Spuren am Horizont

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Pavel Kolmačka

Stopy za obzor/ Spuren hinter dem Horizont. Triada 2006

Seiten 66 bis 69

Nur mit höchster Anstregung gelingt es Vítek aus dem Bilde herauszutreten und in ein anderes hineinzuspringen. Es sind ein paar Tage bis zu den Sommerferien, die Sonne brennt auf den Kindergartenhof hinunter, der nackerte Vítek steht mit anderen Bürschchen und Mädchen auf der Wiese und sie warten, bis sie für das Plantschbecken an der Reihe sind. Und irgendein Bedříšek oder Péťa wackelt absichtlich mit dem Minianhänger unter dem Bäuchlein und quitscht: "Regenwurm, Regenwurm!“ Und irgendeine Renatka klatscht sich auf die Popobacken und schreit: „Zwei Bergl Eis! Wer will sie haben?“

Die Lehrerin gibt jetzt ein Zeichen, sie laufen geschlossen ins Wasser und aus den seitlichen Röhren spritzen auf sie lauwarme Tropfen. Sie wälzen sich herum, bespritzen sich gegenseitig und quietschen vergnügt, kleinen Seehunde, ausgelassenen Bärenjungen, Nilpferdchen, Frösche.

Weitere Bilder kommen eines nach dem anderen wie im Photoalbum.

Seite eins, sie sind zu Hause nur mit Mama, Pepan lernt und Vítek spielt mit Hanka am Boden mit dem Teddybär. Die Tür öffnet sich langsam. Ho-hu! In der Tür steht ein Monster, wie sie es nicht in den schlimmsten Albträumen gesehen haben. Telleraugen, ein Saugrüssel, ein Rüssel, die Haut grün, braun und schleimig! Schnell unter den Tisch. Alles ist zu Ende, zu Ende. Sie machten sich an, sind fast durch Weinen erstickt. Mamiiiiiiii, hilf miiiir! Sie ersticken, sind mehr tot als lebendig. Aaaaaaaa! Keine Angst! Habt keine Angst! Das ist doch Papa! Er ist zum Sonntag von der Militärübung gekommen und hat im Vorzimmer die Chemieabwehrkleidung, die Schnürstiefel angezogen und die Gasmaske angelegt.

Seite zwei. Pepan kriegt unter dem Christbaum Taucherbrille und Flossen, er probierte sie auch sofort an, und Vítek weint bitterlich, gehen doch die Taucher in den eisigen dunklen Tiefen in den Eingeweiden gigantischer Fischen zugrunde, erwürgt von Kraken oder bleiben für immer in Korallenriffen stecken.

Seite drei. Er war schlimm und Mama bestraft ihn. Er zieht Grimassen hinter ihrem Rücken. Aber sie erwischte ihn dabei. Sie sah seine Grimassen im Spiegel.

Seite vier, die schrecklichste vorstellbare Sache, vor der er sich fürchtet, an sie nur zu denken, /an die er nicht einmal denken will, soviel Angst macht sie ihm/: aus dem zu Hause gejagt zu werden. Am Gehsteig zu landen, wenn es dunkel wird, nicht zu wissen, wo er sich verkriechen, wo er schlafen, wo er hingehen kann. In der Kälte, im Regen und in der Dunkelheit vor der verschlossenen Tür zu stehen und nicht hineingehen zu dürfen. Einmal passierte es ihm, dass er die Schlüssel vergessen hatte und nach dem Heimweg aus der Schule saß er auf der Treppe. Er spitzte die Ohren, manchmal kam es ihm so vor, dass er drinnen Schritte hörte oder eine Stimme oder das Lärmen mit dem Geschirr. Vielleicht ist dort Hanka ....Mama, sie wissen nicht, dass er da ist. Er klingelt und klingelt, klopft, aber keiner macht auf. Mit jedem Rauschen des Aufzugs springt er auf und mit klopfendem Herzen zählt er die Stockwerke. Immer bleibt er weiter unten stehen. Am Abend bindet Mama den Schlüssel an eine Schnur, damit er ihn immer am Hals habe.

