Ich bin Paula

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date: 06.08.2021
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In stock: YES
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Country: Austria
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Ich bin Paula

Schriftsteller

 

Als ich anfing zu schreiben, stellte ich fest, dass das Schaffen ein noch schlechterer Zustand ist als das Warten darauf. Ich war nicht mit dem zufrieden, was ich schrieb. Es ging mir nicht von der Hand, ich strengte mich schrecklich an und hatte Zweifel daran, ob die Geschichte gut ist, originell genug, und ob ich das Science Fiction schaffe vorher aufzuschreiben, bevor mir die Technologie zuvorkommt, vorher, als so etwas real passiert, beziehungsweise überhaupt nicht passiert, bevor mich die Zukunft auslacht und auf dem Misthaufen der wissenschaftlichen Phantastik beerdigt, oder bevor der Krieg kommt, in dem sich außer Krieg nichts anderes abspielt.

Alle Gestalten des Romanes waren gleichsam Klone eines Wesens. Meine Klone. Einschließlich der Kindergestalten. Ich hatte schon nach ein paar Sätzen Lust, sie zu töten (Zwillinge ebenso), aber ich konnte nicht, denn mein Roman brauchte wegen der Handlung notwendigerweise Gestalten. Ich erdachte Methoden, wie ich sie am meisten quälen könnte, darum wich ich von einer tragenden Handlung immer weiter ab, ich dachte überhaupt nicht daran und allein der Gedanke daran, auf welche Weise ich den Gestalten das Leben unangenehm mache, erfüllte mich mit ein wenig Freude. Dieser Vorstellung erlag ich dann letztlich vollkommen. Ich wollte nicht in diesen Gestalten existieren, in ihrer Welt, in die ich noch vor ein paar Wochen mich sehnte zu flüchten. Auf den ersten Seiten meines großen Romanes tat sich nichts. Sie waren aus baumlangen Monologen und Dialogen der Eltern mit den Zwillingen gewebt.

Es war ein totales Chaos, das überhaupt nicht das Gerüst der zuvor erdachten Geschichte respektierte. Ich war eine Schildkröte in einer Aporie, unfähig seine Gedanken einzuholen, die Pointe, die so weit weg war, dass ich sie nicht einmal auf dem Rücken sehe. Es war das Tagebuch meiner schlechtesten Eigenschaften. Ein Tagebuch mit Geschichten ihres Wirkens in den Tiefen meines Inneren, wo die Eigenschaften sich in Furcht einflößende Karikaturen verwandelten. Ich schrieb Science Fiktion, sodass das ein Tagebuch aus der Zukunft war, aus Zeiten, die außerhalb meiner Erfahrung liegen, und wenn ich bis dahin nirgends eine Sicherheit hatte, eignete ich mir eine während des Schreibens an, und diese Sicherheit, dass ein Mensch wie ich nicht die Zukunft vorhersehen kann, darum kann er weder den Krieg noch Wandas Orgasmus noch den Weggang der Gattin vorhersehen.

Es schien mir, dass die Schmetterlingsflügel weit hinter dem Horizont meiner Gedanken und Prognosen schlagen, dass irgendwo weit von mir ein menschlicher Genius oder ein teuflischer, der sich nicht mit der Übersteigerung oder Dramatisierung der Gegenwart befasst, sondern in seine Anmerkungen, Gleichungen, Kalkulationen oder Traktate versunken ist, lebt, sich vorbereitet, die Menschheit aus den Gleisen der erwarteten Trasse in die Welt, die viel zu wenig  an den Willen der vergangenen Epochen erinnert, zu bringen. Wenn es keinen Kernwaffenkrieg gibt, dann kommt etwas anderes. Etwas, das ich nicht sehen kann und nicht einmal von mit selbst aus wollen kann.

Ich stellte mir zwei verliebte Pterodaktylen  im sonnenbeschienen Mesozoikum vor, wie sie miteinander diskutieren, eine gemeinsame Zukunft planen, abschätzen, bis zu welcher Höhe ihre Palme wächst, ob sie die Wolken durchschneidet und ob diese zwei prähistorischen Verliebten im dunklen Schatten ihrer durchwachsenen Blätter fähig sein werden, ihre Nahrung zu  sehen.  Ich stellte mir vor, wie sie sich abmachen, dass sie die Palme präventiv mit den spitzen Vorderseiten der Flügel schlägern und von ihren Ästen in die Löcher der Felsen umsiedeln, ohne zu ahnen, dass der kleine gelbe Punkt am Himmel immer schneller an Umfang zunimmt.

