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Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date:
05.08.2021
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YES
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Country: Austria
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Papierflieger (Auszug aus "Ist tot")
Ein Schriftsteller kaufte sich eine Zeitschrift, blätterte sie durch und freute sich: nichts haben sie ihm geschickt, nichts haben sie publiziert.
Vor ein paar Wochen war ein weiterer Jahrgang des staatlichen Literaturpreises verkündigt worden: ihn haben sie nicht nominiert, das erleichterte ihn.
Bei den Lesungen wirkte er schließlich locker, er hatte nichts zu lesen, nach der kurzen Feststellung dieser Tatsache ging er ruhig vom Podium und begann durch den Saal, wo das Festival stattfand, zu spazieren, plauderte mit den Mitwirkenden und auf die Frage, was es Neues gäbe, wiederholte er, dass es nichts gäbe.
Ihre Bewunderung und ihren stillen Neid genoss er mit vollen Zügen.
Hab‘ keine Angst, sagte er einem, auch dir wird es einmal glücken, und klopfte einem anderen auf die Schulter, der ebenso auf gutem Wege war, es fehlte ihm nur mehr der Punkt auf dem geschriebenen I.
Und wieviel ausgezeichnete Menschen er traf: zum Beispiel ein sympathisches Paar von Reiseliteratur- und Reportage-Verlegern, bis in die Nacht saß er mit ihnen, dabei konzentrierte er sich darauf, sich an nichts zu erinnern und vor allem sich nichts aufzuschreiben.
Oder der Bursche mit einem Mädchen, Studenten von der Fakultät!
Sie sprachen ihn an, dass er ihnen ein Gespräch für den Schulsender zur Verfügung stellt.
Er lehnte voller Freude ab.
Schon ging er in den Regen der Nacht mit dem hervorragenden Gefühl eines erfolgreichen Abends fort, als er in der Tür Zdanka traf, seine frühere Liebe aus der Zeit des literarischen Noviziats. Zdanka war schon vor Jahren eine versierte Redakteurin und hatte die schönsten Augen der Welt. Für einen Novizen sind Frauen und ihre Augen bedeutend, das ist natürlich später zum Totlachen, in der Zeit des Noviziats kommt es auf die Augen und das Lachen und den Körper an.
Zdanka hatte nun einmal kurzweg seine verfickte Seele begriffen.
Sie kehrten gemeinsam in den Saal zurück und er vollbrachte wieder eine imposante Leistung: die ganze Zeit über sagte er ihr nichts, genau so viel zeichnete er sich über das Treffen auf und dasselbe publizierte er später.
Am Ende kam er morgens früh in einem Hotelzimmer an, aus dem auf seinen Wunsch die Möbel entfernt waren, damit er sich wie in seiner legendären ersten erfolgreichen Erzählung, auf die keine legendären erfolgreichen Erzählungen mehr folgten, fühlte.
Ein andermal träumte er etwas so Hinreißendes, dass er sich nicht einmal von dem Trampeln der Stiefel der neuen Faschisten wecken ließ, die aus der Nachbarschaft gekommen waren, um nach Gays zu suchen. Der Traum war voller Wendungen und vollblütiger glaubwürdiger Gestalten. Er hatte ein Sujet wie von King und Rowling zugleich. Es war so stark, dass ihn das aufweckte, sodass er das Trampeln der Stiefel dann doch hörte. Einen kurzen Augenblick erschrak er, dass sie ihn holen, aber die dort hatten eine ausgearbeitete Warteliste und es zeigte sich, dass er noch nicht an der Reihe war. Vorläufig konnte er frei auf dem Bett sitzen bleiben und sich freuen, dass ihm der Traum einen phantastischen Einfall, den man nur richtig aufgreifen musste, umsonst angeboten hat.
Er saß bewegungslos weiter da und ließ es sich, Hure, angelegen sein, nichts aufzugreifen.
Er war von selbst ein paar Tage lang vergrößert, lebte innerlich auf, aber es renovierte ihn auch körperlich, die Falten um die Augen glätteten sich und er bekam einige neue Zähne, auch wenn sie chimärisch waren und bald verschwanden. Damals begann er ernsthaft darüber nachzudenken, wie peinlich er schon seit Jahren wirkte. Vom Steuerbord hatte ihn Katarína öfters still beobachtet, ein goldenes fröhliches Mädchen, dem er niemals nähergekommen war, damit es golden und fröhlich blieb und sich nicht in eine verbitterte Kröte verwandelte.
