Der Schriftsteller Jiří Gruša wurde am 10. November 1938 in Pardubice in der Familie eines technischen Beamten geboren. Ab 1957 lebte er in Prag, wo er an der Karlsuniversität Philosophie und Geschichte studierte und 1962 mit einer Arbeit zu den philosophischen Ansichten Václav Černýs seinen Abschluss machte. 1964 war er einer der Mitbegründer der Zeitschrift „Tvář“ (Das Antlitz). Ab 1966 war er zuerst Redakteur der Wochenschrift „Nové knihy“ (Neue Bücher), später der viermal im Jahr erscheinenden „Výběr z nejzajímavějších knih“ (Auswahl aus den interessantesten Büchern). Aufgrund der Vorab-Veröffentlichung eines Auszugs aus dem Roman „Mimner“ in den „Sešity pro literaturu a diskusi“ (Hefte für Literatur und Diskussion) wurde 1969/70 gerichtlich gegen ihn ermittelt. 1970/71 war er Öffentlichkeitsreferent und Reklameagent sowie externer Mitarbeiter von Otomar Krejčís „Divadlo Za branou“ (Theater Hinterm Tor); zudem arbeitete er in den Siebzigerjahren als Betriebspsychologe und Bibliothekar, als Polier auf dem Bau und als Referent in mehreren Prager Baugenossenschaften. 1977 war Gruša Mitunterzeichner der „Charta 77“. 1981 erhielt er ein Literaturstipendium in den USA; zur selben Zeit wurde ihm in der Heimat seine Staatsbürgerschaft aberkannt. Von 1982 bis 1990 lebte er in (West-) Deutschland, wo er als Schriftsteller und Übersetzer tätig war. In Bonn übte er beispielsweise die Funktion des Stadtschreibers aus. 1990 wurde ihm die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft wieder zuerkannt. Im selben Jahr begann er seine Tätigkeit beim Außenministerium der Tschechoslowakei und ab 1991 war er Botschafter in Deutschland. 1997/98 war er tschechischer Minister für Schulwesen. Im November 2003 wurde Gruša zum Präsident des internationalen PEN-Klubs gewählt. Seit April 2005 ist er als Direktor der Diplomatischen Akademie (DA) Wien tätig.
Für seine Gedichtsammlung „Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto“ (Grušas Wacht am Rhein oder Das Wandergetto) erhielt er 2002 den Literaturpreis Magnesia Litera und den Jaroslav-Seifert-Preis. 1996 erhielt er für die auf Deutsch verfassten Gedichtbände „Der Babylonwald“ und „Wandersteine“ den Andreas-Gryphius-Preis.
In den Kontext der europäischen Literatur gliederte sich Gruša vor allem durch seinen im Untergrund herausgegebenen Roman „Dotazník aneb modlitba za jedno město a přítele“ (Fragebogen oder Gebet für eine Stadt und einen Freund; deutsch als „Der 16. Fragebogen“ 1991 bei Ullstein) ein, der erst 1990 zum ersten Mal offiziell als Buch erscheinen konnte. Das Werk trägt sowohl gespenstische Züge à la Orwell als auch labyrinthische à la Kafka. Doch auch Elemente der Groteske à la Hašek und des unermüdlichen Erzählstroms à la Hrabal tauchen auf. In den neunzehn Kapiteln dieser die vergangene Zeit evozierenden Geschichte / Nichtgeschichte vom Erinnern im Innern führt der Autor mit einem Beamten eines totalitären Regimes einen fiktiven Dialog, der während des Ausfüllens eines umfangreichen und detaillierten Formulars abläuft. Dieser Fragebogen ersetzt in einer entfremdeten Welt die Identität des Einzelnen und ist chronologisch aufgebaut: beginnend mit der Geburt des Alter Egos des Autors – namens Jan Chrysostoma (Johannes Goldmund) – kurz vor Kriegsbeginn über die Zeit des „Protektorats Böhmen und Mähren“ in einer Kleinstadt (das teils reale, teils erdachte Städtchen Chlumec) und das Kriegsende bis in die finsteren Fünfzigerjahre, als der Vater des Erzählers zum kommunistischen Funktionär wird, um seine Familie vor der Verfolgung zu bewahren. Die Handlung erreicht in dem Moment ihren Höhepunkt, in dem das Werk geschrieben wurde, also Ende der Sechzigerjahre, als sich der Autor und Erzähler als Dichter, Schriftsteller und Publizist etabliert.