Ich ging fast überhaupt nicht aus dem Haus, aß wenig. Ich saß tagelang vor dem Computer und quälte mich mit dem Schreiben ab. Nach zwei Wochen und siebenundvierzig Seiten hörte ich mit dem Kasperltheater definitiv auf. Die letzten zwei Sätze waren ein Dialog.

„Heute sah ich eine wunderschöne schwarze Krähe,“ sagte er ihr.

„Du bist ein unerhörter Mensch,“ sagte sie ihm. Den ausgeschriebenen Roman warf ich nicht in den Papierkorb, ich verschmierte ihn manuell Seite für Seite. Es tat mir nicht leid. Das war, als ob ich den Teppich saugte, ohne mich dabei für den Schmutz zu schämen.

Ich schaltete den Computer aus und kam wieder auf den Boden.

 

Ich rief meine Frau an. Ich wusste, dass sie nicht abhebt, darum zerbrach ich mir nicht den Kopf, was ich ihr sagen sollte. Ich rief sie an, es klingelte, klingelte, klingelte. Ich läutete bei ihr mindestens dreizehn Mal, vielleicht den ganzen Tag, ich wusste nicht, ob ich sie andauernd anrufe oder es nur in meinem Kopf pfeift. Ich versuchte sie wieder und wieder anzurufen. In ihr Facebook traute ich mich nicht zu schauen, seitdem sie gegangen war, denn ich wäre in ihm ertrunken. Auch so hatte sie mich blockiert. Ich wollte ihr eine SMS schicken, aber ich hatte Angst, dass sie so arm und peinlich werden würde wie die siebenundvierzig Seiten.

Ich rief sie an. Ich hörte immer mal ein Läuten, einen Echonachhall des Läutens, schon lange kannte ich das auswendig, das war meine Frau. Das war sie, ich lernte sie nur mehr als monotonen apathischen Ton kennen. Sie hatte keine Arme, keinen Körper, keine Beine, keine Augen, keinen Kopf, ich hatte sie um alles gebracht, ich hielt sie nicht beisammen, es blieb von ihr nur ein Klingeln, ein einförmiges Summen, eine primitive mechanische Welle. Wenn sie das Telefon zufällig abhob, würde nicht sie abheben, es wäre jemand fremdes, irgendjemand, den ich nicht kenne und ich weiß, irgendjemand, in dessen Stimme ich mich beim ersten Hören verlieben würde.

 

Sie rief mich erst in der Nacht zurück, in meinem Traum, dankte mir dafür, dass ich sie nicht als Vorlage für meinen Kuhmist benutzt habe, den sie gerade zu Ende las.

 

Schriftsteller

 

Paula hat das Telefon bei ihrem Vater vergessen. Sie fragte mich, ob ich mit ihrem Sohn draußen warten könnte. Sie war dort schon zu lange. Ich saß mit David auf der Bank vor dem Haus ihres Vaters und in meinem Kopf jagte der Verdacht, dass Paulas unüberlegtes Vertrauen zu mir nicht mich betrifft, dass Paula mich als Racheinstrument benutzt und ihre Zuneigung zu mir ist nur eine erbarmungslose Strafe für ihren Mann. Ständig blickte ich mich nach der Umgebung um, ob nicht zufällig irgendwo ihr Mann erscheint. Ich suchte mit dem Blick einen Strauch, hinter dem ich mich unbemerkt verbergen konnte, damit er mich nicht erwischte, wie ich mich mit seinem Sohn, seinem eigenen Kind, unterhielt. Ich fühlte mich schuldig. David plauderte mit mir offen, mit einem Lächeln, überhaupt nicht wie mit einem fremden Menschen, eher wie mit einem nahestehenden. Er erzählte mir von seinem Großvater und bekräftigte meine Überzeugung, dass sein Großvater etwas mit Luzifer gemein hat. Er fragte mich, ob ich glaube, dass sich ein Schatten in etwas anderes verwandelt. Ich sagte ihm, dass das möglich ist.

