Leere Straßen

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Michal Ajvaz, Prázdné ulice [Leere Straßen] (Brno, nakl. Petrov 2004), Auszug aus dem 24. und 25. Kapitel (S. 165-169).

Die Portiersloge war ein kleiner Raum, in den sie einen alten Schreibtisch, Sessel und ein Fauteuil mit abgeschabtem Manchesterüberzug gestopft hatten; neben den Fauteuil war auf den Boden eine Decke gelegt. Die Fenster zur Straße waren sperrangelweit geöffnet. Der Por-tier gab mir ein Zeichen, dass ich mich in den Fauteuil setze, selbst setzte er sich auf den Ses-sel am Tisch. Der Schäferhund legte sich auf die Decke, steckte den Kopf unter der wackligen Lehne hindurch, legte ihn mir in den Schoß und schloss die Augen. Ich saß im Sessel und wartete, was mir der Portier erzählt.

„Wird es Sie nicht stören, wenn ich mit dem Erzählen in ziemlich entfernter Vergan-genheit beginne?“ fragte er mich. Ich musste lachen; mir kam es schon ganz selbstverständ-lich vor, dass alle Ereignisse, die irgendwie mit dem Verschwinden Violas und mit dem dop-pelten Dreizack zusammenhingen, ihre Wurzeln in einer Zeit vor zwanzig oder dreißig Jah-ren. „Sie können meinetwegen ruhig damit beginnen, was zur Zeit Franz Josefs geschah,“ sagte ich. Es machte mich eher stutzig, dass er mich überhaupt nicht fragte, warum ich mich so für das Logo der Firma interessierte.

Jetzt lachte wiederum der Portier. „Ich beginne also, wenn Sie erlauben, noch ein biss-chen früher, nämlich mit der Regierungszeit des Kaisers Anastasios vor fünfzehnhundert Jah-ren.“

Das überraschte mich doch ein bisschen, aber dann sagte ich mir, dass der Schlüssel zu Violas Rätsel vielleicht wirklich in Ereignissen verborgen war, zu denen es in so ferner Zeit gekommen war.

„Haben Sie einmal von dem neoplatonischen Philosophen Dionysios von Gaza ge-hört?“ fragte der Portier.

„Ich gestehe, nein.“

„Dionysios von Gaza wurde irgendwann zwischen 503 und 506 geboren – eine genaue Jahreszahl kennen wir nicht. Sein Vater war Grieche, seine Mutter Syrerin. Über seine Kind-heit wissen wir wenig, auch wenn wahrscheinlich in kindlichen Ängsten und Träumen die exzentrischen und dunklen Zügen der Gestalt Dionysios’ entsprangen, aus denen sich die Ge-schichte seines Lebens entwickelte. Vielleicht war er ein uneheliches Kind, es scheint, dass seine Mutter aus einer viel tieferen Schicht stammte und dass sich sein Vater öffentlich nicht zu ihm bekannte. Das sind nur Vermutungen, über die ersten Jahre seines Lebens haben wir keine Nachrichten; hier ist nur Dionysios’ späteres zwiespältiges und verzerrtes Verhältnis zur Autorität, die Sehnsucht angenommen und geliebt zu sein und zugleich sein ständiges Be-dürfnis die zu reizen, die ihn gern hatten, und sie zu verletzen. Ich glaube, dass alles, was über die ersten Jahre des Lebens Dionysios’ geschrieben wurde, so entstanden ist, dass die Charak-terzüge Dionysios’ aus der Zeit seines Erwachsenseins den Historikern in seine unbekannte Kindheit in Gaza projiziert wurden, die Dionysios, soweit es bekannt ist, in keinem seiner Traktate, in keinem seiner Briefe erwähnt; so kam vor allem eine nebelhafte Gestalt eines unzugänglichen Vaters, geliebt und gehasst, und viele Historiker begannen mit ihr umzuge-hen, wie mit einem wirklichen Menschen. Selbstverständlich ließ sich die Psychoanalyse eine solche Beute nicht entgehen; aber der Schatten des Vaters, der aus den Tiefenanalysen Diony-sios’ Werkes auftauchte, ist um nichts bestimmter und wirklicher als die Gottheit, die ihm als Vater die Legende zusprach, die von den Anhängern seiner späteren Lehre in Asien verbreitet wurde.

Dionysios war offensichtlich von früher Jugend an ungewöhnlich aufgeweckt. Er wuchs in Gaza heran, wo er mit den Grundlagen der Rhetorik und Philosophie vertraut wurde; schon dort setzten seine Lehrer auf ihn große Hoffnungen und schon dort regte er sie durch seine Disziplinlosigkeit und Bosheit auf. Mit neunzehn Jahren ging er nach Alexandria, wo er die Vorlesungen der dortigen heidnischen Platoniker besuchte; auch dort sprach man von ihm als dem werdenden Stern der Schule, auch dort versuchten seine Lehrer lange seine Grimas-sen und sein Ironisieren zu übersehen, von denen seine Auftritte begleitet waren, und hofften, das er aus ihnen einmal herauswächst. Dionysios setzte sich nach einiger Zeit in ein Boot, dass nach Athen segelte; er war das Ganze Leben lang unruhig, reiste von Ort zu Ort, bis er am Ende an einen Ort kam, von dem er nicht mehr nirgendwohin weiter konnte. Aber da habe ich schon vorgegriffen.