Es defilierten an ihm verschiedene Schicksale vorbei, mittags setzte sich Meliška zu ihm, einmal weinte sie, einmal lachte sie, indifferent tippte sie ins Handy, freute sich und bewegte den Kopf im Rhythmus, der sie durch die Kopfhörer stimulierte, und den sie ihm schon wahrhaftig an die Ohren drückte, aber er versteckte sich vor dem Rhythmus in einer Novelle von Johanides.
Er liest sie zum dritten Mal, wird er sie ewig lesen?
Die Traurigkeit dieser Novelle ist unaussprechlich.
Unaussprechlicher als Meliškas individuelle menschliche Traurigkeit.
Die Traurigkeit dieser Novelle ist modellhaft, durchgearbeitet, konzentriert, zentrifugiert, das ist die Sahne der Traurigkeit, der graue Sozialismus geht fließend in die universale allweltliche Trostlosigkeit über.
Ein Dutzend Gemeindebeamte trafen sich in der Nähe des Cafés, und mindestens zwei von ihnen versuchten es mehr als zwei Stunden lang ehrlich, bekamen aber immer noch kein Wort heraus. Die Protokollantin notierte das aufmerksam, und als sie ihm die Notizen abends beim Wein zeigte, strahlte er vor Glück, machte ein Foto von ihnen und benutzte sie nie.
Dann erhielt er einen Brief, in dem er darüber informiert wurde, dass er einen dreimonatigen Residence-Aufenthalt für den Herbst in Salzburg erhalten hatte. Er reiste, obwohl er Reisen und Reisende hasste. Er dachte dort jeden Tag an Thomas Bernhard, für den Salzburg eine tödliche Krankheit war, ging durch die gestärkten (frisch gewaschenen) Gassen als Bernhards Geist und schrieb mit aller Kraft nicht. Er musste dann das Stipendium zurückzahlen, aber das war kein Problem, denn er machte einen anständigen Gewinn auf einer Lesertour durch fünf mitteleuropäische Städte, wo er keine Zeile las, aber er konnte dem Publikum erklären, warum er nicht öffentlich liest, und er konnte es so erklären, dass die Zuschauer nach anderen Abenden widerstrebend auf andere Schriftsteller schaute, und als andere Schriftsteller zu lesen begannen, brüllte das Publikum empört, stand allmählich auf und verschwand, und die Schriftsteller dort mit gespielter Selbstsicherheit, aber gleichzeitig lasen sie mit wachsender Angst in ihrer Stimme, trotz der Umstände, führten einige von ihnen Pirouetten auf und spielten gleichzeitig Klavier, aber nichts half - das Publikum war bereits mit der subversiven Idee, nicht vorzulesen, infiziert und sehnte sich nach einer spontanen Erzählung von Antigeschichten über nichts. In seinem Fall waren die Antigeschichten voller mit Papier raschelnder Gestalten, so dass das Publikum ohne Scham Papierflieger daraus machen konnte. Vor dem Ende einer Lesung segelte so etwas wie eine Tupolew Tu-154 leise um seinen Kopf. Es war die Person eines alternden Beamten, dem sie eines Tages bei der Arbeit keine neuen Programme mehr zur Verfügung stellten. Den Kollegen schon, ihm nicht. Er dachte oft darüber nach und stand mit einer Zigarette auf der Terrasse vor der Produktionshalle gegenüber dem Gebäude voller Manager. Am Nachmittag, als er allein bei der Arbeit war, tippte er hilflos auf die Tastatur und versuchte, bereits angesammelten Dokumente zu verarbeiten, aber das Programm ignorierte ihn mit elektronischem Spott. Am nächsten Morgen stufte ihn sein Vorgesetzter offiziell unter diejenigen ein, deren Arbeit tatsächlich die Arbeit aller anderen behinderte. Die Kündigung war dann nur eine formale Angelegenheit, in diesem perfekt durchdachten Text der bereits erwähnte Punkt auf dem i.
Tupolew Tu-154 sank auf das Parkett, das Plauderstündchen endete.
Das Publikum trampelte die Treppe hinunter und der Schriftsteller wartete darauf, die Nacht in einem Luxushotel zu verbringen, in dem angeblich einst auch Václav Havel geschlafen hatte. Diese Information inspirierte ihn so, dass er bis zum Morgen munter im Vestibül gegenüber der Rezeption saß und ihm in seinem Kopf ein Feuerwerk an Einfällen losging. Es war etwas Unwiederholbares und es trug seine Früchte: im Morgengrauen stand er vom Tisch auf und hielt das noch warme, vollkommene reine, leere Papier in der Hand.
Zufrieden stürzte er zwei Fernet-Branca in sich hinein und ging schlafen.
Übersetzung©Stephan Teichgräber
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