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Fröhlich, Melanie: geb. 1978 in Kassel, Deutschland. 1999-2005: Studium der „Angewandten Kulturwissenschaften“ (M.A.), Universität Lüneburg. 2002: Guide der Documenta11. 2004: Gründungsmitglied des „Kulturwissenschaftlichen Instituts für Europaforschung“ (KIE) – www.europaforschung.org. Seit 2005: Stipendiatin im Lektorenprogramm der Robert Bosch Stiftung, Lektorin für „Deutsche Sprache und Literatur“ in Oradea, Rumänien an der Universitatea din Oradea und der Universitatea Creştina Partium.
Komplexe Prozesse des Weiter-, Um- und Widerschreibens
am Beispiel von Terézia Moras Roman „Alle Tage“ (2004) .
Eine kulturwissenschaftliche Analyse gegenwärtigen Erzählens
Melanie Fröhlich, Oradea/Rumänien
(literatur@europaforschung.org)
Zusammenfassung:
In der spezifischen Relation einer kulturellen Kodierung zum kulturellen Gedächtnis ist ein ausgezeichneter Ansatzpunkt gegeben, um Aussagen über das Verhältnis von Innovation und Reproduktion zu treffen. An einem aktuellen Beispiel der Gegenwartsliteratur versucht der vorliegende Aufsatz, Spezifik und Funktionsweise dieses Verhältnisses zu bestimmen. Die auffälligste Differenz zur postmodernen Fabulierlust und zum spielerischen Einsatz intertextueller Bezugnahmen zeigt sich im Falle von Terézia Moras Roman „Alle Tage“ in Form eines „Erzählens ohne Worte“ als Ausdruck von Sprachohnmacht, das aus sinnkontrastiven Strukturfolien Bildmächtigkeit schöpft. Das Interferieren der Texte, vergleichbar einem Moiréeffekt, konfrontiert den Leser mit einem `Sinnsprung´.
„Die kulturellen Codes schließlich sind Zitate aus dem Schatz von Wissen und Weisheit. [...] Was hier Code genannt wird, ist also keine Liste, kein Paradigma, das es, gleich wie, zu rekonstruieren gälte. Der Code ist eine Perspektive aus Zitaten, eine Luftspiegelung von Strukturen. [...] [D]er Code ist die
Pflugspur von diesem Schon.“
(Roland Barthes)
Kultur als Grenzdynamik
Eine kulturwissenschaftlich orientierte Analyse von Erzählungen setzt bei der Prozesshaftigkeit kultureller Kodierungen an. Zugang zu den Dynamiken der Ausdrucksformen gewinnt sie über ein relationales Verfahren, das seine Erkenntnisse aus der Schnittstelle von synchroner und diachroner Dimension gewinnt. Poetik und Historik (vgl. Bachtin 1924) werden dialogisiert, gleichermaßen wie Form und Inhalt aus der Opposition in eine Korrelation überführt werden. Zu diesen Überlegungen fordert ein Verständnis der Kultur als Grenzarbeit auf und heraus, das auf die frühen Überzeugungen Bachtins zurückgeht. Bereits 1924 schreibt er: „Jeder kulturelle Akt lebt wesentlich an Grenzen: Darin besteht seine Ernsthaftigkeit und seine Bedeutsamkeit; abgelöst von den Grenzen, verliert er den Grund, wird er leer, anmaßend, er degeneriert und stirbt.“ (Bachtin 1924: 111). Mit den Grenzen sind dabei einerseits die bereits existierenden kulturellen Kodierungen und andererseits die Wirklichkeitserfahrung und Weltwahrnehmung bedeutet. Demnach käme der kulturelle Akt einem Oszillieren zwischen der „Pflugspur des Schon“ und einer Ahnung des Nochnicht gleich. Im Grenzüberschreiten oder dessen, was Kristeva in Anschluss an Bachtin als „revolutionären Akt“ (vgl. Kristeva 1978) bezeichnet, wird Kultur als Erweiterung in Form einer Gestaltung, Modellierung oder Ent-deckung von `Wirklichkeit´ lesbar.
Vor diesem Hintergrund können Innovation und Reproduktion nicht länger als Pole mit den entgegengesetzten Vorzeichen `neu´ und `alt´ verstanden werden. Ebenso wie für die synchrone und die diachrone Dimension, für Poetik und Historik, für Form und Inhalt eine Korrelation angenommen wird, treten auch Innovation und Reproduktion in ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Innovation wäre demnach als Grenzübertritt zu definieren, der entscheidend an die Tradition gebunden bleibt, also auch ein reproduktives Moment impliziert. Innovation hieße dann nicht Neuheit, sondern vielmehr Neuerung, Anschlussfähigkeit bei Differenz.