Einigen Kritikern zufolge zeigt Gruša mit „Dotazník“ eine gewisse Nähe zu Günter Grass. In seiner Erzählweise und durch die Zeit der Handlung (der Zweite Weltkrieg und die Jahre kurz danach) erinnert „Dotazník“ insbesondere an die „Blechtrommel“ von 1977. Im Gegensatz zu Grass, der geschichtliche und psychische absurde Elemente, den Kontaktverlust des Menschen zum geschichtlichen Moment in seine „Blechtrommel“ integriert, würden wir in Grušas Hauptwerk schwerlich einen negativen Protagonisten oder eine Figur finden, die dem Dämon des Bösen verfallen wäre. Während bei Grass alle schuldig sind, und nicht nur der „Trommler“ Oskar Matzerath, bleiben Grušas kleinstädtische Figuren, wenngleich berührt von der existenziellen Angst der Moderne, verwunschen in den barmherzigen Dimensionen von Švejks oder Hrabal’schen „Baflern“. Der Kritiker Jakub Grombíř charakterisiert Grušas Akteure als Wesen, „die der sie umgebenden Finsternis auf niedliche Weise die Stirn bieten, nämlich durch exzentrische Aktivitäten wie das Kreuzen von Katzen oder das Konstruieren von Flugmaschinen“. Gegen die manipulierende „Fragebogenwelt“ der Abnormalität und der Abwesenheit von Humanismus kämpfen die Chlumecer eher mit ihrer Urwüchsigkeit, durch die Betonung der irdischen Wonnen, was fast an das Erste-Republik-Kolorit von Karel Poláčeks Helden erinnert, aber auch an die überzeitliche Hyperbel à la Boccaccio oder Rabelais.
Im Schatten von „Dotazník“ und weiteren Prosatexten blieb allerdings der Dichter Jiří Gruša, Verfasser einer ganzen Anzahl von Gedichtbänden und lyrischen Kompositionen. Die hatte er bereits am Anfang der Sechzigerjahre geschrieben (damals tschechisch); sie entstanden aber auch im Exil, als er seine Verse vor allem auf Deutsch schrieb. (Später wurden sie ins Tschechische übersetzt und in Buchform veröffentlicht, zum Beispiel 1998 „Der Babylonwald“ und „Wandersteine“ als Sammelband „Les Babylon. Bludné kameny“ im Verlag Torst.)
Eine Rückkehr zu den ersten fünf Bänden aus den Sechzigerjahren ist das Buch „Právo útrpné“ (Peinliches Recht) von 2003. Mit seinem dichterischen Debüt „Torna“ (Der Tornister) betrat Gruša 1962 die Bühne der tschechischen Poesie als Mitglied einer exzellenten und zahlenmäßig starken Generation, die an die Halas’sche oder Holan’sche Welle oder auch an die Poetik der „Skupina 42“ (Gruppe 42) anknüpfte, ihren Vitalismus jedoch nicht teilte. Das war die Generation der von Skepsis, im besten Falle von Groteskem geprägten Dichter. Gruša debütierte gemeinsam mit Ivan Wernisch, Petr Kabeš, Jiří Pištora, Antonín Brousek oder Ivan Diviš, aber er unterschied sich von den manchmal fast schon „transrationalen“ Experimenten dieser Autoren durch seinen Hang zum Geerdeten und zu den Sicherheiten von Heimat und Familie. Seine Initiation wurde zum Beispiel von Ladislav Fikars Gedichtband „Samotín“ beeinflusst, aber ebenso auch die Tradition von Karel Hynek Mácha, Otokar Březina und Jakub Deml, durch die sich seit den Zeiten Máchas, des romantischen Dichters, ein existenzialistischer Subton windet.
In der fünften Gedichtsammlung „Modlitba k Janince“ (Gebet zu Janinka) aus den Jahren 1969 bis 1973, einer Totenmesse auf eine verstorbene Frau, kulminiert Grušas erotischer bzw. erotisierender Lebenston „auf Buckeln, auf Brüsten“ und Hände, die auf den „Marmor des Schoßes“ gelegt werden. Wenngleich die erotischen Metaphern dekadent und offen erscheinen, ist er in ihnen nicht der Baudelaire’sche Poet der „schmerzerfüllten Lust“, sondern eher ein Geistesbruder des wollüstigen Václav Hrabě, dessen Kult gerade zur Zeit von Grušas ersten dichterischen Schritten seinen Höhepunkt erreichte.
