Theorie der Wunderlichkeit oder Theorie der Seltsamkeit

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Publisher: Dokumentationsstelle für ost- und mitteleuropäische Literatur
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Publication Date: 06.08.2021
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Country: Austria
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„Theorie der Wunderlichkeit“ oder „Theorie der Seltsamkeit“, S. 33 – 39

Umso mehr ich mich dem Institut für interdisziplinäre Studien des Menschen näherte, umso schlechter ging es mir. Das schmutzige, vernachlässigte Gebäude spiegelte die Ordnungen wider, die im Inneren herrschten. Einmal war es ein prunkvoller Bau auf einem monumentalen Boulevard. Heute ist das eine abgeplatzte Ruine, die an einer Verkehrsgosse, die Politiker und Ingenieure des sozialistischen Regimes durchgesetzt haben, steht und die neue Garnitur konnte sie nicht loswerden.

Das frühere Borůvkovo Sanatorium für bessere Leute, gegründet im Jahre 1931 in einem Haus aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, hat viel erlebt. Die Damen aus der ersten Republik flüchteten angeblich hier her zu illegalen Schwangerschaftsabbrüchen. Während des Protektorats wurden hier kränkliche deutsche Kinder behandelt. Gerade hier erlag der Pfarrer aus Číhošť Toufar nach seiner Überführung aus Karthaus Walditz den Folgen der Folter und neunzehn Jahre später starb hier drei Tage lang Jan Palach. Das reicht wohl für ein Gebäude. Wenn jemand ein treffendes Symbol für die moderne Geschichte dieses Landes sucht, hier findet er alles unter einem Dach. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich diese Last im Haus fühle. Aber vielleicht liegt das auch an den tausenden Autos unter den Fenstern, das Heulen der Sirenen der Feuerwehrzentrale im Hof, der Smog, der Dreck und Staub.

Im Vergleich zur Vergangenheit wird heute hier eine beinahe frivole Tätigkeit durchgeführt. Aus der Brandwunden-Klinik wurde ein Spielplatz der Geisteswissenschaften. Im Parterre gibt es Käfige mit Papageien, wo die Kollegen die zwischenartliche Kommunikation untersuchen – sie lehren die Vögel sprechen und beobachten, ob sie die menschliche Rede unter einander weitergeben. Meiner Meinung nach wäre es sinnvoller Hunde- und Pferdebeschwörer zu untersuchen. Im zweiten Stock geben die Kollegen Frauen durchschwitzte Männertrikots zum Beschnüffeln, ob sie für sie duften oder stinken und was sie daraus ableiten. Ein weiterer wissenschaftlicher Mitarbeiter zeigt zur Abwechslung Männern Fotografien von Frauen in verschiedenen Phasen des Menstruationszyklus und will von ihnen wissen, auf welchen Aufnahmen sie ihnen am besten gefällt. In der letzten Zeit wird geflüstert, dass die Akademie das Haus los werden will und dass der Verkauf schon verhandelt wird. Dieses Motiv wiederholt sich in meinem Leben. Nachdem ich die Grundschule abgeschlossen hatte, machten sie daraus eine Lehrlingsschule [učňák]. Aus dem Gymnasium wurde ein Hotel. Das Haus, wo unser Universitätsinstitut untergebracht war, wurde geschlossen und so renoviert, dass man es nicht mehr wiedererkannte. Als ich bei den Eltern auszog, wurde die ganze Wohnung umgebaut und der Plattenbau bekam einen neuen Mantel und neues Treppenhaus. Nichts sieht genauso aus. Dasselbe passiert jetzt mit meinem Arbeitsplatz. Ich kann nirgendwo zurückkehren, hinter mir brennen die Brücken.