David sprach inbrünstig, ich schaute ihm zu, aber wir wichen unseren Blicken aus, ich absichtlich, er unbewusst. Er war klein. Seine Proportion war noch nicht die vollendete Anatomie eines Menschen. Er hatte noch einen viel zu großen Kopf und ich verstand endlich, warum kleine Kinder in ihren bildkünstlerischen Erstlingen nur große Köpfe zeichnen, aus denen Gliedmaßen herausragen, und den Körper beginnen sie erst später zu zeichnen, wenn sie schon älter sind, wenn ihr Kopf zu ihrem Körper nicht mehr eins zu drei steht. Ich verstand, dass die Figuren in Kinderzeichnungen ihre Selbstporträts sind, dass die Kinder sich selbst nur wie ein Kopf vorkommen. Ich blickte auf den Knaben, beobachtete seine Begeisterung, seine Augen leuchteten gesättigt. Ich sah, dass David schon seinen eigenen Blick auf die Welt hatte, dass er sich am Rand seines individuellen Schicksals bewusst ist und dass er sich in die Welt versenken kann wie in ein Buch, in dem jede weitere Seite die Auflösung der vorherigen bringt. Ich nahm in seinen Augen irgendeine schwachsinnige Überzeugung wahr, dass die Welt ein Zusammenspiel von tausenden interessanten Dingen und seine Beendigung ihre Enthüllung und ihr Verständnis sein wird. Es war ein wirkliches Kind, nicht wie meine Romanzwillinge. Das waren keine Kinder, das war ein Fiasko, ihr unglaubwürdiges Benehmen rechtfertigte nur die Zukunft, in der sie lebten, ihre vorsätzliche, aber missratene Karikatur, in der sich ihre kalte Kindheit einiger elender Seiten abspielte.

Auf einmal bekam ich Lust David zum Fischfang mitzunehmen, ihm alles zu geben, was mir in der Kindheit versagt war, ihn mit dem Fallschirm auf dem Rücken vom Hubschrauber hinabzuwerfen, ihm zu erlauben, literweise Akrylfarben auf den Übergang für Fußgänger oder direkt auf die Fußgänger auszuschütten.

Meine Anregungen, mit dem Knaben alles Versäumte nachzuholen, dauerten nicht lange, die Gedanken flogen mir nur so durch den Kopf. Evident widmete ich diesem Impuls nicht einmal zwei Sekunden.

In Wirklichkeit wusste ich überhaupt nicht, was ich anderes mit diesem winzigen Menschen machen sollte, als nur auf ihn aufzupassen, solange seine Mama nicht zurückkehrt. Meine Aufgabe war sicherzustellen, dass er überlebte, und mich zum Gespräch mit ihm zu zwingen.

Ein bisschen fürchtete ich mich vor David und zu gleicher Zeit war ich auf seinen Enthusiasmus und auf seine Freude, die ich in mir nicht schaffen konnte, neidisch, und darum konnte ich nichts Gutes schreiben. Ich beneidete ihn um seine Kindheit, dass die Kindheit sich nicht anstrengen muss, realisiert zu werden.

„Du bist der Freund meines Papas?“ fragte mich der Knabe. Anstelle einer Antwort lächelte ich oder blickte finster, oder ich nickte unbestimmt mit dem Kopf. Er brachte mich in Verlegenheit.

„Gibst du ihm das Bild, das ich für ihn gezeichnet habe? Er wohnt jetzt nicht zu Hause. Ich weiß nicht, ob ich bei ihm jetzt sein werde. Mama hat es mir nicht gesagt,“ sagte er, wobei er aus der dünnen Jacke einen zerdrückten Zettel herauszog. Er gab ihn mir in die Hand. Auf dem Bild war eine Kuh gezeichnet, aus ihrem Maul und auch aus ihrem Schwanz kam Feuer heraus. Um die Kuh waren schwarze Kleckse gemalt, die wie Spinnen aussehen. Sehr merkwürdig. Spuckhaft.

„Ein hübsches Bild,“ sagte ich. „Das hast du gemalt?“ fügte ich hinzu. Ich weiß, dass man Kinder verblüfft fragen muss, ob sie irgendetwas, das sie hergestellt haben, wirklich selbst gemacht haben. Das ist so ein kindliches Like. Das hast du tatsächlich gemacht? Das glaube ich nicht. Und selbst? Wozu fragst du mich das, wenn du genau weißt, dass ich das selbst gemacht habe. Bist du ein Idiot?

„Ja,“ sagte David und lächelte.

„Nur dass ich heute nicht mit deinem Vater zusammen sein werde. Nimm die Zeichnung lieber zurück und gib sie ihm selbst.“

Paulas Sohn sah auf das Bildchen. Ich sah, dass er auf irgendetwas spekulierte. Ich betete, dass er mir das Bild für seinen Vater nicht schenkte. Vielleicht ist das eine schlimmere Sünde, als jemandem die Frau einzupacken und gleichzeitig eine Zeichnung von seinem eigenen Kind als Geschenk anzunehmen? 

Übersetzung©Stephan Teichgräber

Quelle: Ondrej Štefánik, Som Paula. Bratislava 2017, S, 120-122; S. 164-166

Author

Ondrej Štefánik

Biografie des Autors

 

Translator

Stephan-Immanuel Teichgräber

Lebenslauf

 
Som Paula