In der Athener Akademie kannten sie seinen Namen; Dionysios’ beginnender Ruhm hatte sich schon über das Meer ausgebreitet, aber die Nachrichten über seinen unerträglichen Charakter noch nicht, und so empfingen sie den jungen Philosophen in der Akademie mit of-fenen Armen und gieriger Erwartung. Die Lehre, mit der sie vertraut waren und die sie lieb-ten, war schon neunhundert Jahre alt, vor dreihundert Jahren belebte sie Plotin mit seinen schönen Schriften, aber seit der Zeit erschienen wieder Zeichen des Alters; Plotins Bau, klar wie Kristall, wurde dunkel und verfiel in den Gedanken seiner Nachfolger in barockes Wu-chern, die Athener Platoniker fühlten mit Trauer, dass er sich trotz ihres Bemühens um Treue unaufhaltsam in ein barbarisches Labyrinth verwandelte. Und so träumten sie vielleicht da-von, dass der junge Philosoph aus Gaza und Alexandrien die Lehre beleben und sie zur Rein-heit und einfachen Würde des Anfanges zurückführen würde.

Gleich am ersten Tag, als Dionysios in der Akademie erschien und an der Disputation im Rundpavillon, zwischen dessen weißen Säulen die hohen Bäume des Gartens zu sehen waren, teilnahm, bewunderten sie seinen Intellekt – und schon am ersten Tag reizte er sie alle durch einen tiefen Untergriff, durch eine giftige Bemerkung gegen einen der Anwesenden, auf. Sein Intellekt entwickelte sich in der Akademie und zugleich wurde sein Benehmen im-mer unerträglicher. Am meisten regte er dann auf, wenn er an die Säule gelehnt saß, den Re-den der anderen zuhörte, nichts sagte und nur ironisch feixte. Sie beschwerten sich bei dem Scholarch Damaskios über ihn, aber der setzte sich für ihn ein, entschuldigte sein Benehmen mit seiner Jugend und seinem Heimweh, sagte, dass er davon mit der Zeit loskommt, und bat die anderen, dass sie ihm gegenüber nachsichtig seien. Damaskios litt dabei offensichtlich unter Dionysios’ unmöglichem Verhalten am meisten von allen, denn er hatte ihn wirklich gern, träumte davon, dass Dionysios nach ihm das Oberhaupt der Schule werde und den Ruhm der Akademie erneuere. Der arme Damaskios ahnte nicht, dass er der letzte Scholarch sein wird, dass die Philosophie bald in einen langen Schlaf fallen wird, von dem sie erst lang-sam in den Palästen von Bagdad erwachen wird. Wird es Sie nicht stören, wenn ich rauche?“

Ich schüttelte den Kopf, der Portier zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort: „Aber Dionysios’ Verhalten wurde nicht besser; im Gegenteil, seine Gedanken wurden dunkler. Er provozierte nicht mehr nur durch freches Grinsen und Ironie, sondern auch durch die Exzent-rizität seiner Ansichten. Es sah so aus, als wollte er Damaskois absichtlich Schmerz zufügen; und seine Absicht gelang ihm ausgezeichnet…“

Es kam mir vor, als ob der Portier Trauer darüber empfindet, wie sich Dionysios ge-genüber dem Scholarch der Akademie verhält, dass es ihn ebenso berührt, wie wenn jemand seinen Freund kränkt. Ich hörte ihm zu und beobachtete dabei, wie sich der weiße Rauch langsam dreht wie eine bewegliche Zeichnung auf der schwarzen Platte der Nacht, bespritzt von den farbigen Lichtern der Eisenbahnstrecke. Ich erinnerte mich an das unruhige Bild auf dem Bildschirm im Graphikstudio, das mich in Jonášs Villa geführt hatte; es hätte mich wahr-scheinlich nicht verblüfft, wenn sich auch der Zigarettenrauch in die Gestalt des rätselhaften doppelten Dreizacks formen würde, ebenso wie mich nicht mehr wundern würde, dass das Zeichen, das Viola auf ihrem Körper auftätowiert hatte, irgendetwas mit dem längst toten griechischen Philosophen gemeinsam habe und dieser wieder mit der Firma, die Büromaschi-nen herstellt. Aber die sich drehenden Rauchwellen schlossen sich zu keiner Form.

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Ajvaz, Michal

Michal Ajvaz, Prosaschriftsteller, Di