Seite fünf. Mama ist mit Papa ins Theater gegangen. Und Pepan, Hanka und Vítek machen verbotene Sachen: sie machen eine Polsterschlacht und verstecken sich im Schrank. Sie spielen Platten und springen herum. Wenn sie sich schon ausgetobt haben, werden sie ernst und pirschen nach etwas, was nicht für Kinder bestimmt ist, nach noch nicht entdeckten Nachrichten über die Erwachsenenwelt. Mit Zittern öffnen sie Schubladen, Kuverts, sie schauen sich Sendungen mit Sternchen an. Dann im Bett belastet Vítek ein aufdringliches Schuldgefühl, eine Angst, dass die Strafe folgt. Pepan - der schnarcht sofort. Vítek wälzt sich im Bett, Papa und Mama kommen ewig nicht. Es ist sicher was passiert! Die Straßenbahn fing an zu brennen, die Brücke ist eingestürzt und sie stürzten in die Moldau. Sie sind gestorben. Ihre Seelen flogen fort. Sie sehen sich nicht mehr wieder. Er verzweifelt. Erst das Rasseln im Schloss befreit ihn, das Licht des fünfarmigen Lusters und das Klappen der Badezimmertür.

Seite sechs. Herrlich, das ist angenehm. Papa vergaß sich auf dem Weg von der Kirche in der Konditorei oder einem anderen geöffneten Laden und bringt etwas in Papier eingewickelt. Sie wollen wissen, was er hat, er sagt einen Rätsellöser. Kindersärge /rakvičky/ Schlagobers, Mandarinen oder Rosinen. Und ein andermal kauft er zwei Dosen Fruchtsaft oder Flaschen gesüßten Mineralwassers. Hanka schenkt sorgfältig in die Festgläsern ein, damit es gerecht verteilt ist. Pepan kippt alles auf einmal hinunter und ist dann erbost, dass er zu wenig hatte. Hanka und Vítek sparen, saugen mit dem Strohhalm, Vítek bläst in den Juice Luftblasen. Mama und Papa machen sich ein Bier auf, Vítek freut sich, wenn es überfließt. Und noch etwas: Papa entdeckte im Antiquariat ein Buch, das er einst gerne hatte, und am Abend liest er ihnen daraus vor. Eine Erzählung über einen Dorfburschen, einem kleinen Räuber, über Schurkenstreiche und Scherereien mit den ältern Brüdern, der Mutter und dem Vater, eine grässliche Schule, die Sonne, Kirschen und hohes Gras. Sie kugeln sich vor Lachen. Vítek kommt es vor, dass er der Bub sei, nur tummelt er sich nicht auf den Wiesen, sondern hier zwischen den Blöcken. Manche Stellen liest Papa, als wäre der Bursch er.

Nächste Seite, wer weiß welche. Wieder Mama - sie hat ein Lederbarett mit Fransen, Pumps, eine Handtasche, in der sie Lippenstift, Handspiegel, den Kajalstift und noch irgendetwas trägt. Wenn Vítek krank ist und allein, bekommt er Einfälle. Mama läuft von der Arbeit halb verrückt vor Angst nach Hause, jemand im Block gegenüber hat Vítek gesehen, wie er am Fensterbrett kraxelt, und hat sie angerufen. Pepan hat ebenso seine Einfälle und Mama stürzt halbtot vor Wut heran. Er wurde gesehen, wie er mit ihrer Unterwäsche aus dem Fenster seinem Freund zugewinkt hat.

Sie sind wie die Spiegel im Irrgarten am Petřín. Sie vertreiben, bringen zum Lachen, jagen Angst ein, führen und verwirren. Sie locken ihn bis zu dieser Tür, die sonst nicht geöffnet wird, im Schlüsselloch lodert ein Lichtlein. Auf der anderen Seite ordnet jemand an: "Hände weg!“ Vítek - was macht er da? - drückt die Klinke nieder. Ebenso versperrt. Ouha, die Tür geht auf! Der, der sie bewachen sollte, war unaufmerksam.

Vítek befand sich in einer Küche, das Licht blendet ihn, wer ist da? Mama, Papa, Pepan. Wie eine brausende Windhose: „Los verbeug dich!"

Pepan beugte sich!

Die Hand holt aus!

"Haut Pepaaaan nicht!“ fängt Vítek an zu brüllen. "Pepan ist mein Freueueuund!"

"Was treibst du dich hier herum? Wie kommst, dass du nicht in der Falle bist?"

"Buuu! Lasst Pepaaaan!"

"Du weißt ja nicht, worum es geht! Pepan war schlimm! Er ist ein gemeiner Kerl!"