Die Frage, die sich folglich stellt, kann daher nicht lauten, ob sich kulturelle Kodierungen auf die Tradition beziehen – das muss als grundlegende Bedingung ihrer Existenz und Bestimmung angesehen werden. Vielmehr wird es darauf ankommen, das besondere Verhältnis zwischen kulturellem Gedächtnis und gegenwärtiger Literatur zu bestimmen.
Weiter-, Um- und Widerschreiben
Literatur wird aus Literatur gemacht – und das nicht erst seit dem Ausruf der Postmoderne. Nicht dass sich Literatur auf Literatur bezieht ist entscheidend, sondern Spezifik und Funktion der Bezugnahme. Diese Sichtweise ist eine genuin Bachtin´sche. Folgen wir seiner Auffassung, dann kommt es für den Literaten primär darauf an „… gegen oder für alte literarische Formen zu kämpfen, sie sind zu benutzen und zu kombinieren, ihr Widerstand ist zu überwinden oder in ihnen ist Unterstützung zu suchen.“ (Bachtin 1924: 120). Diese Umschreibung der literarischen Praxis lässt sich problemlos in die von Lachmann und Schahadat aufgestellte Formel des „Weiter-, Um- und Widerschreibens“ übersetzen, in der drei Modelle des Text-Text-Bezugs, nämlich das der Partizipation („Bewahren“), der Transformation („Usurpieren“) und der Tropik („Abwehren“) Bezeichnung finden (vgl. Lachmann; Schahadat 2000: 684). Die Komplexität von literarischen Ausdrucksformen entzieht sich selbstverständlich einer eindeutigen Zuordnung dieser verschiedenen Gedächtnisakte, das sehen auch Lachmann und Schahadat. Dennoch scheint in der Analyse der spezifischen Relation einer kulturellen Kodierung zum kulturellen Gedächtnis ein ausgezeichneter Ansatzpunkt gegeben, um Aussagen über das Verhältnis von Innovation und Reproduktion zu treffen und weitergehend einen Beitrag zur Funktionsweise kultureller Kodierungen zu leisten. Zudem kann die Bestimmung von Differenz und Wandel kultureller Kodierungen als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen gelesen werden und Indikator kultureller Umbrüche sein.
1989 – Epochenschwelle der europäischen Literatur?
Die Annahme einer Epochenschwelle im Wendejahr 1989 für die europäische Literatur scheint aus der Warte eines dialogischen Literaturverständnisses zunächst evident. Ein politischer Umbruch dieser Größenordnung sollte eine Veränderung der Wirklichkeits-erfahrungen und der Weltwahrnehmungen nach sich ziehen. Bei näherer Betrachtung treten erste Schwierigkeiten und Zweifel auf, denn nicht jeder europäische Literat muss gleichermaßen „betroffen“ sein, so auch die folgende Einschätzung eines Literaturkritikers: "Im Westen ist die Wende kein literarisches Datum, jedenfalls keins, das an die tiefliegenden Schichten rührt, aus denen Literatur hervorgeht." (Isenschmidt 1993: 175). Pauschalaussagen zu einer möglichen Epochenschwelle 1989 für die europäische Literatur verbieten sich: einerseits scheint es verfrüht, andererseits anmaßend über die dem Blick eines Einzelnen sich entziehenden Formen der europäischen Literatur, Literaten verschiedener Nationen und Generationen zu entscheiden. Ein bescheidenerer Ansatz empfiehlt sich, der sich auf Beobachtbares stützt.
Unter den derzeit von der Literaturkritik euphorisch gefeierten DebütantInnen befinden sich erstmals AutorInnen, für die die politische Wende eine herausragende Bedeutung innerhalb der eigenen Biographie einnimmt, indem sie den Übergang vom Kind zum Erwachsenen markiert. Von Julia Schoch (*1974), die im Sommer 2005 den Preis der Jury in Klagenfurt erhielt, wird dies als die grundlegende Erfahrung eines Bruchs thematisiert: „Es ist nicht die DDR, die den Westdeutschen fehlt. Es ist die Erfahrung eines absoluten Bruchs – und die Wende war so ein Bruch. Es ist die grundlegende Erfahrung, dass das, was da ist, nicht selbstverständlich ist.“ (Schoch 2002). Auffälligerweise wird nicht auf die `andere´ Vergangenheit, sondern weiterreichend auf eine andere Form der Wirklichkeitserfahrung und der Weltwahrnehmung zur Herausstellung eines Unterschieds zwischen Ost und West aufmerksam gemacht. Zeichnet sich hier ein Umbruchsmoment ab, von dem entscheidende Impulse für `neue´ kulturelle Kodierungen ausgehen könnten? Eine besondere Strukturierung der Erfahrung für diese Generation des Umbruchs ist auffällig[1] und verspricht Blickpunkte, Perspektivierungen die über das Bekannte und Gewöhnliche hinausgehen, eine Grenze überschreiten könnten.
