine "stahlgehärtete Sprache" gelobt, allerdings handelt es sich dabei vor allem um aufgesetzte Landserlakonik und Stechschrittromantik, gewürzt mit ein paar Zitaten aus dem kollektiven Gedächtnis der deutschen Nazi-Vergangenheit. Um Kracht jetzt hier nicht unrecht zu tun, manchmal ist er ein beeindruckender Stilist, das sechste Kapitel etwa (von insgesamt 13), in dem es um Afrika und den Vater geht, ist beeindruckend.

Insgesamt bleibt der Roman, den manche als "Stahlgewitter für die VIP Lounge" oder "eine Schachtel voller vergifteter Pralinen" nannten, zu unausgegoren, und trotz seines geringen Umfangs franst der Text in alle Richtungen aus. Vielleicht mag dieses Buch, in dem die Katastrophe schon stattgefunden hat, in dem ewiger Winter zu herrschen scheint und es nebenbei um eine neue, telepathische Sprache geht, das Ende der Geschichte und der Utopien thematisieren, schlussendlich bleibt es aber der monströs gescheiterte Roman eines Autors, der sich als Talkmaster der Finsternis geriert.

2008-12-11