Mir fiel ein, dass heute Vormittag am Institut für interdisziplinäre Studien des Menschen eine Sicherheitsschulung stattfindet. Da bekam ich gute Laune, denn jede legitime Arbeitsunterbrechung kam mir zupass. Danach habe ich mit der Mutter das Mittagessen beim Rundfunk verabredet, so ließ sich der heutige Tag irgendwie überleben.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erinnert auch an die goldenen Zeiten der Vorkriegstschechoslowakei. Seit Ende der dreißiger Jahre existiert in ihm eine kuriose Ecke, von der der Großteil der Tschechen keine Ahnung hat. Das sind die fremdsprachigen Sendungen ins Ausland. Sie entstanden mit dem Ziel, die Deutschen, die schon ganz von der Goebbelsschen Propaganda, die die leistungsfähigen Reichssender in die Sudeten spien, bearbeitet waren, in den Grenzgebieten zu erreichen. Die humanistisch gestimmten Programme der Prager Sendestation, die von dem schwachen Melníker Sender übertragen wurden, retteten nichts mehr. Nach dem Krieg orientierten sich die Sendungen auf kommunistische Propaganda um und in den Zeiten des größten Erblühens sendeten sie in vierzehn Sprachen, einschließlich Esperanto. Nach der Revolution wurde die Redaktion transformiert und es blieben nur fünf traditionelle Weltsprachen. Die Hörer waren auf der ganzen Welt verstreut und so konnten sie nicht gezählt werden. Die meisten von ihnen waren Radioamateure, denen es darum ging, die exotischsten Kurzwellensendungen zu erwischen oder exzentrische Linke, die im Kalten Krieg begonnen hatten, die Sendungen zu hören und nur aus Nostalgie den Regime- und Tonwechsel der Sendungen tolerierten. Meine Mutter hatte als studierte Anglistin die Möglichkeit entweder zu unterrichten oder zu übersetzen. Das Radio war die dritte Möglichkeit und Milena Szábo befand sich in ihm. Sie hatte keine offizielle rhetorische Vorbereitung, nur eine kurze Erfahrung aus Liebhaberei in der Jugend, sondern sie bildete ein dramatisches Timbre aus und in den Kreisen der Radioamateure von Neuseeland bis Kanada wurde aus ihr ein Star. Die letzten fünf Jahre leitet sie die Redaktion und versucht sie aus der Provinzialität auf ein internationales Niveau zu heben. Doch das ist schon von der Mission der Radiostation schwierig – nur Informationen über die Tschechische Republik zu senden. Mama vergleicht diese Provinzialität mit der ganzen Atmosphäre bei uns. Zu der Zeit, als wir Teil des Österreichisch-Ungarischen Reiches waren, sprachen tschechische Eliten, die oft zweisprachig und in europäischen Hauptstädten ausgebildet waren, ein großes Stück Europas an, und ihr Gedanke waren weit aufgestellt. Während der Tschechoslowakei, sowohl vor als auch nach dem Krieg, gab es immer noch Menschen, die reisten und sich in mehreren Kulturen zu Hause fühlten. Sie stellten sich nur auf das Publikum von Aš bis Čierna ein, doch hielten sie auch den Rest der Welt als Peripherie im Blick. Mit dem Zerfall der Tschechoslowakei wurde der Ausschnitt noch enger. Es ist, als hätten wir uns zum Trotz eingekapselt und in uns eingewickelt. Auch der EU-Beitritt hat daran nichts geändert. Und obwohl Mamas Sender in die ganze Welt sendet, kann sie ihr größteils nicht mehr bieten als Ereignisse und Gedanken von lokaler Bedeutung. Es gibt Tage, an denen Sie in der Inlandsrubrik nichts Anständiges finden. Einmal zählte ich Mama in einem Block von zehn Berichten ganze sieben auf, die sich der Korruption in der Innenpolitik widmeten. Diese in Weltsprachen übersetzten Berichte bestätigen die Vorstellung von einem kafkaesken Land.