Terézia Mora (*1971), die als Angehörige der deutschen Minderheit in Sopron/ Ungarn aufwuchs, könnte ebenfalls in diesem „Generationszusammenhang“[2] (Mannheim 1928) verortet werden. Der politische Umbruch fällt mit ihrer Übersiedlung nach Berlin im Wendejahr 1990 zusammen. In ihrem 2004 erschienen Debütroman „Alle Tage“ steht die Geschichte einer Transformation im Zentrum.
Transformation als Sinnsprung
Katapultartig verschlägt es den Leser von „Alle Tage“ in das Romangeschehen. Schon mit dem ersten Satz ist er ins Hier und Jetzt versetzt: „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier.“ (Alle Tage, 9). Einmal Umblättern und er sieht sich mit dem folgenden düsteren Bild konfrontiert:
„An einem Samstagmorgen zu Herbstbeginn fanden drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz im Bahnhofsbezirk den Übersetzer Abel Nema kopfüber von einem Klettergerüst baumelnd. Die Füße mit silbernen Klebeband umwickelt, ein langer schwarzer Trenchcoat bedeckte seinen Kopf. Er schaukelte leicht im morgendlichen Wind.“ (Alle Tage, 10)
Das Schicksal Abel Nemas wird, was paradox klingen mag, `ohne Worte´ dem Leser vor Augen geführt. Er sieht sich selbst einer ungeheuerlichen Kontingenz ausgesetzt, er selbst bewegt sich in einem unbestimmten Hier und Jetzt. Für das Schicksal Abel Nemas gibt es von der ersten Seite an keine Worte. Der Held von „Alle Tage“ ist von Beginn an verstummt, ohnmächtig, hat den Boden unter den Füßen verloren. Das Ringen um Sprache und um eine Geschichte setzt ein, die in einer Welt spielt über die es heißt: „Wir sprechen, also sind wir.“ (Alle Tage, 404). Mit dieser Umstellung des „cognito ergo sum“ sind die Knotenpunkte des Romans, Sprache und Identität, bezeichnet. Die Suche nach Sprache kommt einem Akt der Selbstvergewisserung gleich. Zwar verfügt der Übersetzer Abel Nema mehr als zur Genüge über Sprache, zehn Sprachen perfekt beherrschend, doch ist er in keiner Sprache merklich zu Hause, seine Akzentlosigkeit ist Sinnbild seiner Orts- und Heimatlosigkeit.
Indem der Lebensfaden brüchig wird, wird es auch der Faden der Erzählung. Eine Ent-wicklung ist unmöglich gemacht, in dem Moment wo aus A nicht mehr gemäß der Kausallogik B folgt. Von dieser Unberechenbarkeit ist das Leben Abel Nemas und der Roman „Alle Tage“ geprägt: Es gibt keine Sicherheit, keine Stabilität, keine Kontinuität mehr, letztendlich nicht einmal eine Orientierungsmöglichkeit. Inhalt und Form greifen hier stark ineinander, die permanenten Transformationen und das Übersetztwerden, denen Abel Nema ausgeliefert ist, ist der Leser gleichermaßen ausgeliefert, denn was nach dem düsteren Eingangsbild folgt, sind Mutmaßungen über ein beinahe ausgelöschtes Leben unter der quälenden Frage: Wie konnte es dazu kommen? „Der Raum der Mutmaßung“, ist nach Eco „ein Raum in Rhizomform“, d.h. labyrinthisch, vielfach vernetzt, ohne Ausgang, unendlich (vgl. Eco 1984: 79), und wird von Terézia Mora durch ein Gewirr von Stimmen gefüllt, die unsichere Auskünfte über das Leben Abel Nemas geben. Das eigentliche Subjekt kann nur als Objekt ausgesprochen werden.