Bisher hat er weder Mama noch Papa nicht so gesehen. Wie waren sie gewachsen, wie riesig sie waren!

Auf alten Fotos mit Pepan wirkten sie so klein und lieb wie die heilige Familie. Papa hob den kleinen in die Höhe und lachte. Mama beruhigte. Papa beugte sich mit dem Burschen auf einem Bauernhof über ein Zicklein und Mama suchte bei ihm Läuse. Jetzt berühren sie mit ihren Scheiteln den Plafond! Sie haben Hände von der Größe einer Kohlenschaufel, den Mund voller scharfer Zähne, in den Augenhöhlen brennen leicht geöffnete Öfchen! Vollziehen sie mit Pepan einen dunklen Brauch! Kochlöffelexorzismus! Pepan krümmt sich und schrumpft. Er ist kleiner als Vítek!

Seiten 281-284

Auch im Inneren. Weder Schmerz, noch Lust. Weder eine Vision, noch ein Laut. Erst nach langer Mühe gelang es ihm, ein genaues und helles Bild einzustellen. Die Atmosphäre aus der Zeit, wo Marie Vítínek im Bauche trug. Schon von Anfang an spürten sie seine Gegenwart. Spaßes halber fragten sie immer: Wer ist das? Dann ist der Augenblick gekommen, wo er sich zum erstenmal in Maria´s Bauch bewegte. Er schwamm in Wärme und Dunkelheit und seine Faust oder Ferse stößt gegen die Bauchdecke. Bums! Und wieder! Ich bin!

Damals allerdings ahnten sie noch nicht, wie schwer er auf die Welt kommen wird. Marie verlor bei der Geburt mehrmals das Bewusstsein, sie glaubte, dass sie nicht überlebt. Die Erleichterung, dass alles am Ende gut ausging. Sie drückten Vítek Vítínek in die Arme, er war wunderschön. Vítek hatte das Gefühl, dass aus dem kleinen Wesen ein Licht austritt wie bei dem alten Bild „Anbetung der Heiligen drei Könige“.

"Wer ist das?“ fragte er und die Hebamme hob überraschend die Augenbrauen: "Wie bitte?"

"Aha...a."

"Ich muss ihn wegbringen, dass er sich nicht verkühlt."

Das Licht der Erinnerung verschärfte sich, verdrängte die graue Szene mit Windeln in der Küche an der Leine und die kreideweiße Marie, unausgeschlafen und erschöpft, und doch heftigen Putzanfällen verfallen. Der hundertjähriger Dreck widerstand, Kohlenstaub und Asche nahmen nicht ab, und an neuen und neuen Stellen erblühte der Schwamm. Die Fürsorge, die kontrollieren kam, ob sich gut um das Neugeborene gekümmert wird, wunderte sich: "No, was hama da für einen Ausschlag? Vielleicht einen Schweißausschlag?"

Also, der Schweißausschlag war es nicht. Und da schau her, irgendetwas auf dem Tuchent! Es gelang ihr es zu fangen!

„Schaut her."

Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt die Kinderschwester einen Floh.

"Ich meine, wenn ihr einmal fortfahrt, spritzt das Haus mit Biolit (?) aus.!"

Am nächsten Tag kam er aus dem Kloster und Marie, seltsam betroffen, sagte: "Die Windeln habe ich ausgeschweift, aber das Wasser kann ich nicht aus der Wanne lassen, nein, kann ich nicht mehr. Da drin schwimmen nämlich Babyfingern."

Auch nach einer gewissen Zeit, als Vítínek schon die ganze Nacht durchschlief und das nächtliche Aufstehen nicht mehr notwendig war, ging Vítek trotzdem nach dem Bettchen schauen. Der Bub schlief mit dem Daumen im Mund, zusammengekauert wie in Marie´s Bauch. Atmet er? Manchmal hörte er auf. Vielleicht hatte er sich noch nicht entschieden. Vielleicht ritt er im Traum auf einem weißen Pferdchen am Ufer entlang. Dort spielten Kinder in Hemdchen miteinander und es ging ihnen gut: "Bleib da, bei uns, “lachten sie und zogen ihn an Armen und Beinen. "Mit uns kannst du für immer und ewig spielen!“ Das Pferdchen drängte sich durch das Gebüsch und Vítínek schrie im Schlaf. Man konnte ihn nicht verstehen. Vítek hatte den Eindruck, dass er sagte: "Lasst mich... lasst miiich! Sonst falle ich!"