Mit der Mutter habe ich das, was man aus Mangel einer Terminologie eine komplizierte Beziehung nennt. Irgendwo hörte ich die Theorie, dass die mittleren Töchter oft zu Hause bleiben. Es trifft wahrscheinlich auf mich zu. Die erstgeborene Schwester verschwand in der Welt bald nach der Revolution, und der jüngste Bruder entschied sich wiederum für den rebellischen, zerlumpten Lebensstil und übernahm die Rolle des schwarzen Schafs und der Enttäuschung der Familie. Ich trage die Last eines Kindes, das sozusagen aus der Art geschlagen ist. Ich weiß nicht einmal, ob ich mit Auszeichnung studiert und mich für eine wissenschaftliche Karriere entschieden habe, weil ich das Talent und die Neigungen für eine akademische Arbeit hatte oder weil von mir erwartet wurde, dass ich, wenn ich klug bin, nach der Matura auf eine Hochschule gehe, promoviere, dann noch ein Doktorat mache, dann eine Dozentur und so weiter. Meine Schwester kam mit dem Ehrgeiz der Eltern auf ihre Art zurecht. Sie verschwand ihnen vom Radar und verdient ihr Geld im Ausland. Auch dank meiner Freundinnen, die wegen der Arbeit ins Ausland gegangen sind oder dort heirateten, wurde mir klar, dass die Vision eines besseren Einkommens und zur Geltung kommen in der Arbeit nur die Rationalisierung ist. Die Menschen fliehen in die Welt in erster Linie wegen der Eltern. Außer natürlich wegen Kriegen, Hungersnöten oder Epidemien. Ich bin kurz und gut vor meiner Mutter nicht weggelaufen.

"Wie geht es Vali?" bellte sie mich an, anstatt zu fragen, wie es mir ging. Milena Szábo, damals noch Švec, und Valerie Hauser gingen gemeinsam in die mittlere allgemeinbildende Schule oder ins Gymnasium. Heute sehen sie sich fast nicht mehr. Ende der sechziger Jahre erlebten sie als illegale Au-Pair in England einen berauschenden und wahrscheinlich ausgelassenen Sommer zusammen und bis heute schöpfen sie aus diesen Erfahrungen. Valerie nahm mich vor zehn Jahren noch als Direktorin des Instituts für interdisziplinäre Studien des Menschen als Mitarbeiterin auf.

"Ich weiß nicht. Immer dasselbe. Was ist mit Papa?"

"Weiß nicht, wahrscheinlich auch dasselbe."

Mein Vater, MUDr. Karel Szábo, ein Arzt in Pension, die er wegen eines Burnout-Syndroms früher angetreten hatte, verbringt schon ein paar Jahre seine ganze Zeit in der Chata nördlich von Prag, gleich an der Grenze zu dem einkassierten Sudetenland. In einer Region, in der die frühere deutsche Präsenz noch an den Fachwerkhäusern erkennbar ist, haben unsere Eltern in den frühen 1980er Jahre eine Felsenwohnung von einer der letzten Familien gekauft, die noch in Sandsteinhöhlen lebten. Der Vater baute mit seinen eigenen Händen eine Blockhütte von außen hinzu und vertiefte die Felsenwohnung. Momentan schürft er das Badezimmer. Auf einer gefalteten Decke kniend, leuchtet er mit einem in ein Verlängerungskabel eingesteckten Reflektor und bricht den Stein Zentimeter für Zentimeter mit einem Hammer und einem Meißel ab. Zum Mittagessen übergießt er Instantnudeln mit heißem Wasser und am Nachmittag fährt er fort mit dem Abbau des Gesteins. Eimer mit gefördertem Sand verstreut im Wald. Dann ruht er sich am siebten Tage aus. Er geht jeden Sonntag angeln. Das Sommerhäuschen ist auch im Winter bewohnbar und Vater fährt fast nicht mehr nach Prag.

Diese Art der Existenz scheint für die Eltern akzeptabler zu sein als eine Scheidung. Sie hatten sich so weit voneinander entfernt, dass ein Zusammenleben in einem Haushalt nicht mehr möglich war. Das tatsächliche Zerbrechen einer Beziehung vollzieht sich im Schweigen. Der einzige, der das Bedürfnis hat, darin zu stochern, ist unsere älteste Schwester, wenn sie ein paar Mal im Jahr nach Hause kommt. Sie neigt dazu, mir Ratschläge fürs Leben zu geben und meinen Zugang und den meiner Mutter zu Gregor zu kritisieren, den wir angeblich verwöhnt haben.