Die Sprunghaftigkeit kennzeichnet nicht nur Abel Nemas Leben, sie prägt ebenso den Erzählstil[3] Moras. Die permanente Transformation des Helden spiegelt sich stilistisch in dem, was sich als Sinnsprung bezeichnen ließe, wider. Da gibt es beispielsweise plötzliche Wechsel vom Subjekt zum Objekt, wenn ein Bekannter Abels sich nach seiner Mutter erkundigt: „Wie geht es ihr?“ Und in der nächsten Zeile ohne Ankündigung die Antwort der Mutter erfolgt: „Es geht mir gut, sagt Mira, als sie sich das erste Mal wieder sprachen.“ (Alle Tage, 103). An anderer Stelle springt das Satzende einfach auf die nächste Seite in die Überschrift.
„So kommt man in neue“
Kreise (Alle Tage, 162f).
An dieser Stelle macht das Leben des Protagonisten auch tatsächlich einen Sprung – der Leser springt mit.
Vormoderne Strukturfolien als Ausdruck des fremdbestimmten Individuums
Es wird deutlich, dass es sich bei Abel Nema kaum um ein selbstbestimmtes Individuum handeln kann. Bereits das Eingangsbild zeichnet ihn ohn-mächtig. So sind es auch die `fremden´ Texte, die diese Fremdbestimmung in „Alle Tage“ unterstreichen. Im Roman „Alle Tage“ kommt der Intertextualität eine ausgezeichnete Rolle zu. Bereits der Titel verweist auf ein gleichnamiges Gedicht Ingeborg Bachmanns, worin es heißt: „Das Unerhörte ist alltäglich geworden.“ (Bachmann 1953). Dieses Unerhörte wird zum Strukturprinzip und zum eigentlich Erwartbaren. Die Welt ist – wie im Eingangsbild - auf den Kopf gestellt.
Auffällig ist jedoch Moras Rückgriff auf traditionelle Erzählmuster, die als Strukturfolie eingesetzt werden. So ist primär die typologische Intertextualität von Bedeutung, die nach Herwig (2002: 172) „... durch die Mischung von Gattungsmustern oder durch Textmusterbrüche für die Wirkungsmacht von Gattungskonventionen und damit auch für das dialektische Verhältnis von Tradition und Innovation [...]“ sensibilisiere. Entgegen Herwig scheint die typologische Intertextualität nicht nur unter formellen Aspekten aufschlussreich. Es ist davon auszugehen, dass der Einsatz von Strukturfolien die erzählte Geschichte ganz entscheidend beeinflusst, prägt und im Falle Moras – so die These – überhaupt erst erzählbar macht. Die Form der Intertextualität im Roman „Alle Tage“ ist dabei mit einem postmodernen Spiel mit Texten nicht gleichzusetzen und weist über das bloße Ent-decken einer ideologischen Perspektive im Moment ihres Überholtseins hinaus.
In „Alle Tage“ schimmern vormoderne, genauer antike Erzählmuster als Strukturfolien durch. Es handelt sich dabei um die Metamorphose und die Odyssee, die gleichermaßen durch die Form der „Abenteuerzeit“ (vgl. Bachtin 1929; 1937/38) geprägt sind. Hier gibt es noch keine biographische Zeit eines selbstbewussten und -bestimmten Individuums. Hier herrschen fremde, übermenschliche Mächte, die Macht des Zu-Falls oder die Fortuna. Der Übersetzer Abel Nema, der permanent der Übersetzung Ausgesetzte, gleicht einem Schiffbrüchigen, wie er beispielsweise in den Abenteuernovellen von Boccaccios „Decamerone“ anzutreffen ist. Zur Beschreibung der Transformationserfahrung findet sich in „Alle Tage“ die Sturm-Metaphorik verwendet, wenn es an zentraler Stelle heißt:
„Die Staaten, die euch festhielten mit eiserner Hand, haben euch hinausgespuckt in die Welt. Da treibt ihr nun dahin, in alle Himmelsrichtungen, wie die Samen des Löwenzahns [sic!], und man weiß nicht, [...], wo so ein Samenkorn schließlich landen wird. Manches vielleicht in fetter Erde, manches womöglich in einem Haufen Hundedreck, im Rinnstein, und dann. Man kommt mit Leuten in Berührung, mit denen man früher, unter normalen Umständen, nie in Berührung gekommen wäre. Die Frage ist: Wie kann sich die Einzelperson, zu der man durch die Umstände geworden ist, behaupten, also auf dem richtigen Weg bleiben, nämlich dem, der irgendwann von A nach B führt, wo wir alle hinwollen.“ (Alle Tage, 150)
In diesem Punkt werden die traditionellen Erzählformen unterstützend verwendet, um ein fremdbestimmtes Individuum darzustellen. Damit hat sich die Funktion der antiken Strukturfolien keinesfalls erschöpft. Wie bereits angesprochen können Lebensfaden und Faden der Erzählung nicht mehr parallel und im Nacheinander abgewickelt werden. In „Alle Tage“ treten Geschehens- und Textablauf auseinander. Dabei leuchtet für den Geschehensablauf die Metamorphose als Tiefenstruktur auf, für den Textablauf hingegen die der Odyssee. Im Schlussbild werden beide Stränge ineinandergeführt.