Ist da nichts anderes? Nichts Gutes und Tröstliches? Überhaupt nichts, was durch und durch von feinem Lichtgewebe durchdrungen wäre und was als langsames, fast unmerkliches Fließen der Zeit und stiller Redefluss erzittern würde? Und trotzdem etwas. Hier ist etwas zu ertasten, hier. Ein Wigwambild.

"Vítínek, schau mal, wie schwarz es im Fenster ist!"

„Ich will dort nicht hinschauen. Damit ich nicht zufällig etwas Böses sehe."

„Dort ist nichts."

„Rede nicht darüber! Du könntest etwas hervorrufen! Du schau auch nicht dorthin."

„Na, gut."

„Lies mir lieber was vor, gut? Lies oder erzähle."

„Wo sind wir letztens stehen geblieben?"

„No, wie der Jakob Esau überlistet hat. Wie er ihm die Linsen gegeben hat. Ich will dich was fragen. War der Jakob böse?"

„Hör zu, es geht weiter. Dem Isaak ging es dann gut. Er hatte genug Vieh und von allem reichlich. Und die Nachbarn begannen ihn zu beneiden. Schau ihn an, den Hergelaufenen. Sie schütteten seine Brunnen zu. Die hatte noch der Abraham gegraben, so gehörten sie dem Isaak. Trotzdem taten sie es. Und der König nahm sich seiner nicht an. Pack dich zusammen und schleich dich, sagte der König zum Isaak. Isaak stritt nicht. Er nahm seine Herde und ging. Die nächsten Brunnen, die Abraham gegraben hatte, waren schonverschüttet. Der Isaak erneuerte sie und die Hirten stritten mit ihm: Das ist unser Wasser! - Und so ging Isaak weiter und grub den nächsten Brunnen, und wieder kamen die Einheimischen und sagten: Verschwinde, wir wollen dich nicht da haben! - Isaak ging weiter und weiter. Endlich grub er einen Brunnen und keiner vertrieb ihn. In dieser Nacht hatte er eine Vision: Ich bin der Gott deines Vaters Abraham. Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir.

Schau die Wand, auf die Schatten. Was ist das? Isaaks Schäfchen und Ziegen? Und dort ist ein Zelt und dort ein einsamer Wanderer.

„Und dort ist ein Brunnen?"

„Vielleicht."

„Ich frag dich was. Ist Luft durchsichtig?"

Marie bügelt in der Küche. Durch die offenen Tür schickt sie Víť ins ein Bussi.

„Hülle, bleiche, Pferdchen schleiche, das Fohlen in Petersiliechen. Heia Kindchen, ich wiege dich, bis du einschläfst, dann lass’ ich dich.“

Wie kann es sein, dass letztendlich aus irgendeiner Spalte das Dunkel ebenso herausblubbert? Dringt es durch die Lecks und alles erfasst die Angst? Und der Verband wird mit Blut durchtränkt?

„Warum weinst du, Bübchen?"

„Wohin ist die Mama aus dem Lied gegangen?"

„Ich weiß es nicht. Sicher aufs Feld."

„Und ist sie zurückgekommen? Wann ist sie zurückgekommen? Warum hat sie ihn dort gelassen? Hat sie weggehen müssen? Sie wollte ihn dort lassen? Wenn ich schlaf, gehst du dann auch weg? Versprichst du mir, dass du nirgendwohin weggehst!"

„Heia, Heia."

„Ich schlafe jetzt nicht ein. Die Schafe an der Wand fliehen immer irgendwohin und ich kann nicht einschlafen. Ich will nicht alleine sein."

„Wie hast du das eigentlich mit der durchsichtigen Luft gemeint? Wenn sie nicht durchsichtig wäre, so würden wir uns doch nicht sehen."

„Na. Ich habe das so gemeint, dass wir vielleicht nicht sind."

„Wir sind nicht? Was sind wir denn nicht?"

„Na, dass wir uns schei-einen.“

„Wie? Warum heulst du wieder? Heule nicht. Putze dir die Nase. Da hast ein Taschentuch. Kannst du mir endlich sagen, warum du plärrst?"

„Du scheinst mir... und ich wieder... dir."

Übersetzung: © Pavlina Amon/ Immanuel Teichgräber

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Author

Kolmačka, Pavel

Der Dichter und Schriftsteller Pavel

 

Translator

Amon, Pavlina