Mit dem durchkomponierten Band „Právo útrpné“, die in den Sechzigerjahren nicht erscheinen durfte, kommt der Dichter in die Nähe des heroischen und mythisierenden „Český orloj“ (Die böhmische Turmuhr) von Karel Šiktanc. Die Erde, der mütterliche Bereich der Geburt, einst Gewissheit und Unerschütterlichkeit, befindet sich auf einmal in Gefahr. Werte kollabieren, Verbote und Warnzeichen nehmen zu. Genau hier erhob Gruša seine prophetische Stimme, die nicht nur im Kontext der Sechzigerjahre-Lyrik, sondern eigentlich auch des ganzen verflossenen Jahrhunderts von Sachlichkeit und Wertenivellierung ungewöhnlich klang. In „Právo útrpné“ rührt der Autor an den Grund der Existenz oder Grenzsituationen, wenn der Mácha’sche postromantische Dichter „einen Schluck aus einem Grab nimmt“.
2001 erschien Grušas tschechisch-deutsche Gedichtsammlung „Grušas Wacht am Rhein“, für die er im darauf folgenden Jahr den Literaturpreis Magnesia Litera und den Jaroslav-Seifert-Preis erhielt. Der zivile Tonfall, die Antilyrizität verstehen sich als Parallele zum Verschwinden des melischen Elements aus der heutigen Welt, doch der Dichter gerät hier in die komplizierte Position eines wissenden und sehenden Kommentators des moralischen, ästhetischen und auch historisch-politischen Chaos. Darüber darf er nicht einschlafen, sondern muss Wacht halten. Gruša verlässt hier die Poetik der Gedichtbände aus den Sechzigern, sie wird abgelöst von einem Tonfall ähnlich dem der moralistischen Verse von Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Wisława Szymborská oder auch – um nicht nur polnische Autoren zu nennen – vom Nobelpreisträger Joseph Brodsky.
Anfang der Siebzigerjahre gründete Gruša zusammen mit Ludvík Vaculík den Samizdat-Verlag „Edice Petlice“ (Hinter Schloss und Riegel), wo er in den ersten Jahren ihres Bestehens seine Prosawerke publizierte. 1973 schrieb er unter dem Pseudonym Samuel Lewis das Buch „Mimner aneb Hra o smrďocha“ (Mimner oder Spiel ums Stinktier; deutsch als „Mimner oder das Tier der Trauer“ 1986 im Bund-Verlag Köln), außerdem die Prosatexte „Dámský gambit“ (Damengambit, 1973), 1975 „Modlitba k Janince“ (Gebet zu Janinka; deutsch als „Janinka“ 1984 im Bund-Verlag Köln), 1975 das schon erwähnte „Dotazník“ und schließlich 1980 den Roman „Dr. Kokeš Mistr Panny“ (Dr. Kokeš Jungfernmeister).
Das wohl bedeutendste Werk ist „Mimner aneb Hra o smrďocha“, das den Untertitel „Atmar tin Kalpadotia“ (Bericht aus Kalpadotien) trägt. Es ist ein komplizierter, polythematischer experimenteller Text, der von einer eigenartigen, primitiven, bösen und kalten Welt berichtet. Es ist gleichzeitig ein Orwell’scher Paramythos und ein pseudohistorisches Epos über die erfundene kalpadotische Zivilisation (die entfernt an Musils Kakanien aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ erinnert) und ihre perverse Ideologie, die keine Emotionen kennt. Grausamkeit und Gewalt sind ihr Kult, die einzig mögliche Dimension ist der ergebene Glaube an das „Ervet“, bei dem der vorzeitige Tod die Erfüllung im Leben eines jeden Individuums ist. Dieses höchst seltsame, wahnsinnige Spiel mit dem Tod, der im Roman und in der kalpadotischen Sprache „Mimner“ heißt, erinnert an den Wahnsinn der japanischen Kamikaze-Flieger, aber auch an Kulte und Opfer des Altertums, als Menschen wegen des Glaubens an einen unbekannten Herrschergott freiwillig in den Tod gingen. Held der Geschichte vom kalpadotischen Opfertod als vollkommenstem existenziellen Taumel ist der fast Kafka’sche namenlose Herr K., der von außen kommt und nach und nach in der Zivilisation der Kalpadoten zur Beute wird, zum Stinktier, zu einem fremden Element, das unter Kontrolle gebracht werden muss, mit allen Mitteln, einschließlich Vergünstigungen, Faustischer Bestechungen oder Besessenheit von Drogen und freier Liebe. Das auktoriale Subjekt geht auf manchmal regelrecht frostigen Abstand zur schauderhaften Geschichte des Herrn K., der schließlich zum Anhänger des vorzeitigen Todes, des Mimner, wird, ihn als Ausweg aus einer vermeintlichen Hoffnungslosigkeit sieht. Die Parallele zur kommunistischen Ideologie ist hier ganz offensichtlich.