Zudem wird der „doppelte Anfang“ der Odyssee (vgl. Hölscher 1990: 42-48, 76-86) gleichermaßen in „Alle Tage“ reflektiert. Denn auch „Alle Tage“ setzt am Ende der Irrfahrt ein, wie Hölscher es für die Odyssee herausgearbeitet hat: „Der Odysseedichter [...] hat seine Geschichte zerschnitten, indem er am Ende einsetzt und alles andere zur Vorgeschichte macht.“ (Hölscher 1990: 44). Zudem weist Hölscher darauf hin, dass der Anfang der Odyssee einer Krise gleichbedeutend ist, was ebenso für das Eingangsbild von „Alle Tage“ zutrifft. Doch nicht nur mit dem doppelten Anfang spielt der Roman, sondern mit Doublen, die aus den intertextuellen Interferenzen entstehen.
Des/Orientiert: Irrwege und Irrfahrten
Metamorphose und Odyssee stehen einerseits für eine Desorientierung, für die Irrwege und Irrfahrten, die das Leben Abel Nemas nimmt. Andererseits kann mit Hilfe der Mythen, worauf Schmeling mit Eliots Beobachtung zu Joyce Ulysses aufmerksam macht, das Chaos bewältigt, geordnet, gestaltet oder mit Sinn gefüllt werden (vgl. Schmeling 1989: 147). Auf dieser Basis gelangt Schmeling für ein postmodernes Erzählen zu folgender Einschätzung und Verallgemeinerung:
„Und hier zeigt sich, dass dem Mythos heute eine kompensatorische Rolle zugedacht wird: gerade nicht als das irrationale und ahistorische Denken legitimierender Faktor, sondern als Rettungsanker bei dem Versuch, gesellschaftliche und epochale Phänomene mit Hilfe bestimmter, den Mythen inhärenter `Konzepte´ erzählerisch zu bewältigen.“ (Schmeling 1989: 149)
Gerade diesbezüglich besteht für „Alle Tage“ eine entscheidende Differenz zu einem postmodernen Erzählen, wie zu zeigen ist. Denn das Aufgreifen von Mythen kommt keinem kompensatorischem Akt gleich, stellt keinen „Rettungsanker“ zur Verfügung. Im Gegenteil: Der Mythos fungiert als Sinnkontrastierung und lässt die Unmöglichkeit von Heimkehr (Odyssee) und göttlicher Erlösung (Metamorphose) um so schmerzhafter bewusst werden.
Im Folgenden sind die komplex ineinander greifenden Strukturfolien der Metamorphose und der Odyssee nachzuzeichnen und in ein Nacheinander zu übersetzen. Der geeignetste Einstieg in dieses Vorhaben liegt im Wendepunkt des Romans vor, der zugleich die Verwandlung Abel Nemas als auch seinen Eintritt in die Odyssee bedeutet.
Nach seinem Abitur reist Abel Nema zur zwölften Geliebten seines Vaters. Allerdings nicht zum ersten Mal. Als Abel 13 war, verließ der Vater ohne Ankündigung seine Familie. Einen Sommer lang suchten Abel und seine Mutter den Vater bei den zwölf, der Ehe vorausgegangenen Geliebten. Bei Bora versteckte sich der Vater tatsächlich, Abel bemerkte es, verheimlichte es aber seiner Mutter, worin eine Schuld gesehen werden kann. Beim zweiten Besuch übernachtet er in der Wohnung Boras. Es bricht Gas in der Wohnung aus. Nur knapp kommt Abel mit dem Leben davon, ist aber von da an mit einer Gabe ausgestattet, die Segen und Fluch zugleich bedeutet. Er mutiert zum Sprachgenie, er kann alle Sprachen verstehen, wird aber in keiner zu Hause sein. Zudem hat er seinen Orientierungssinn eingebüßt. Beides steht symbolisch für seine hiermit einsetzende Heimatlosigkeit. Noch aus dem Krankenhaus telefoniert er mit seiner Mutter und erfährt, dass sich auch in seinem Heimatland die Konstellationen verändert haben, ein Krieg ausgebrochen ist und seine Einberufung bereits vor liegt. Er muss fliehen, die „Odyssee“ beginnt. Die Mutter, gewissermaßen die 13.Fee[4], gibt ihm die Adresse eines Professors mit auf den Weg.