Meine Mutter und ich haben gelernt, nicht auf das Mentor-Spielen meiner Schwester zu reagieren. Mama tut sich ihretwegen ganz authentisch nichts an, ich fresse es schweigend in mich hinein. Von jedem Besuch der Schwester brauche ich dann eben solange um wieder zu mir zu kommen. Größteils bekomme ich davon eine Angina oder eine krampfartige Blockierung des Rückgrats. Meine Schwester ist auch die einzige, die mich ständig mit Fragen anödet, wann ich mich verheirate und wann ich eine Familie gründe. Meine Schwester, selbst zweimal geschieden, mit drei Kindern, von denen sie nicht weiß, von wem sie sind, darum gibt sie sie Kindermädchen und Internatsschulen, während sie Geld für weitere und teurere Erzieherinnen und private Schulen verdient. Meine Mutter redet mir in solche Sachen nicht hinein. Sie ist eher irgendwo in einem Eckchen ihrer Seele froh, dass ihre zweite Tochter immer noch ledig ist, und also zur Verfügung steht. Da auch ihre Ehe nicht geglückt ist, und so kann sie niemandem dieses Modell aufrichtig empfehlen. Die Sehnsucht nach den Enkeln, wenn sie eine solche haben sollte, stillen ihr reich die drei Kinder von Sylva, die sie zwei oder drei Mal im Jahr sieht.

Ich glaube, dass meine Mutter überzeugt ist, dass jedes ihrer drei Kinder irgendwie misslungen ist. Tatsächlich erfüllt jeder von uns auf irgendeine Weise ihre nicht realisierten Sehnsüchte. Sylva mit dem Aussehen eines Superweibchens und ihrer erfolgreichen Karriere, ich wegen meiner Bildung und der Karriere einer Akademikerin und Gregors wegen seiner Hemmungslosigkeit, seiner künstlerischen Zerrissenheit und seines rücksichtslosem Egoismus. Zu seiner Bohème hatte sich unsere Mutter nie entschlossen, auch wenn in ihr künstlerische Talente und Ehrgeiz schlummerte. Wir alle drei leben einen Teil ihrer unausgesprochenen Ambitionen für sie aus. Glücklicherweise erfüllt die Mutter die übrigen sich selbst, zumindest jetzt, wo sie ihren neben Ihren Kindern auch den Ehemann vom Hals hat.

Wir aßen in der Betriebskantine zu Mittag, die früher ein Treffpunkt für die Leute vom Radio, die Schauspieler und Musiker war. Heute ist es ein Volksspeisesaal, in den nur diejenigen gehen, die nicht die Zeit haben, in ein Restaurant zu gehen oder denen das Geld zu schade ist. Oder ihnen schmeckt es hier wirklich. Zu diesen letzteren gehörte meine Mutter. Mit Kochen selbst hat sie sich niemals besonders abgegeben, vielleicht darum, weil sie gutes Essen nicht zu schätzen weiß. Ich kann das hier ab und zu mit ihr aushalten, ebenso wie ihre Beschwerden über ihren wachsenden Papierkram. Wichtiger als die Qualität der Sendungen sind korrekt ausgefüllte Arbeitsstunden und Anwesenheitsbücher. Bei uns an der Akademie funktioniert es genauso - mehr als die Forschungsergebnisse schätzen sie beispielhaft geführte Nachweise. Wichtiger als der Inhalt ist ein korrekt ausgefüllter Projektantrag. Mrázek hat kürzlich berechnet, dass 60 Prozent der Arbeitszeit am Institut der Berichterstattung gewidmet sind, dass die Arbeitszeit effizient genutzt wird. Sodass eigentlich sechzig Prozent des Geldes der Steuerzahler direkt aus dem Fenster geworfen wird. Aber Menschen in Korporationen haben den gleichen Eindruck, es wird wahrscheinlich ein allgemeineres Phänomen sein.

Übersetzung©Stephan Teichgräber

Author

Pavla Horáková

In den Jahren 1993–2000 studierte sie

 

Translator

Stephan-Immanuel Teichgräber

Lebenslauf

 
TEORIE PODIVNOSTI