In den Neunzigerjahren, nachdem Gruša aus der Emigration zurückgekehrt war und sich intensiv seiner politischen und diplomatischen Karriere widmete, reichte seine Zeit lediglich zum Verfassen essayistischer Texte oder Studien, die sich auf Themen wie Zivilisation, Kultur, Soziologie und Politik konzentrierten, einschließlich Fragen, die das komplizierte tschechisch-deutsche Verhältnis betrafen. 2003 veröffentlichte er eine Auswahl aus seinen Essays unter dem Titel „Šťastný bezdomovec“ (Der glückliche Obdachlose). Darin versucht er zum Kern des literarischen Lebens vorzudringen, das seiner Meinung nach die ganze Welt überspannt, dessen Gewölbe jedoch einzustürzen beginnen, nämlich im Zusammenhang damit, wie das lyrische Wesen aus dem Vorgarten vertrieben wird beziehungsweise – wie Gruša selbst es nennt – in „Wandergettos“ verbannt wird. Bei ihm ist ähnlich wie bei Ezra Pound der Dichter von heute gleichzeitig Prophet und Schiffbrüchiger. Der Dichter ist im Unterschied zu einem Diktator, einem Politiker oder einem Moralisten – also einer Person der Geschichte – ein bescheidenes und marginales Wesen, dessen „logos“ ohne die Vorsilbe „dia-“ undenkbar ist und auf einen unablässigen Dialog und das Stellen von Fragen aus ist. In seinen Reflexionen zum tschechisch-deutschen Raum lobt Gruša paradoxerweise das Stereotyp der geschichtlichen und nachbarschaftlichen, hegelianisch absoluten und stammtischtauglichen Vorurteile: „Der Tscheche sieht den Deutschen als Denker des Absoluten, der an relativen Dingen scheitert, wohingegen beim Deutschen der Tscheche als Relativist gilt, dem am Ende die Sache selbst zwischen den Fingern zerrinnt.“ Erst am Schluss des Buches kommt Gruša zu einer Andeutung von Ausweg: Das Los des Exilanten oder Emigranten, nicht nur sein eigenes, begreift er als Goethe’sche Exotik, während das wahre Paradies des Lebens, das einst Comenius verspürt hatte, ein Paradies ist, das der Mensch zu Hause und am deutlichsten in sich selbst findet.
Bibliographie:
Torna Mladá fronta 1962 Tschechisch
Světlé lhůty Československý spisovatel 1964 Tschechisch
Kudláskovy příhody Albatros 1969 Tschechisch
Cvičení mučení Československý spisovatel 1969 Tschechisch
Dotazník aneb Modlitba za jedno město a přítele Atlantis 1969 Tschechisch
Máma, táta, já a Eda Albatros 1990 Tschechisch
Mimner aneb Hra o smrďocha Odeon 1991 Tschechisch
Mistr Panny Mladá fronta 1992 Tschechisch
Modlitba k Janince Český spisovatel 1994 Tschechisch
Les Babylon. Bludné kameny Torst 1998 Tschechisch
Gruša´s Wacht am Rhein Paseka 2001 Tschechisch
Právo útrpné Akropolis 2003 Tschechisch
Šťastný bezdomovec Barrister and Principal 2003 Tschechisch
Umění stárnout (rozhovor s D. Dobiášem) Paseka 2004 Tschechisch
Herr
Gruša, Jiří
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1938-11-10
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