Zunächst scheint seine Irrfahrt unter einem guten Stern zu stehen. Glücklich ist er einem Krieg entkommen. So wie ihm die Adresse des Professors zu-fällt, wird ihm auch alles weitere zufallen: ein Empfehlungsschreiben dieses Professors, ein Stipendium, eine Unterkunft. Er wird Sprachen studieren und schließlich zehn perfekt beherrschen. Seine Akzentlosigkeit ist dabei gleichbedeutend mit seiner Heimatlosigkeit – er ist in keiner Sprache erkennbar zu Hause. Die Gabe macht ihn jedoch nicht nur zu einem hoffnungsvollen Talent, sondern auch zu einem einsamen Menschen und Sonderling. So wie er erst das Glück anzuziehen scheint, zieht er schließlich das Unglück an. Er erregt die Aufmerksamkeit einer gewaltbereiten Gruppe Jugendlicher, die seine Wohnung verwüsten und ihn selbst zusammenschlagen. Er muss seine Wohnung verlassen. Dazu heißt es nur: „Wieder war sein bisheriges Leben, von einer Stunde zur nächsten, eine Welt weggerückt.“ (Alle Tage, 151). Einzelne Episoden verknüpfen sich zu einer Erzählung der zu bestehenden Abenteuer Abel Nemas, in denen der Held gleich Odysseus als „göttlicher Dulder“ auftritt. Gewissermaßen baumelt Abel Nema, während Geschichten über sein Leben erzählt werden, kopfüber vom Klettergerüst und wird erst am Ende `erlöst´ werden.
Hiermit betreten wir den zweiten Erzählkreis – die Odyssee, die sich auf der Ebene des Textablaufs abspielt. Kreise, so lautete das Kapitel, in dem Abel Nemas Leben einen entscheidenden Sprung macht. Er beschließt, seine Dissertation zu schreiben, nimmt wiederum Kontakt zu seinem Förderer auf und lernt dessen Assistentin Mercedes kennen. Unvermittelt wird ihm diese die Frage stellen „Willst Du mich heiraten.“ Abel, zudem homosexuell, geht die Scheinehe ein, um an einen ordentlichen Pass zu gelangen.
Es ist Mercedes, die zu Beginn des Romans von den ermittelnden Polizisten im Fall Abel Nema gefragt wird, wann sie ihren Mann zum letzten Mal gesehen habe. Bei der Scheidung – so lautet die Antwort. Am Textanfang steht somit – im Bild der Scheidung – die Trennung von der Ehefrau. Daran anschließend werden die Irrfahrten Abel Nemas erzählt. Hierin leuchten die Erzählkerne der Odyssee auf, nämlich Trennung von der Ehefrau und die Irrfahrten, am Ende steht die Heimkehr. Und auch in „Alle Tage“ findet sich die Trennung am Ende des Romans aufgehoben. Wir erfahren, dass die Scheidung nicht erfolgt ist, nicht vollzogen werden konnte, da Abel vor dem ersten Termin seine Jacke samt all seiner Papiere gestohlen wurde[5] und vor dem zweiten Termin bereits seine `Hinrichtung´ steht.
Be(un)ruhigend: Das Ende als Ruhigstellung
Im Schlussbild des Romans werden beide Erzählmuster ineinander geführt. Abels Odyssee endet im Krankenhaus. Er hat überlebt, trägt aber Lähmungen, eine Amnesie und den Verlust seiner Sprachen davon. D.h. er hat seine Gabe verloren – die Verwandlung ist aufgehoben. Das Schlussbild steht auch für eine Heimkehr. Abel befindet sich im Kreise seiner `Familie´. Neben Mercedes und ihrem Sohn Omar, ist noch eine Tochter hinzugekommen, die - alles deutet daraufhin - von Abel sein muss. Die Trennung, die am Anfang stand, ist am Ende aufgehoben. Mora lässt ihren Helden auch in sprachlicher Hinsicht heimkehren. Dem Sprachengenie bleibt am Ende nur die Landessprache in einfachster Form. Vornehmlich spricht er den Satz: Es ist gut. Das märchenhafte Ende ist dabei gebrochen – der Roman ein Antimärchen. Finden Metamorphose und Odyssee in Läuterung und Heimkehr ein beruhigendes Ende, einen versöhnlichen Abschluss, hinterlässt das Schlussbild von „Alle Tage“ einen Schauder. So sind am Ende die sprunghaften Transformationen Abels mit der Lähmung ins Stocken geraten, kommen einer Ruhigstellung gleich. Das Unerhörte, Unbegreifliche vibriert über den letzten Satz, „Es ist gut.“, (Alle Tage, 430) hinaus, entfaltet durch Kontrastierung mit der Sinnstruktur der traditionellen Erzählmuster seine Wirkung. Das Leben Abel Nemas, Sprachgenie und Amnesiefall, macht nur für die Hirnforschung Sinn in makaberster Weise. Sinn leuchtet aus den Tiefen des Textes als Zerrbild auf und ist als Sinnsprung an der Oberfläche erkennbar. Die Geschichte einer Transformation, für die die Heimatlosigkeit als Sprachlosigkeit steht, kommt einer Geschichte gleich, für die es keine Worte gibt, sie wird in der Form des Sinnsprungs erfahrbar.
Die Strukturfolien, Metamorphose und Odyssee, werden zur Sinnkontrastierung eingesetzt, d.h. sie werden gleichwertig neben die Geschichte Abel Nemas gestellt. Die Funktion dieser intertextuellen Bezugnahme ist weder mit Unterstützung (`Bewahren´) noch mit Widerstand (`Abwehren´) treffend zu beschreiben, am ehesten noch mit einem `Usurpieren´. Mora schöpft aus dem Einsatz dieser sinnkontrastiven Strukturfolien eine Bildhaftigkeit, die jedoch das Gegenteil einer Metaphorik bedeutet, da sie nicht für eine Sprachmächtigkeit, sondern für eine Sprachohnmächtigkeit steht. Das Verstummen des Helden, seine Sprachlosigkeit, gleichbedeutend mit seiner Heimatlosigkeit, drückt sich eben nicht in Worten aus, sondern im Bild des Sinnsprungs im Moment der Sinnkontrastierung, das mit einem Moiréeffekt vergleichbar wäre. In diesem Bild flimmert die Identität auf und verschwimmt zugleich und stellt die Existenz Abel Nemas in Frage: „Nema. So wie das Nichts?“ (Alle Tage, 27).
Literatur
Primär
Bachmann, Ingeborg (1953): Die gestundete Zeit. In: Werke Band I. München: Piper 1978.
Homer (2005): Odyssee. Aus dem Griechischen von Johann Heinrich Voß. Frankfurt a. M; Leipzig: Insel.
Mora, Terézia (2004): Alle Tage. Roman. München: Luchterhand. [Alle Tage]
Sekundär
Bachtin, Michail M. (1924): Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen. In: Grübel, Rainer (Hg.):Michail M. Bachtin. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. S.95-153
Bachtin, Michail M. (1929): Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt a. M.: Ullstein 1985.
Bachtin, Michail M. (1937/38): Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Eine Untersuchung zur historischen Poetik. Aus: Kowalski, Edward; Wegner, Michael: Michail M. Bachtin. Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Frankfurt a.M.: Fischer 1989. S.7-209.
Barthes, Roland (1970): S/Z. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.
Eco, Umberto (1984): Nachschrift zum `Namen der Rose´. München: dtv.
Jureit, Ulrike; Wildt, Michael (Hg.) (2005): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag.
Kristeva, Julia (1978): Die Revolution poetischen Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Fröhlich, Melanie (2005): Zeitkonzeptionen: zur Kritik der aktuellen Erzählforschung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Magisterarbeit: Universität Lüneburg.
Fröhlich, Melanie (2005): Erzählen aus dem Bruch - neue Stimmen deutscher Gegenwartsliteratur. In: Bisanz, Elize (Hg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland. Münster: Lit. S.25-42.
Fröhlich, Melanie (2006): Wenn der Lebensfaden reißt... Versuch einer `Transformationsstilistik´ für biographische Erzählstile (Apuleius, Goethe, Musil, Mora). Erscheint voraussichtlich 2006 im Tagungsband des Symposiums „Stil und Zeichen“ der Deutschen Gesellschaft für Semiotik.
Herwig, Henriette (2002): Literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung im Spannungsfeld konkurrierender Intertextualitätsbegriffe. In: Zeitschrift für Semiotik 24 (2002), H.2-3, S.163-176. Tübingen: Stauffenburg.
Hölscher, Uvo (1990³): Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. München: Beck.
Isenschmidt, Andreas (1993): "Im Westen ist die Wende kein literarisches Datum, jedenfalls keins, das an die tiefliegenden Schichten rührt, aus denen Literatur hervorgeht". In: Symposium der deutschen Literaturkonferenz Leipzig, 4. Juni 1993, zum Thema "Wachsende Verstörung - florierender Betrieb", ndl 41.Jg. 488. Heft ( August 1993), S. 175
Lachmann, Renate; Schahadat, Schamma (2000): Intertextualität. In: Brackert, Helmuth; Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. S.679-684.
Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generation. In: Wolff, Karl Heinz (Hg.) (1979): Karl Mannheim – Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Neuwied am Rhein; Berlin: Luchterhand. S.509-565.
Propp, Vladimir (1928): Morphologie des Märchens. München: Hanser 1972.
Schmeling, Manfred (1989): Die Entgrenzung des `sprachlichen Kunstwerks´. Alternatives Erzählen im 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Funktion und Funktionswandel der Literatur im Geistes- und Gesellschaftsleben. Akten des internationalen Symposiums Saarbrücken 1987. Bern, Frankfurt a. M.: Lang.
Schoch, Julia (2002) im Interview "Generation Trabant. Angekommen im neuen Deutschland.", in: Die Welt, 09.11.2002. Schoch, Julia (2003): Die wattierte Wirklichkeit und ihre Literatur. EDIT 32, S.52-55. Strubel, Antje Rávic (2003): X - Was ist das und kann man es noch benutzen. EDIT 31, o.S.
Weise, Gunter (1997): Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen: Stauffenburg.
[1] Die Spezifik der Brucherfahrung wird auch von der ebenfalls 1974 in der ehemaligen DDR geborenen Autorin Antje Rávic Strubel herausgestellt: „Aber meine westdeutschen Kollegen waren ja dem Fluß der Zeit nie entzogen gewesen, sie hatten sich ihrem Rhythmus nicht neu eingefügt. Sie standen nie außerhalb sich kontinuierlich verändernder Bilder, Zeichen, Rituale.“ (Strubel 2003).
[2] Die Problematik des Generationsbegriffs im Zeitalter seiner modischen Verwendung ist bekannt und so zweifelhaft der Erkenntnisgewinn sein mag, kann dennoch, wie Jureit und Wildner (2005: 9) unlängst gezeigt haben, der Begriff der Generation in seiner Relevanz für die Aspekte der Identitätskonstruktion, des Kollektivbezugs, der Erfahrungsgemeinschaft und der Handlungsrelevanz erhellend sein. Im Übrigen ist die hier vertretene These weit davon entfernt über die Annahme eines „Generationszusammenhangs“ hinauszugehen und eine „Generationseinheit“ (vgl. Mannheim 1928) zu verkünden.
[3] Eine ausführliche Auseinandersetzung mit biographischen Erzählstilen von Apuleius bis Mora findet sich bei Fröhlich (2006).
[4] Die Mutter übernimmt hier eine Art Helfer-Funktion, wie sie nach Propp (1928) für das Märchen charakteristisch ist.
[5] Dazu die Worte der Richterin: „Ich kann niemanden scheiden, der gar nicht existiert“ (Alle Tage, 49). Ohnehin lässt der Name Nema eine Ähnlichkeit zu lat. Nemo gleich Niemand zu, worin wiederum eine Parallele zu Odysseus griech. ebenfalls gleich Niemand aufleuchtet. Es steht außer Frage, dass die Namen in „Alle Tage“ hochgradig symbolisch aufgeladen sind. Nema steht in slawischen Sprachen, aber auch im Ungarischen für fremde Zunge, für den Stummen und heute schließlich für den Deutschen. Auffällig ist zudem, dass Abel Nemas Jugendliebe Bor gewissermaßen als männliches Pendant zur zwölften Geliebten des Vaters Bora erscheint. Und auch Mora spiegelt sich in den Mutterfiguren ihres Schützlings, nämlich Mi/(o)ra und B/(M)ora wider.
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